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Datenleaks: Hetzjagd auf Corona-Patienten

Hetzjagd in Sozialen Medien: Durch Leaks wurden russlandweit Daten von Corona-Patienten öffentlich. Namen, Adressen und Beschimpfungen kursieren im Netz. Wie konnte das passieren? Eine Recherche von Meduza.

Source Meduza

Hetzjagd in Sozialen Medien – durch Datenleaks bei Polizei, Ärzten und Behörden wurden Adressen von Corona-Patienten öffentlich / Foto © Piqsels unter CC BY-SA 0

Am 13. April hörte Angela Tschernobajewa Geräusche im Treppenhaus und schaute durch den Türspion: Es war das Rascheln von Einkaufstüten, die jemand ihrer Nachbarin vor die Tür stellte. Als die Nachbarin die Tüten hereinholte, hatte sie einen Mundschutz um, berichtet Angela Viktorowna beruhigt. „Und sie ist gleich wieder zurück in die Wohnung – gut so, sie hält sich an die Vorschriften. Ich mache mir nämlich sehr viel Gedanken, dass sie rausgehen könnte“, sagt Tschernobajewa gegenüber Meduza

Dass sie ihre Nachbarn jetzt im Auge behalten soll, weiß Angela Viktorowna aus den Sozialen Netzwerken der Kleinstadt Susemka in der Oblast Brjansk: Als dort die kompletten Daten eines älteren Ehepaares, das an Corona erkrankt war, veröffentlicht wurden, erfuhr Angela Viktorowna, dass sie Tür an Tür mit deren Tochter wohnt – bei der nun auch der Verdacht einer Covid-19-Infektion besteht. „Jetzt warte ich auf ihre Testergebnisse, damit ich weiß, ob ich weiter Angst haben muss oder nicht“, teilt Angela Tschernobajewa ihre Sorge mit uns.

Die persönlichen Daten des an Covid-19 erkrankten älteren Ehepaares waren unmittelbar nach der Diagnose ins Netz gelangt: Am 11. April tauchten auf der größten öffentlichen VKontakte-Seite der Stadt Adresse, Telefonnummern und sogar Informationen zu Kontaktpersonen auf. Insgesamt elf Personen waren von dem Datenleak betroffen – vom Partner der Tochter bis zur Ex-Schwiegertochter. „Und als die Liste mit den Namen [von der VK-Seite] verschwand, haben sich alle aufgeregt: ‚Die verbreiten hier diese Seuche, da müssen wir doch ihre Namen kennen! Was, wenn wir jetzt auch gefährdet sind?‘“, erinnert sich Angela.

Datenleak: Liste mit Namen von Covid-19-Patienten

Die im Netz veröffentlichte Liste sei von einem Polizeibeamten zusammengestellt worden, erklärt Alexej, der Sohn des betroffenen Ehepaares, gegenüber Meduza. „Ich wurde von einem Polizisten ausgefragt, und dann ist das offizielle Dokument im Internet aufgetaucht – wer hat das gemacht? Die Polizei, das Krankenhaus?“, empört sich unser Gesprächspartner. Die Informationen seien für den Verbraucherschutz Rospotrebnadsor des Bezirks Susemsk bestimmt, hatte es in dem Dokument geheißen. 

Veröffentlicht wurden nicht nur die Namen, sondern auch die Adressen und Telefonnummern aller Familienmitglieder. „Zwei Tage lang hat mein Telefon keine Ruhe gegeben“, schildert Alexej die Folgen. „Man behandelt uns wie Aussätzige, als hätte ich mir die Beulenpest eingefangen.“

Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?

In den vergangenen Wochen waren bereits weit größere Mengen personenbezogener Daten von Menschen mit Verdacht auf Covid-19 aus dem Innenministerium ins Netz gelangt. Im April bekam Artjom aus Orenburg einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Die Stimme habe „merkwürdig unhöflich“ geklungen, erinnert sich Artjom, der Anrufer war „seltsam aufdringlich“, rief mehrfach mit derselben Frage an: „Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?“

