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Putins Ökonomie des Todes

Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die russische Führung den Sold für Berufssoldaten und die Kompensationszahlungen für jeden Gefallenen massiv erhöht. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew hat einmal alle Zahlungen zusammengerechnet und sie damit verglichen, was ein junger Mann im zivilen Leben verdienen könnte. Sein Fazit: Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.

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Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago imagesUnter russischen Intellektuellen hat sich jüngst die Erkenntnis breit gemacht, dass der Staat den Tod aktiv als etwas Erhabenes und Reinigendes instrumentalisiert. „Sie werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel“ – das mag noch wie ein Witz geklungen haben. Aussagen, dass der Tod auf dem Schlachtfeld ein gelebtes Leben wertvoll mache, sowie Äußerungen weltlicher und religiöser Führer über den Tod als besondere Leistung deuten jedoch darauf hin, dass in der Ideologie von Putins Russland zwar vielleicht noch kein Todeskult herrscht, aber eine von der Soziologin Dina Khapaeva als „Thanatopathie“ bezeichnete Haltung offensichtlich weit verbreitet ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Versuche, den gewaltsamen Tod als etwas Natürliches oder gar Erhabenes darzustellen, mit der gegenwärtigen Faschisierung Russlands einhergehen. Parallelen zum Deutschland der 1930er Jahre drängen sich auf. Allerdings ist Russland keine klassische, ideologisierte, totalitäre Gesellschaft mit einer Faszination für Kampf und Tod, sondern ein durch und durch kommerzieller Staat, in dem Geld alles entscheidet. Daher sollte einer Analyse der ideologischen Hintergründe auch eine Bewertung der wirtschaftlichen Aspekte folgen.

Der Kreml hat den umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Versprechen begonnen, dass die „militärische Spezialoperation“ mit Vertragssoldaten durchgeführt wird. Aufgrund der enormen Truppenverluste erlaubten die russischen Behörden jedoch bald die Rekrutierung von Häftlingen für sogenannte private Militärunternehmen („TschWK“) und verkündeten später eine Mobilmachung, die viele an die Einberufungen von 1941 erinnerte. Diverse Experten sagten voraus, dass der „Teilmobilmachung“ auch eine allgemeine Mobilmachung folgen werde. Die ist bislang jedoch ausgeblieben, vielmehr ließ das Militär verlauten, dass der Personalmangel in der Armee überwunden sei. Wie kann das sein, insbesondere angesichts der Verluste, die die russische Armee weiterhin erleidet? Vielleicht liegt die Antwort in der seltsamen Verbindung zwischen dem Todeskult und dem Kult des Geldes.

Ein Soldat bekommt heute mehr als das Dreifache des Durchschnittsgehalts

Betrachtet man die ersten Maßnahmen, die von der russischen Führung 2022 ergriffen wurden, so fällt auf, dass die Vertragsarmee, die im Februar in die Ukraine einmarschiert ist, noch eine ganz andere Armee war als jene, die im Laufe des Jahres gebildet wurde. So war beispielsweise 2019 ein Vertragssoldat eine Person, die bereits über militärische Erfahrung verfügte und mit 38.000 bis 42.000 Rubel [etwa 500 bis 550 Euro zum damaligen Kurs – dek] brutto besoldet wurde. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsgehalt in Russland damals bei 47.500 Rubel lag [etwa 630 Euro – dek], bekam das Verteidigungsministerium also für vergleichsweise wenig Geld einen gut ausgebildeten Soldaten. Wenn ein Soldat ums Leben kam, konnten dessen Angehörige mit einer Entschädigung von drei Millionen Rubel rechnen [damals etwa 40.000 Euro – dek]. Ende 2022 sahen die Bedingungen für Vertragssoldaten ganz anders aus: Der Sold betrug mindestens 195.000 Rubel [etwa 3000 Euro – dek]. Das ist mehr als das Dreifache des offiziellen Durchschnittsgehalts. Zudem lag im Todesfall allein die „Einmalzahlung des Präsidenten“ schon bei fünf Millionen Rubel [etwa 77.600 Euro – dek]. Zugleich wurde jeder genommen, der wollte, selbst Personen ohne jegliche militärische Erfahrung. Mit anderen Worten: Der Preis eines Soldaten ist in Russland um ein Vielfaches gestiegen, während seine professionellen Qualitäten in einem Ausmaß gesunken sind, das sich kaum abschätzen lässt. 

