Seit seiner Jugend beschäftigt Wladimir Kara-Mursa der Widerstand gegen Diktaturen. Als junger Journalist drehte er Dokumentarfilme über das Leben sowjetischer Dissidenten. Später setzte er sich in Washington für die Verabschiedung des sogenannten Magnitski-Gesetzes ein, das Sanktionen gegen russische Politiker und Beamte vorsieht, wenn sie an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Er überlebte zwei Giftanschläge, die mutmaßlich vom selben FSB-Kommando verübt wurden, das auch den Anschlag auf Alexej Nawalny begangen haben soll. Im April 2023 verurteilte ein Moskauer Gericht Wladimir Kara-Mursa wegen der „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“, der „Mitwirkung bei einer unerwünschten Organisation“ und wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager.
Kara-Mursa hat immer offen darüber gesprochen, dass er Kraft und Mut für seine Arbeit aus dem Glauben schöpft. Das christliche Portal Mir Vsem (dt. Friede sei mit euch) hat ihn gefragt, wie er seinen Glauben in der Haft praktizieren kann und wie er die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beurteilt.
Der Oppositionspolitker Wladimir Kara-Mursa vor Gericht in Moskau im Oktober 2022 / Foto © Sergei Bobylev/IMAGO/ITAR-TASS
Mir Vsem: Sie sind jetzt schon zwei Jahre hinter Gittern. Wie hat sich diese Zeit auf Ihr Selbstverständnis als Christ ausgewirkt, und auf Ihr Verhältnis zum Glauben und zur Kirche?
Wladimir Kara-Mursa: Mein Verhältnis zum Glauben und mein Selbstverständnis als Christ haben sich nicht verändert. Und das gilt auch für das Verhältnis zur Kirche. Aber natürlich setze ich die Kirche weder mit ihrem Verwaltungsapparat gleich noch mit einzelnen Amtsträgern, auch nicht mit den höchstgestellten. Das hat mich Vater Georgi Edelstein gelehrt, ein sehr weiser und lauterer Mensch und, wie ich finde, ein wirklicher christlicher Geistlicher. Er betont immer – auch in seinen Büchern und in unserem gemeinsamen Film Die Pflicht, nicht zu schweigen von 2019 –, dass man die Kirche Christi nicht nach dem Verhalten einzelner Personen beurteilen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Namen auftreten. Diese Personen können sich sehr unwürdig verhalten, aber das macht nicht das Wesen des Glaubens und der Kirche aus. Auch heute sind in meinen Augen die verfolgten Priester, die ihre Stimmen gegen Krieg, Blutvergießen und Brudermord erheben, diejenigen, die das eigentliche Wesen des Christentums und der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck bringen – und nicht die kirchlichen Würdenträger, die ihnen deswegen verbieten, Gottesdienste abzuhalten und ihnen das Amt aberkennen. Diese verfolgten Geistlichen, die, um mit Martin Niemöller zu sprechen, nicht bereit sind, „auf menschliche Anordnung hin das zu verschweigen, was Gott uns zu sagen gebietet“, retten heute meiner Ansicht nach die Ehre der Russisch-Orthodoxen Kirche.
Sie standen vor der Entscheidung zwischen Ihren Prinzipien, die Sie in die Opposition geführt und schließlich ins Gefängnis gebracht haben, und dem nachvollziehbaren Wunsch, das zu vermeiden und Ihren Angehörigen Leid zu ersparen. Ist Ihnen die Wahl schwergefallen?
Es gibt ein großartiges Buch von Ljudmila Ulitzkaja. Es heißt Die Dichterin und ist dem Andenken an die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja gewidmet, mit der sie befreundet war. Gorbanewskaja nahm im August 1968 an der Demonstration der Sieben teil – sieben Menschen [sic!], die auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. Ulitzkaja schreibt über sie: „Sie wollte Gott keinen Kummer machen. Sie war keine Heldin, sie war nicht auf Märtyrertum und Probleme aus. Sie hatte einfach keine andere Wahl.“ Das trifft es sehr genau. In solchen Zeiten, in denen Böses im Namen des „ganzen Volkes“, des „ganzen Landes“ getan wird, kann man nicht schweigen, sich abwenden, ignorieren – denn das würde bedeuten, dass all diese Taten auch in meinem Namen begangen werden. Deshalb gab es keine Wahl – Schweigen wäre für mich eine Form der Zustimmung gewesen. Und aus sicherer Entfernung zu reden, entspricht nicht meiner Vorstellung von der Verantwortung eines Politikers, der in der Öffentlichkeit steht. Aber Sie haben ganz recht damit, nach den Angehörigen zu fragen. Die Familien der politischen Gefangenen haben an dieser Last viel schwerer zu tragen als wir selbst.
Mir ist es leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen
Haben Sie die Möglichkeit, die Gefängniskirche zu besuchen oder einen Geistlichen zu sprechen? Wie läuft das ab? Nehmen Sie an den Sakramenten teil?
In den beiden Straflagern, zwischen denen ich in Omsk hin- und her verlegt werde gibt es zwar Kirchen, aber als „böswilliger Regelverletzer“, der im internen Lagergefängnis eingesperrt ist, darf ich sie nicht aufsuchen – so wie ich mich generell nicht auf dem Gelände des Lagers bewegen und keinen Kontakt zu anderen Häftlingen aufnehmen darf. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen. Wenn ich beichten und das Abendmahl empfangen will, muss ich einen schriftlichen Antrag beim Leiter der Kolonie stellen. Dann sucht mich ein Geistlicher in Begleitung von Mitarbeitern des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN auf und vollzieht die Sakramente – entweder direkt in der Zelle oder in einem Dienstgebäude, zum Beispiel in der Sanitätsabteilung.