Artjoms Privatnummer hatte der anonyme Anrufer aus folgendem Datenleak: Anfang April war im Internet eine Tabelle mit 277 Namen aufgetaucht – die Überschrift lautete: „Personen, die als potentielle Covid-19-Träger unter Bewachung stehen“. Artjom ist überzeugt, dass die Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern echt ist: Seine Familie sei nach einem Auslandsaufenthalt tatsächlich „unter Beobachtung“ gestellt worden, die Polizei war persönlich bei ihm zu Hause, um die Daten aufzunehmen. „Soweit wir sie überprüfen konnten, stimmen alle Angaben überein“, berichtet Artjom. „Dass die Informationen im Netz aufgetaucht sind, ist grob fahrlässig und kriminell.“

„Angesichts der Tatsache, dass die Behörden nach einer Totalüberwachung streben, habe ich keine Zweifel, dass Informationen über Infizierte an die Gesundheitsbehörden, an die Polizei und an alle möglichen ‚operativen Stäbe‘ übermittelt werden“, sagt Damir Gainutdinow. Der Jurist der Moskauer Menschenrechtsorganisation Agora beschäftigt sich derzeit  auch mit dem Datenleak in Orenburg. „Die Polizei, aber auch das Gesundheitssystem, der Rospotrebnadsor – auf allen diesen Ebenen sind Sicherheitslücken denkbar.“

Sanitäter postet Testergebnis im Netz

12. April, Ortschaft Schadrinsk, östlich des Ural: Ein älterer Herr mit Mundschutz und Handschuhen betritt ein Lebensmittelgeschäft. Als die Verkäuferinnen ihn sehen, verschwinden sie in einem Nebenraum und tauchen nicht mehr auf; der Mann steht alleine im Laden. 

„Mein Vater hat angefangen zu zittern“, erzählt Marina Makruschina, die kurz vorher positiv auf das Coronavirus getestet worden war. „Er hat nichts gekauft, ist einfach wieder gegangen.“

In der Nacht zuvor war Marina Makruschina, die Tochter des älteren Herrn,  mit dem Notarztwagen von Schadrinsk ins Gebietskrankenhaus nach Kurgan gebracht worden: Auf der zweistündigen Fahrt gelangte das positive Testergebnis der Patientin auch an die Ohren des Sanitäters. Dieser postete am nächsten Morgen auf der VK-Seite Mitgehört in Schadrinsk, es gebe einen ersten Corona-Fall in der Stadt.

Als in den Kommentaren zum Post Marina Makruschinas persönliche Daten inklusive Adresse und Foto auftauchten, zeigte die junge Frau den Sanitäter bei der Polizei an. Wegen der Offenlegung ihrer Daten verdächtigt sie die Ärzte. „Um der Stadt  zu demonstrieren, dass sie arbeiten, haben sie meine Daten weitergegeben“, sagt Makruschina. „Und jetzt sagen alle: ‚Marina Makruschina aus der Straße des Friedens hat das Coronavirus.‘“ (Auf Meduzas Nachfrage zu den Umständen des Datenleaks reagierte das Gesundheitsministerium nicht.)

Hetzjagd in Sozialen Medien

Die Hetzjagd, die nach dem ursprünglichen Post bei VKontakte begann, ging in den anderen Sozialen Netzwerken und Messengern der Stadt weiter. „In privaten Nachrichten und Gruppenchats – über die Arbeit, die Schule – werden meine Fotos geteilt, mit dem Kommentar: ‚Die hat das hier eingeschleppt‘. Man beschuldigt mich, dass ich absichtlich hergekommen sei, um meine Heimatstadt anzustecken!“, sagt Makruschina.

Einige dieser Nachrichten sind Drohungen, die mit mehrdeutigen Grab-Emojis versehen sind. „Mein Telefon hört nicht auf zu klingeln. Auch meine Eltern bekommen ständig Anrufe. Meine Freunde warnen mich: ‚Pass auf dich auf, wenn du zurückkommst: Die warten hier auf dich.‘ In der Stadt schreiben sie, dass man mich steinigen will, dass man sie [die Infizierten] ‚verbrennen‘ und mich ‚in eine Irrenanstalt stecken‘ sollte“, erzählt Makruschina. „So einer Horde ist alles zuzutrauen.“

Gesundheitsministerium schweigt zu den Vorwürfen

In Selenograd [im Norden von Moskau] wurde das positive Ergebnis eines Corona-Schnelltests gleich von dem Arzt verbreitet, der die Familie des Infizierten zu Hause besucht hatte. „Als er aus dem Haus ging, sagte er zu der Frau am Empfang: ‚In Wohnung Nr. 11 gibt es ein positives Ergebnis.‘ Ab da ging es los“, erzählt Jewgenija (Nachname ist der Redaktion bekannt). „Später hat der Chefarzt angerufen und sich entschuldigt.“

Jewgenija erstattete Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, sowohl gegen den Arzt als auch gegen die Empfangsdame, die das Testergebnis jedem mitteilt, der das Haus betritt. „Wenn die Nachbarn nach Hause kommen, sagt sie ihnen direkt ins Gesicht: ‚In Nr. 11 gibt es Corona‘“, erzählt Jewgenija.