Bis zum Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine war die russische Armee klar unterteilt in Einheiten mit Vertragssoldaten und Einheiten mit Wehrpflichtigen (Vertragssoldaten wurden zehnmal besser bezahlt als Wehrpflichtige). Inzwischen ist alles anders: Jetzt sind die im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen Soldaten de facto ganz normale Vertragssoldaten, die den Regelungen für die Mindestbesoldung und die Entschädigungen im Falle von Verwundung und Tod unterliegen (gerade die Großzügigkeit gegenüber den Einberufenen im Herbst 2022 hat die Behörden dazu veranlasst, den Sold für „alte“ Vertragssoldaten zu erhöhen). Anders gesagt: Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens. 

Wie lukrativ? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen. 

Nehmen wir an, ein Bürger wird im Rahmen der Mobilmachung eingezogen und bald in die besetzten Gebiete der Ukraine geschickt, wo er fünf Monate kämpft und letztlich einer verirrten Kugel zum Opfer fällt. Sein Leben erlangt damit nicht nur eine „besondere Bedeutung“, sondern es wird auch noch mit viel Geld vergolten. Zunächst bezieht ein Soldat vom Moment der Mobilmachung an ein Gehalt von 195.000–200.000 Rubel [etwa 2000 Euro – dek]. Bei fünf Monaten Dienst kommt er also auf eine Million Rubel [knapp 10.000 Euro – dek]. Hinzu kommt die „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [knapp 50.000 Euro für jeden Gefallenen – dek]. Darüber hinaus haben die Angehörigen des Soldaten Anspruch auf eine Versicherungsleistung, deren Höhe knapp drei Millionen Rubel [etwa 30.000 Euro – dek] beträgt. Und es gilt weiterhin die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen (seit 1. Januar 2023 beträgt diese 4,7 Millionen Rubel [etwa 47.000 Euro – dek]). Schließlich bekommen die Angehörigen des Gefallenen noch mindestens eine Million Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] von den regionalen Behörden. Für die Angehörigen eines gefallenen Soldaten, der fünf Monate gedient hat, summieren sich die Zahlungen aus Lohn und Entschädigungen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften also auf etwa 14,8 Millionen Rubel [knapp 149.000 Euro – dek].

Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen

Schauen wir uns nun die Alternative an, und zwar das Leben, das unseren Helden erwartet hätte, wenn Putin nicht mit der „Entnazifizierung“ des „Bruderlandes“ begonnen hätte. Nehmen wir an, die Person wäre im Alter von 35–40 Jahren aus einer Region in den Krieg gezogen, die im Todesfall eine Million Rubel auszahlen kann (das trifft auf die Mehrzahl der Regionen in Russland zu). Zum Beispiel aus der Oblast Iwanowo, wo das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel [etwa 350 Euro – dek] lag (ähnlich ist die Situation in den Oblasten Kostroma, Orjol, Tambow, Brjansk und Pskow, im gesamten Föderationskreis Nordkaukasus und in vielen Regionen Sibiriens, wo das durchschnittliche Monatsgehalt 40.000 Rubel nicht übersteigt). Da die Mobilmachung Männer betrifft und die Gehälter von Männern russlandweit im Durchschnitt 28 Prozent über denen von Frauen liegen, gehen wir davon aus, dass unser Soldat im zivilen Leben 40.000–42.000 Rubel verdient hat. In diesem Fall wären alle oben genannten Zahlungen so hoch wie sein Gesamtverdienst über einen Zeitraum von 31 Jahren. Fazit: Zieht ein Mann in den Krieg und kommt mit 30-35 Jahren ums Leben (also im besten und aktivsten Alter), ist sein Tod wirtschaftlich vorteilhafter als sein weiteres Leben. Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen. Zum Vergleich: In Ländern, in denen sich Staat und Gesellschaft vor allem auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger konzentrieren, wird der Tod eines Soldaten mit zwei bis drei durchschnittlichen Jahreseinkommen bewertet (zum Beispiel erhält eine Witwe in den USA eine einmalige Entschädigung in Höhe von 100.000 Dollar). 