Nach dem Strafgesetzbuch haben Gefangene das Recht, einen Geistlichen ihrer Wahl kommen zu lassen, damit sie auch im Gefängnis die Möglichkeit haben, Verbindung zu ihrem Seelsorger zu halten. Das ist sehr wichtig, doch bisher habe ich diese Möglichkeit nicht nutzen können. Im Moskauer Gefängnis hat mich Vater Alexej Uminski regelmäßig besucht, und im Winter wurden die nötigen Verwaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit er hierher kommen kann. Aber um die Weihnachtszeit wurde er dann wegen seiner Antikriegshaltung des Amtes enthoben, und ich erhielt von der Bezirksverwaltung des FSIN eine Absage. Der Rat und die Unterstützung eines Seelsorgers sind für mich schon im normalen Alltag sehr wichtig, und umso mehr im Gefängnis.
Können Sie in der Zelle beten? Und wie reagieren die Zellengenossen darauf?
Ich bete täglich, in der Regel morgens und zur Nacht. Alle Gebete verrichte ich hier nur still für mich und nur in der Zelle. Seit meiner Verlegung nach Sibirien im letzten Frühherbst befinde ich mich permanent in Einzelhaft, deshalb stellt sich die Frage nach den Zellengenossen nicht.
Die innere Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen
Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, Freiheit sei etwas Inneres, man könne sich auch im Gefängnis frei fühlen. Das klingt gut, aber stimmt es auch?
In gewissem Sinn stimmt es tatsächlich. Wie ich gehört – oder besser gesagt, in einem Brief gelesen – habe, ist kürzlich ein Sammelband mit Schlussworten politischer Gefangener erschienen. Sie wurden eingesperrt, weil sie sich in Russland öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben (Anm. der Redaktion: Es geht um den Band Golosa rossiiskogo soprotiwlenija, dt. Stimmen des russischen Widerstands). Und vielen fällt auf, dass sich diese Menschen, die im Gefängnis sitzen, viel freier und offener äußern als diejenigen, die einstweilen in Freiheit sind. So war es auch schon zu Sowjetzeiten: Die Dissidenten sagten vor Gericht Dinge, für die alle andern sofort ins Gefängnis gekommen wären, denn sie waren ja schon dort. Diese innere Freiheit, die Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen. Aber die körperliche Unfreiheit in Raum und Zeit, die Tatsache, dass du nicht die Freiheit hast, bei deiner Familie zu sein, spürst du hier jeden Tag und jede Minute. Und das ist sehr belastend.
Erleben Sie die Unfreiheit als Prüfung für Ihren Glauben?
Es wäre unlauter, wenn ich das vollkommen verneinen würde. Im Großen und Ganzen nein. Aber meine Gedanken und Gefühle haben sich über die letzten gut zwei Jahre gewandelt. Auch wenn ich weiß, dass alles Gottes Wille ist, wie im Buch des Propheten Jeremia (29,11) geschrieben steht, dass nur der Herr weiß, was er mit jedem von uns vorhat, und dass Kleinmut für einen Christen Sünde ist, so ist es nicht immer leicht, gegen die rein menschlichen Empfindungen der Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Schwermut anzukämpfen. Vor allem, wenn man die ganze Zeit völlig allein ist. Und man trägt seine Prüfung nicht immer mit der geschuldeten Demut.
Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat
Der Priester und Märtyrer Wassili Sokolow schrieb seinen Angehörigen 1922 aus dem Gefängnis: „Jedes Leiden gereicht dem Menschen und seiner unsterblichen Seele zum Vorteil.“ Glauben Sie, dass das, was Sie zurzeit durchmachen, gut für Ihre Seele ist?
Ich bin diesem Gedanken bei Menschen, die die Erfahrung der Gefangenschaft gemacht haben, häufig begegnet. Alexander Solschenizyn hat im Archipel GULAG geschrieben, er habe im Gefängnis seine „Seele großgezogen“ und es dafür gesegnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Im Moment kann ich Ihnen nicht antworten: „Ja, das ist es, was ich empfinde.“ Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat.
Haben Sie Zugang zu christlicher Literatur? Was lesen Sie gerade, was haben Sie in den beiden letzten Jahren gelesen?
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Freiheit wenig in der Heiligen Schrift gelesen habe. Aber während der Haft habe ich alle fünf Bücher Mose, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige weitere Bücher der Bibel gelesen, aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bergpredigt, die für mich den Kern des Christentums darstellt, habe ich immer wieder gelesen und lese sie weiterhin. Ich bin mit sieben Jahren Christ geworden. Damals bat ich meine Mutter darum, getauft zu werden. Das war Ende der 1980er Jahre, noch zur Zeit der Sowjetunion. Seither spielt der Glaube eine große Rolle in meinem Leben. Und es ist mir wichtig, jetzt, im fünften Jahrzehnt meines Lebens, bewusst und reflektiert die Bibel zu lesen und die Entscheidung, die ich im Alter von sieben Jahren getroffen habe, nochmals zu bekräftigen.
Es gibt die russische Gefängnisregel: „Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts.“ Passt das zu einem gläubigen Menschen?
Im Verhältnis zu Gott natürlich nicht, in keinem dieser drei Punkte. Aber die Regel bezieht sich ja nicht auf das geistliche Leben der Gefangenen. Als praktischer Ratschlag für das Überleben im Gefängnis hat sie nichts an Aktualität verloren.