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Auf gut Glück

Am Mittwoch, 25. März 2020, hat sich Wladimir Putin in einer Fernsehansprache an die russischen Bürger gewandt – zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Nachdem es noch wenige Tage zuvor aus dem Kreml hieß, dass Russland alles unter Kontrolle hat, die offizielle Zahl der Infizierten mit wenigen Hundert sehr niedrig war und die der Corona-Toten lange bei Null lag, kündigte er nun Maßnahmen an: Die Abstimmung über die Verfassungsänderung ist verschoben, die meisten Bürger bekommen ab dem 30. März eine arbeitsfreie Woche, mit Lohnfortzahlung.

Nach der Fernsehansprache Putins beschlossen mehrere Regionen Maßnahmen gegen die Pandemie. Zuvor war vor allem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin mit einzelnen Beschränkungen vorangegangen. Offiziell gibt es in dem rund 144-Millionen-Einwohner-Land gegenwärtig (Stand: 27. März) 1036 Corona-Infizierte (703 davon in Moskau), drei Menschen sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben. Staatsnahe Medien vermitteln derzeit den Eindruck, dass ein Ruck durch Russland geht. Iwan Dawydow glaubt dagegen, dass die Maßnahmen in der Gesellschaft eher Verwirrung stiften: Auf The New Times argumentiert der Journalist, dass der Kreml widersprüchliche Signale sendet – und damit Menschenleben riskiert.

Source The New Times

Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus – ein erstes Signal, dass auch in Russland eine echte Gefahr droht? / Foto © kremlin.ru

Nun denn, eine Woche Ferien also – mit Lohnfortzahlung (allem Anschein nach auf Kosten der Arbeitgeber), und als kleiner Trost für die Arbeitgeber Steuervorteile für kleine und mittlere Unternehmen, ein Schuldenmoratorium für das nächste halbe Jahr, Hilfe für Familien mit Kindern, Zahlungen an Veteranen, und die Verschiebung der Abstimmung über die Verfassungsänderung auf unbestimmte Zeit. Das ist der unvollständige Maßnahmenkatalog, den Präsident Wladimir Putin gestern in seiner Ansprache die Bürger genannt hat.

Aber das Wichtigste an dieser Ansprache waren nicht mal die vorgeschlagenen Maßnahmen, sondern erstens die Tatsache, dass sie stattfand, zweitens ihr Kontext und drittens einige stilistische Besonderheiten am Auftritt des Präsidenten.

Aufrichtiges Eingeständnis: Die Sache ist ernst

Die ungeplante Ansprache (erst am Mittwoch wurde bekannt, dass Putin zum Volk sprechen will) ist ein aufrichtiges Eingeständnis: Die Regierung hat beschlossen, ohne Umschweife zu erklären, dass die Sache mit dem Coronavirus sehr ernst ist. Naja, zumindest fast ohne Umschweife. Ziemlich lang sah schließlich alles danach aus, als habe man entschieden zu lügen und zu versuchen, möglichst kein Aufheben darum zu machen – sei es, um Panik zu vermeiden oder um die berüchtigte Abstimmung über die Verfassungsänderung durchzuziehen.

Es hatte geheißen, man habe eine Rekordzahl an Tests durchgeführt – gar mehr als in allen Ländern Europas zusammengenommen – und es gäbe nur einzelne Infektionsfälle. Allerdings gab es zunächst im ganzen Land nur ein einziges Labor, das die Proben überhaupt auswerten konnte – und zwar in Nowosibirsk.

Die Stunde des Sergej Sobjanin 

Die Lage änderte sich erst in den vergangenen eineinhalb Wochen. Die Zahl der offiziell Infizierten schnellte in die Höhe auf einige Hundert. Allerdings hieß es laut offiziellen Daten, dass in ganz Russland niemand am Coronavirus gestorben sei. Es wurde ein Kontrollgremium gebildet, das die Ausbreitung der Infektion überwachen soll und von Sergej Sobjanin geleitet wird. Und außerdem gibt es einen Koordinationsrat der Regierung unter der Leitung von Premier Michail Mischustin. 

Glaubt man den Gerüchten, ist Sobjanin jetzt der Mann in der Regierung, der den Ernst der Lage besser verstanden hat als alle anderen. Einfach deswegen, weil er nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich alles nach italienischem Szenario entwickelt. Er war es, der beim Treffen mit dem Präsidenten am 24. März erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ verläuft, dass in den Regionen „keiner weiß, wie die Lage wirklich ist“ und die lokalen Behörden einfach keine Ahnung haben, was zu tun ist. Natürlich gewinnt Sobjanin an politischem Gewicht, wenn er als größter Alarmist der Regierung auftritt. Wenn alles vorüber ist, hat er die Chance als einer der einflussreichsten Politiker des Landes dazustehen, der alle Konkurrenten aus Putins engstem Kreis beiseite gedrängt hat.

Plakative Unbedachtsamkeit

Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus von Kommunarka am Montag – übrigens, in Begleitung von, genau, Sobjanin – war das erste Signal: Die höchste Staatsspitze ist – endlich – bereit anzuerkennen, dass in Russland, genauso wie in anderen Ländern, eine echte Gefahr droht. Davon schienen auch die Aufnahmen aus dem Krankenhaus zu sprechen: Der Präsident im gelben Schutzanzug (der US-amerikanischen Firma DuPont) hat klar erkannt, was er riskiert, und versucht, die Risiken zu minimieren. 