Der Wunsch nach „siegreichen Feldzügen“ könnte in Zukunft noch größer werden

Das Obengenannte bezieht sich auf Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation und der Rosgwardija, allerdings erhalten auch die Angehörigen von Wagner-Söldnern finanzielle Leistungen (in diesem Fall geht es um geringere Summen – Medienberichten zufolge beläuft sich hier die Entschädigung auf fünf Millionen Rubel, die Auszahlung erfolgt in bar). Mit anderen Worten: In Russland hat der „Ankauf von Menschenleben“ im großen Stil begonnen. Bleibt die Frage, ob die Entschädigung in Höhe des Durchschnittseinkommens für das gesamte restliche Arbeitsleben „angemessen“ ist, oder ob dieser Betrag weiter erhöht werden muss. Letzteres dürfte zunächst eher unwahrscheinlich sein, da die Bedingungen ohnehin lukrativ erscheinen. Wichtig ist aber etwas anderes: In die russische Armee treten derzeit und auch künftig vor allem Bürger aus relativ armen Regionen ein, wobei die meisten selbst nach lokalen Maßstäben über ein geringes Einkommen verfügen. Dementsprechend wird die Masse der Soldaten, die alle Strapazen des Militärdienstes überstanden haben, sich auch deutlich vom Durchschnittsbürger unterscheiden, und der Wunsch nach weiteren „siegreichen“ Feldzügen wird nur noch größer werden. 

Die Ausgaben für Sold und Entschädigungen entsprechen knapp zehn Prozent des Staatshaushalts der Vorkriegszeit

Russlands Führung betrachtet diesen Umstand indes nicht als Risiko. Ganz im Gegenteil, sie bemüht sich, die derzeitige Praxis zur Norm zu machen, indem sie Militärangehörigen immer größere Privilegien gewährt. So wurden nicht nur staatliche Zahlungen, sondern jegliche Hilfeleistungen für Soldaten von der Einkommensteuerpflicht befreit, und Kompensationszahlungen für gefallene Angehörige fließen im Falle einer Insolvenz der berechtigten Person nicht in die Konkursmasse ein. Paradoxerweise rechnet der Kreml ernsthaft mit einem positiven wirtschaftlichen Effekt durch die Schaffung einer hochbezahlten Berufsarmee. Geht man davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten bei 400.000–450.000 liegt, dann beläuft sich deren Besoldung insgesamt auf mindestens eine Billion Rubel pro Jahr [etwa 10 Milliarden Euro – dek]. Noch einmal etwa die gleiche Summe muss der Staat für Entschädigungszahlungen für getötete und verwundete Soldaten aufwenden, wenn wir davon ausgehen, dass es pro Jahr 50.000 [Getötete] und 100.000 [Verwundete] sind. Diese Beträge entsprechen knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben in der Zeit vor dem Krieg. Einige Experten sagen sogar voraus, dass eine neue soziale Gruppe von „jungen Reichen“ entstehen wird. Generell wird die „Todesökonomie“ zu einer Art neuer Normalität für die Staatsmacht und für in ihrem Dienst stehende Wirtschaftsfachleute. 

Natürlich wäre es verfrüht, nach lediglich anderthalb Jahren Krieg weitreichende Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Geschichte zeigt, dass sich Zahlungen und Entschädigungen aller Art zwar leicht erhöhen lassen, eine Kürzung aber praktisch unmöglich ist. Eines ist allerdings klar: Die russische Führung hat nach entsprechender „ideologischer Vorbereitung“ tatsächlich ein System geschaffen, in dem das Leben für einen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht nicht die beste Wahl darstellt. Mit dieser Erkenntnis wird ein Bewusstseinswandel einhergehen, der sich zweifellos auf den gesamten sozialen Bereich auswirken wird, von der Gesundheitsversorgung bis zum Rentensystem. Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht. 