Das Gesundheitsministerium wollte sich zu den Umständen der Leaks nicht äußern; unbeantwortet blieb auch Meduzas Frage, welche Maßnahmen das Ministerium ergreife, um die Patientendaten während der Coronavirus-Pandemie zu schützen.

Streit über ärztliche Schweigepflicht

„Uns wurde nahegelegt, die ganze Familie samt Hund zu vernichten“, erzählt Aljona aus Ust-Kut (Nachname ist der Redaktion bekannt). Von dieser Hetzjagd in der Oblast Irkutsk hatte  die Komsomolskaja Prawda am 13. April berichtet: Nur 20 Minuten, nachdem die Familie selbst von dem Verdacht auf Covid-19 erfahren hatte, hatten Unbekannte die Nachricht von einem positiven Testergebnis verbreitet. Aljona vermutet, dass die Nachbarn dahinterstecken: „Über Instagram, Whatsapp, Odnoklassniki und VKontakte – überall wurde es geteilt“, erzählt unsere Gesprächspartnerin, die im März im Ausland gewesen ist. „Verbrennen, umbringen, erschießen sollte man diese Mutter! Nicht nur, dass die selbst unbedingt dahin musste, sie hat auch noch die Kinder mitgeschleppt!“

In den Nachrichten „über die Familie, die vor kurzem aus Thailand zurückgekommen ist“ werden die vollständigen Angaben zu den beiden Kindern, Aljonas Mann und ihrem Vater genannt. „Die ganze Familie erschießen“, heißt es in den Kommentaren bei Instagram. „Erschießen und verbrennen.“ Alle Testergebnisse, die die Familie am 15. April zurückbekommen hat, sind negativ.

Einen Streit über die ärztliche Schweigepflicht entfachten viele Posts, die einen Link zur Karte der Infektionen in Moskau geteilt hatten. Seit Ende März veröffentlicht die Internet-Plattform Mash, die von ehemaligen Mitarbeitern des Medienkonzerns Life gegründet wurde, Informationen darüber, „wo jemand in Moskau mit einer Covid-19-Diagnose herkommt“. Woher diese Daten stammen und wie die interaktive Karte aktualisiert wird, ist unbekannt. In den Sozialen Netzwerken werden die Adresslisten rege kommentiert: Die Nutzer tauschen sich über Auslandsreisen ihrer Nachbarn in betroffene Gebiete aus, teilen Kontaktdaten der Infizierten oder vervollständigen die Adressen – zum Beispiel mit dem konkreten Hauseingang, aus dem die Menschen mit dem Krankenwagen abgeholt wurden.

Die Leute sollen sehen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet

„Ich kann nicht ausschließen, dass es auch Trolling geben wird, aber ich will hoffen, dass es nicht zu Handgreiflichkeiten kommt“, sagt Mash-Projektleiter Maxim Ixanow. „Meine Idee war hauptsächlich, dass die Leute sehen sollen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet, und dass sie zu Hause bleiben.“ Woher die Daten in den Karten stammen, legt Mash nicht offen. „Wir sammeln aus verschiedenen Quellen. Viele Informationen erreichen uns über unseren Telegram-Kanal“, erklärt Ixanow. Ob unter den Informanten auch Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden oder Ärzte sind, sagt er nicht.