Übrigens begrüßte er unmittelbar danach – dann ohne jeglichen Schutz – den Chefarzt der Klinik mit Handschlag. Nachdem alle die Schutzanzüge ausgezogen hatten, trug nur noch einer der hochrangigen Gäste seinen Mundschutz, nämlich der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Diese plakative Unbedachtsamkeit, diese Halbherzigkeit ist zentral im Umgang mit Bedrohungen. Ich komme später nochmal darauf zurück.

Kapitän, der vom Schiff flieht

Doch zunächst eine weitere kleine Überlegung: Einer der Gründe für seinen Besuch im Krankenhaus könnte die am Vortag auf Telegram und in sozialen Netzwerken verbreitete Meldung gewesen sein, dass Putin angeblich aus Moskau in seine Residenz in Waldai evakuiert wurde, „mit seiner Familie und seinem geliebten Pony“. Es ist natürlich nicht klar, was für eine „Familie“ das ist, aber im Großen und Ganzen sind die Gerüchte ziemlich kränkend: Ein Kapitän, der vom Schiff flieht – das hat Geschmäckle. Der Besuch in Kommunarka war die wirksamste Widerlegung dieser Gerüchte.

Und am Mittwoch hieß es ausdrücklich: „Als Ergebnis der vielen stundenlangen Sitzungen, die zuvor stattfanden“, musste sich der Leader an das Volk wenden.

All diese Ereignisse bilden den Kontext der improvisierten Ansprache des Präsidenten an das Volk. Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen daraus? Erstens erkennt der Kreml den Ernst der Lage an. Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen. Im weiteren Verlauf wird es noch schwieriger, und es wird ganz bestimmt nicht nur eine Woche so weitergehen. 

Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen

Allein die Ankündigung, dass der Präsident sich an das Volk wenden wird, hat die Öffentlichkeit aufgewühlt. Genauso haben sie auch die Neuigkeit selbst aufgenommen: Es ist alles sehr ernst, und das ist nun auch offiziell. Der Präsident hat sich [mit der Ansprache – dek] traditionsgemäß um mehr als eine Stunde verspätet, was die Nervosität nur steigerte. Putin war in sozialen Netzwerken in und den Medien dafür gescholten worden, dass er keine offizielle Position verkündet hatte, obwohl sich bereits alle europäischen Staats- und Regierungschefs dazu geäußert haben. Wenn er sich nun doch vor die Kameras stellt, dann bedeutet dies, dass Herumdrucksen nicht mehr möglich ist.

Zweitens geben die Behörden zwar zu, dass die Situation ernst ist, sie scheuen sich aber davor, dies ohne Umschweife zu sagen. Putin wählte äußerst schwammige Formulierungen, um den Grund seiner Ansprache zu verdeutlichen: „Dank der im Vorfeld getroffenen Maßnahmen sind wir noch immer in der Lage, sowohl die weite Streuung als auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit einzudämmen.“ Das Unheil herrscht weiterhin irgendwo da draußen, weit hinter den Grenzen Russlands, wir aber bereiten uns vor und nutzen den Vorsprung. Und selbst die eine Woche Quarantäne nannte der Präsident nicht Quarantäne, sondern Ferien.

Als ob es bei uns keine Epidemie gäbe, sondern Feiertage. Übrigens, während die Leute auf die Ansprache warteten, sind schon ungeduldige Witze zu diesem Thema aufgetaucht: „Der Präsident im Fernsehen, aber irgendwie kommt keine Silvesterstimmung auf.“

Zudem ist das auch keine Quarantäne: Schwer vorstellbar, dass die Russen in einer bezahlten Urlaubswoche zu Hause sitzen werden, auch wenn Cafés, Restaurants und andere Vergnügungseinrichtungen geschlossen werden. Die Sonne scheint, das Wetter wird besser, die Leidenschaft für Schaschlik hat noch keiner verboten, und auch die Liebe zur Disziplin hat uns bislang niemand eingeimpft. 

Um Panik zu vermeiden, sendet der Staat – trotz Eingeständnis der Gefahr – dem Volk weiterhin widersprüchliche Signale. Er setzt weiterhin das Leben der Bevölkerung aufs Spiel und baut dabei auf das „russische gut Glück“ – wovon Putin noch dringlichst abgeraten hatte.

Und Hand aufs Herz: Wir glauben doch wohl kaum, dass eine strenge Quarantäne po-russki so aussehen wird wie in den Videos aus europäischen Städten. Wohl kaum werden die Nationalgardisten – wie die spanischen Polizisten – improvisierte Konzerte für die Menschen in Quarantäne geben. Aber die Regelbrecher schlagen, einfangen, den Knüppel schwingen – das können sie (zumal sich die Duma gerade jetzt an eine Verschärfung der entsprechenden Gesetze gemacht hat) schon eher.
Und dann überleg nochmal, was schlimmer ist: die Epidemie oder eine russische Quarantäne, sinnlos und erbarmungslos

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Das russische Gesundheitssystem

Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.

Sowjetische Plakate aus dem Jahr 1971. Quelle: 22-91.ru Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1

Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin

Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.

Das sowjetische System 

Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“

Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.

Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2

Gesundheit unter Marktbedingungen 

Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.

Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.

Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.

Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis 

Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.

Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4

Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.

Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5

Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6

Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.


Quelle: FOM

Und die Onkologie? 

Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.

Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.

Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.

Nicht der Staat allein 

Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.

Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.

Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.

Prinzip Eigenverantwortung 

Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.


1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266.
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University  
3.Kremlin.ru: Poslanie Federal'nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii (3 aprelja 2001 goda)  
4.Rbc.ru: Čislo bol'ničnych koek v Rossii v 2016 godu umen'šilos' na 23 tys.
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok.  
6.Ebd.
7.A.D. Kaprin, V.V. Starinskij, G.V. Petrova (2019): Sostojanie onkologičeskoj pomošči naseleniju Rossii v 2018 godu.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)