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Das russische Strafvollzugssystem

„Unser freundliches Konzentrationslager“ – so nennt Alexej Nawalny sein derzeitiges Zuhause, die Pokrowskaja-Kolonie. Mitte März 2021 wurde der Oppositionspolitiker in diese sogenannte Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Regime (IK-2) verlegt. Die Kolonie liegt in der Oblast Wladimir, rund 100 Kilometer östlich von Moskau und ist die in Russland am häufigsten anzutreffende Art der Justizvollzugsanstalt. Mit einem Gefängnis westlichen Typs ist sie kaum vergleichbar – wie sich auch das gesamte russische Strafvollzugssystem grundlegend vom westlichen unterscheidet.

Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Rund 480.000 Menschen haben im März 2021 ihre Haftstrafe verbüßt. Im Jahr 2000 waren es noch etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner. 

Hinter dem System des Strafvollzugs steht in Russland der Föderale Strafvollzugsdienst FSIN (federalnaja slushba ispolnenija nakasani). Die Behörde begründet den massiven Rückgang der Insassenzahlen mit der zunehmenden Anwendung von Strafen ohne Freiheitsentzug: Hausarrest gehört etwa dazu oder Verbüßung der Strafe zu Hause bei regelmäßiger Meldung in der zuständigen strafrechtlichen Exekutivinspektion. Der FSIN führt außerdem auch eine allgemeine „Liberalisierung“ der Strafvollzugspolitik an1: Das, was früher mit einer Haft bestraft wurde, wird heute vermehrt mit Geldstrafen geahndet; vor allem die Anzahl der Freiheitsstrafen im Wirtschaftsstrafrecht ist dadurch zurückgegangen.2

Dies sowie der allgemeine Rückgang der Kriminalität haben dazu geführt, dass die russischen Strafvollzugsanstalten heute nur zu etwa 73 Prozent ausgelastet sind, der gesamteuropäische Durchschnitt liegt dagegen bei rund 90 Prozent.3

„Folterkolonien“

Eine gesunkene Auslastung der ehemals notorisch überfüllten Gefängnisse müsste sich eigentlich in besseren Haftbedingungen widerspiegeln. Doch Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese nach wie vor als menschenunwürdig.
Wegen massiver Korruption in russischen Haftanstalten können sich manche Häftlinge zwar tatsächlich besondere Privilegien von der Gefängnisleitung erkaufen, wie sie beispielsweise Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, beschreibt. Insgesamt sei das russische Gefängniswesen laut Romanowa aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.4 

Auch Oleg Senzow gab nach seiner Freilassung aus rund fünfjähriger Haft einen traurigen Einblick in die russische Gefängniswelt: Diese sei nur dazu geschaffen, um die Gefangenen zu entmenschlichen, so der ukrainische Regisseur. In manchen Anstalten herrschen laut Senzow menschenunwürdige Verhältnisse: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehörten dort faktisch zum System. 
Ähnliches wurde bereits mehrmals aus der Anstalt berichtet, in der Nawalny einsitzt. Als berüchtigte „Folterkolonie“ sorgte die IK-2 vor allem zu der Zeit für Schlagzeilen in unabhängigen Medien, als deren Abteilung für interne Verbrechensbekämpfung und Kriminalprävention noch von Roman Saakjan geleitet wurde. Dieser wechselte im Januar 2020 seinen Arbeitsplatz und wurde Leiter der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, ebenfalls in der Oblast Wladimir. Was er laut einem im März 2021 veröffentlichten Bericht des Insassen Iwan Fomin offenbar aus der IK-2 mitgebracht hatte, war für viele erschütternd: Systematische Folter und sexuelle Gewalt gehören in der IK-6 laut Fomin zur Tagesordnung, außerdem berichtete er über einen Mord an einem Mitinsassen, den der Gefängnisleiter Saakjan wohl abgesegnet hatte.

Das Ziel – Bestrafung statt Resozialisierung?