Der Chef-Epidemiologe der Oblast Wologda hat bereits dazu aufgerufen, Hetzjagden zu unterlassen. „In einer Gefahrensituation unterscheidet sich unser Verhalten nicht im Geringsten von dem von Herdentieren“, sagt Denis Moskwitschenko vom Lehrstuhl für klinische Psychologie an der Moskauer Universität für Zahnmedizin. „Wir beginnen die Interessen derer zu verteidigen, die uns am nächsten stehen: unsere Familienmitglieder, die Gemeinschaft. Das ist ein Schutzinstinkt, der Versuch, eine Situation, die uns gefährlich erscheint, unter Kontrolle zu bringen.“

Nach der Epidemie werden viele gerichtlich gegen solche Datenleaks vorgehen, ist sich Maxim Slobin, Gründer der Agentur für Imagemanagement ISN, sicher. „An uns hat sich zum Beispiel jemand gewandt, der am Coronavirus erkrankt ist und dessen private Daten in einer der Mitgehört-Gruppen veröffentlicht wurden. Die Situation erinnert an eine absurde Hetzjagd – es ging so weit, dass im Hausflur jemand an die Wand schrieb, er sei ‚ein Mörder‘, der ‚uns alle anstecken‘ würde“, erzählt Slobin. „Wenn die Geschichte mit dem Coronavirus vorbei ist, werden Menschen, nach denen sonst kein Hahn kräht, beim Googeln Dinge über sich finden wie ‚Iwan Petrow ist ansteckend und seine ganze Familie böse‘.“

Kaum juristische Handhabe

Ob es gelingen wird, persönliche Daten, die während der Pandemie ins Internet gedrungen sind, per Gerichtsbeschluss entfernen zu lassen, kann Meduza niemand genau beantworten. „Vor dem Coronavirus scheiterten 90 Prozent der Kläger an dem Versuch, ihre persönlichen Daten aus den Suchergebnissen entfernen zu lassen“, erklärt Slobin. 

„Laut Artikel 152.2 des Zivilgesetzbuches können Sie zwar verlangen, dass private Informationen aus dem Internet entfernt werden. Aber grundsätzlich ist es sehr schwer, etwas aus dem Internet zu löschen. Solche Dinge werden außerdem in den meisten Fällen über die Sozialen Netzwerke geteilt. Man kann zwar einen Gerichtsbeschluss erwirken, aber die Durchsetzung ist sehr viel schwieriger“, meint auch Gainutdinow.

An eine ordentliche Untersuchung dieser Vorfälle glaubt Gainutdinow nicht. „Als im August 2019 die gesammelten Daten der Teilnehmer an den Moskauer Protesten im Internet verbreitet wurden, leitete das Untersuchungskomitee die Beschwerden der Betroffenen an die Polizei weiter, die Polizei wiederum antwortete, es sei alles ‚okay‘, man sehe ‚keine Hinweise auf einen Straftatbestand‘“, erinnert sich der Jurist. „Auch von Roskomnadsor kam eine formelle Antwort. Deshalb bin sehr skeptisch, was die Erfolgsaussichten auf nationaler Ebene angeht – vor allem, weil der Staat offensichtlich wenig Interesse daran hat, diesen Fällen nachzugehen.“

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Das russische Gesundheitssystem

Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.

Sowjetische Plakate aus dem Jahr 1971. Quelle: 22-91.ru Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1

Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin

Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.

Das sowjetische System 

Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“

Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.

Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2

Gesundheit unter Marktbedingungen 

Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.

Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.

Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.

Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis 

Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.

Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4

Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.

Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5

Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6

Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.


Quelle: FOM

Und die Onkologie? 

Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.

Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.

Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.

Nicht der Staat allein 

Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.

Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.

Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.

Prinzip Eigenverantwortung 

Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.


1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266.
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University  
3.Kremlin.ru: Poslanie Federal'nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii (3 aprelja 2001 goda)  
4.Rbc.ru: Čislo bol'ničnych koek v Rossii v 2016 godu umen'šilos' na 23 tys.
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok.  
6.Ebd.
7.A.D. Kaprin, V.V. Starinskij, G.V. Petrova (2019): Sostojanie onkologičeskoj pomošči naseleniju Rossii v 2018 godu.
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Korruption in Russland – soziologische Aspekte

Korruption ist in Russland weit verbreitet – sowohl in Politik und Wirtschaft als auch im Alltagsleben. Korruption, die nicht zuletzt durch niedrige Gehälter befördert wird, kommt in zahlreichen Variationen vor: gegenseitige Gefälligkeiten, Tausch unter der Hand, Abzweigung staatlicher Mittel, Bestechungsgelder und vieles mehr. Da die Korruption systemischen Charakter angenommen hat, ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie wirksam bekämpft werden kann.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)