Oft heißt es: Während man im Westen auf Resozialisierung setze, sei das wichtigste Vollzugsziel in Russland die Bestrafung. Dabei ist die Resozialisierung der Verurteilten offiziell auch die Hauptaufgabe der russischen Strafvollzugsanstalten. Doch die Praxis ist vielschichtig und widersprüchlich.

Obwohl der Gesetzgeber vorsieht, dass die Häftlinge ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen sollen, um so ihre Resozialisierung zu erleichtern, verbringen sie die Strafe oftmals sehr weit weg von ihrem Zuhause und ihren Angehörigen. Auf diese Weise wird das Besuchsrecht de facto eingeschränkt. 

Bis heute gibt es kein einheitliches staatliches Resozialisierungsprogramm oder auch nur eine klare Vorstellung von staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Die Resozialisierung wird vor allem von NGOs wie Rus Sidjaschtschaja übernommen. Diese erhalten nicht nur wenig bis keine staatliche Unterstützung, sondern werden zu allem Überdruss auch noch mit unzähligen bürokratischen Hürden konfrontiert.5 So wurde Rus Sidjaschtschaja aufgrund einer finanziellen Zuwendung der EU – es ging um den Aufbau juristischer Beratungszentren in einzelnen Regionen – zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.

Die Arbeit von NGOs wird zusätzlich von der weit verbreiteten Praxis der sogenannten Etappierung erschwert: eine Verlegungs- und Transport-Routine, die laut Rus Sidjaschtschaja keiner besonderen Logik und Logistik folgt.6 Der FSIN hält alle Informationen über die Verlegung von Häftlingen und deren späteren Haftort geheim, weswegen weder die Häftlinge noch deren nahe Verwandte oder Anwälte vor Beginn der Etappierung über das endgültige Ziel informiert werden. Die Strafgefangenen werden damit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, teilweise bis zu einem Monat oder länger. Während der Überführung befinden sich die Häftlinge in überfüllten Spezialwaggons und Gefangenentransportern – sogenannten Stolypin-Waggons –, teils unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen: Bis zu 16 Menschen können laut Gesetz auf einer Fläche von dreieinhalb Quadratmetern zusammengepfercht werden, Bettwäsche und Matratzen werden nur selten zur Verfügung gestellt.

An Zwischenstationen werden die Häftlinge in Transitbereichen in Untersuchungshaftanstalten (SISO) untergebracht, wo sie manchmal wochenlang bleiben, bis sie wieder etappiert werden. Auf jeder Etappe dieses Transports findet in den Transitgefängnissen eine oftmals erniedrigende körperliche Untersuchung statt. Hinzu kommt, dass vermögende Häftlinge – die sogenannten kabantschiki – nicht selten systematisch auf Reisen geschickt werden, um sie auf jeder Etappe finanziell zu schröpfen. Der FSIN, so heißt es manchmal in diesem Zusammenhang sarkastisch, sei eben ein Konzern – ein gewinnorientiertes Unternehmen.

Archipel FSIN

Seit der Gulag-Epoche bleibt der Strafvollzug in Russland ein Staat im Staate: isoliert, unbarmherzig, entmenschlicht.7 Geschaffen wurde das System vor rund 100 Jahren, nur ein Mal wurde es seitdem laut Olga Romanowa reformiert – 1953, unter Lawrenti Berija.8 

Die Insassen werden in diesem System nicht als Menschen, sondern vielmehr als Arbeitsressource betrachtet. Wie der Gulag ist auch der FSIN ein geschlossenes System, das fast alle Daten über seine Wirtschaftstätigkeit geheim hält. Die wenigen vorhandenen Informationen stammen von Menschenrechtlern, die vor allem im europäischen Teil Russlands arbeiten.

Das Wirtschaftssystem umfasst unzählige Agrarbetriebe, Bauunternehmen und Fabriken. Die Insassen fertigen eine breite Palette von Produkten an. Im Jahr 2018 verfügte der FSIN mit umgerechnet 3,5 Milliarden Euro über das europaweit größte Gefängnisbudget. Zugleich hat Russland mit 2,40 Euro die niedrigsten täglichen Ausgaben pro Person9 – im europäischen Durchschnitt sind es 68,30 Euro pro Häftling und Tag. Laut Waleri Maximenko, stellvertretender Direktor des FSIN, wurden die Verpflegungskosten von 24 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 15 Milliarden Rubel im Jahr 2017 gekürzt.10 Damit kostet die Verpflegung pro Insasse und Tag rund 72 Rubel (damals umgerechnet etwa 1 Euro) – ein Betrag, der laut Maximenko die notwendige Menge an Kalorien deckt. Ein Grund für die geringen Verpflegungskosten besteht wohl darin, dass der FSIN nur einen Teil der Lebensmittel zukauft, der Großteil wird von den Kolonien in eigenen Nebenbetrieben selbst produziert. Grundsätzlich wird pro Häftling damit sogar weniger ausgegeben, denn de facto finanzieren sich die Gefangenen selbst, nicht selten verdient die Gefängnisleitung sogar an ihnen. 

Dies geschieht einerseits direkt, etwa dadurch, dass vom Arbeitslohn der Insassen Versorgungsleistungen der Strafkolonie abgezogen werden: In einem besonders krassen Fall bekam ein Insasse der IK-13 in Nishni Tagil laut Lohnabrechnung vom Juli 2015 1,99 Rubel (damals umgerechnet 0,03 Euro).11 Andererseits verdienen Gefängnismitarbeiter auch an kriminellen Machenschaften der Insassen: So wurde im Juli 2020 beispielsweise im landesweit bekannten Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe ein Call Center entdeckt, aus dem Betrugsanrufe getätigt wurden. Die Kosten der beschlagnahmten technischen Anlagen wurden dabei auf sieben Millionen Rubel beziffert (damals rund 82.000 Euro).12 Die bei der Razzia verhafteten FSIN-Mitarbeiter bilden womöglich nur die Spitze des Eisbergs: Olga Romanowa etwa ist überzeugt, dass die Verbindungen des FSIN zur organisierten Kriminalität mittlerweile schon zum System gehören.13 

Arten von Justizvollzugsanstalten

„Die Zone“, sona, so heißt in Russland dieser spezifische Ort der Haft mit seinem streng hierarchischen System und seinen Erniedrigungen. Insgesamt gibt es allerdings acht unterschiedliche Arten von Justizvollzugsanstalten, und nur rund 1300 (von insgesamt 480.000) Menschen sitzen in Gefängnissen ein. Die Gefängnisse sind nur für besonders schwere Verbrechen wie Terrorismus, Flugzeugentführungen oder etwa Geiselnahme vorgesehen. Genauso wie in sogenannten Spezialkolonien herrschen hier die strengsten Haftbedingungen. 

Am anderen Ende der Skala steht die sogenannte Ansiedlungsstrafkolonie, kolonija posselenije – so etwas wie offener Vollzug. In den Ansiedlungsstrafkolonien befinden sich 2021 rund 30.000 Menschen. 

Ersttäter verbüßen ihre Strafe häufig in den sogenannten Strafkolonien (isprawitelnaja kolonija) mit allgemeinem Regime. Die Unterschiede von diesen zu sogenannten Besserungsarbeitskolonien mit strengem Regime sind nicht allzu groß, sie betreffen vor allem die Anzahl der Besuche und Postpakete sowie der Höhe der Geldsummen, die die Insassen empfangen oder ausgeben dürfen. Es gibt insgesamt 670 Straf- und Besserungsarbeitskolonien in Russland, sie beherbergen rund 80 Prozent aller Häftlinge.

Die 209 Untersuchungshaftanstalten Russlands (SISO) dienen in erster Linie der Unterbringung von Beschuldigten. Rund 100.000 Menschen sitzen hier derzeit ein. 

Außerdem gibt es in Russland 18 Erziehungskolonien (wospitatelnaja kolonija), wo derzeit etwa 1000 Jugendliche ihre Strafen verbüßen. 

Frauen können zur Haft nur in Erziehungskolonien und Medizinischen Justizvollzugsanstalten (letschebnoje ispravitelnoje utschreshdenije) oder in Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Regime und in einer Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt werden. Im Februar 2021 waren rund 40.000 Frauen in Haft, den Frauenstrafkolonien sind 13 Kinderheime angeschlossen, in denen 330 Kinder leben.14

Selbstverwaltung und Disziplinierung 

Die Besonderheit des russischen Strafvollzugs ist: In den Straf- und Besserungskolonien gibt es keine Zellen. Die Häftlinge sind meistens in schlafsaalartigen Baracken mit Stockbetten untergebracht. Die Insassen werden in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften können sie sich frei bewegen und miteinander kommunizieren.

Das System der Gemeinschaftsunterkünfte wirkt sich auch auf die Organisation der Selbstverwaltung von Insassen aus. So gibt es formale Verwaltungspositionen, die von Insassen bekleidet werden, etwa die sogenannten sawchosy oder dnewalnyje. Diese agieren ähnlich wie Verwaltungsangestellte und genießen gegenüber einfachen Insassen bestimmte Privilegien.

Daneben gibt es Zonen, in denen die sogenannten Diebe im Gesetz (wory w sakone) einsitzen. Diese kriminellen Autoritäten etablieren nicht selten auch eine von den Justizbeamten unabhängige Selbstverwaltung von unten. Die Diebesgesetze der Berufskriminellen gelten für alle Insassen, die Justizbeamten lassen das traditionell zu und greifen dabei nur in den allerseltensten Fällen ein.

Die Informationsbeschaffung und Kontrolle durch die Justizwache erfolgt nicht selten über einzelne Häftlinge selbst, die als Augen und Ohren der Beamten agieren. Die Kontrolle gründet dabei auf einem Netz von Spitzeln und sehr harten Strafen – selbst für geringfügige Vergehen. Weil eben jeder jeden beobachtet, gelingt es auch einer sehr geringen Zahl an Beamten eine große Anzahl von Insassen zu überwachen.

Alexej Nawalny wurde in der Besserungskolonie IK-2 jedenfalls im sogenannten Sektor mit erhöhten Kontrollmaßnahmen A untergebracht, mit fünf weiteren Häftlingen. Da der Oppositionspolitiker als fluchtgefährdet eingestuft ist, wird er nachts zur Kontrolle einmal pro Stunde geweckt. Er darf weder Besuche noch Postsendungen empfangen. Da den Häftlingen das Gefühl vermittelt werden soll, dass sie stets unter Zeitdruck stünden, hat Nawalny für das Verfassen von Briefen an nahe Angehörige pro Woche lediglich 15 Minuten Zeit. Im März 2021 beklagte er in einem Brief, dass ihm auch eine angemessene ärztliche Behandlung seiner Rückenschmerzen verwehrt würde. Ende März trat er aus Protest gegen die schlechte medizinische Versorgung und gegen Folter durch Schlafentzug in den Hungerstreik.


1.Vedomosti: Čislo zaključennych v Rossii vpervye stalo men’še 0,5 mln. 
2.Oreškin, M.I./Suturin, M.A. (2019): K voprosu o liberalizacii ugolovnoj otvetstvennosti za prestuplenija v sfere ėkonomičeskoj dejatel’nosti, in: Ugolovnaja justicija 13/2019, S. 48–51 
3.Rossijskaja Gazeta: Tjurma uže ne mnogoljudna 
4.Romanova, Ol'ga (2016): Butyrka: Tjuremnaja tetrad', S. 6 
5.Obščestvennaja palata Rossijskoj Federacii: Neobchodim federal’nyj zakon, napravlennyj na resocializaciju byvšich zaključennych 
6.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
7.Die Ausführungen basieren auf einer Recherche des Magazins Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
8.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
9.rbc.ru: Sovet Evropy podsčital traty Rossii na zaključennogo v den’ 
10.Echo Moskvy: V kruge sveta 
11.Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
12.securitylab.ru: V SIZO "Matrosskaja tišina" obnaružen podpol'nyj koll centr 
13.republic.ru: Naši tjur'my stali bol'šim podrazdeleniem FSB 
14.Federal’naja služba ispolnenija nakazanij: Kratkaja charakteristika ugolovno-ispolnotel’noj sistemy Rossijskoj Federacii 
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