Ein Moskauer Gericht hat den Journalisten Iwan Safronow am 5. September 2022 zu 22 Jahren Haft im Straflager verurteilt – wegen angeblichen „Hochverrats“. Safronow, der zunächst mehrere Jahre als Journalist, für Vedomosti und Kommersant geschrieben hatte, spezialisiert auf Militär und Raumfahrt, arbeitete zuletzt bei der Raumfahrtbehörde Roskosmos. Er war bereits 2020 festgenommen worden, ihm wurde vorgeworfen, Staatsgeheimnisse an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben. Beobachter kritisierten die Vorwürfe gegen ihn von Anfang an als konstruiert, Safronow weigerte sich bis zuletzt, seine Schuld einzugestehen. Bereits Safronows Vater war Militärexperte und Kommersant-Journalist, er kam 2007 unter ungeklärten Umständen ums Lebens, laut offizieller Quellen soll er Selbstmord begangen haben – was seine Familie bis heute bezweifelt.
Der Fall Safronow wird von unabhängigen Beobachtern in größeren Zusammenhang mit dem repressiven Vorgehen des Staates gegen kremlkritische Stimmen gestellt. Am Tag des Urteils gegen Safronow wurde der Novaya Gazeta die Drucklizenz entzogen, kurz zuvor waren zahlreiche weitere Journalisten zu sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Das extrem hohe Strafmaß im Fall Safronow löste nun Entsetzen aus. Meduza sammelt Reaktionen von Kollegen, Weggefährten, Juristen, Menschenrechtlern, Politikern …
„Die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie scheinen“
Ekaterina Schulmann, Politologin
22 Jahre Straflager unter verschärften Haftbedingungen plus 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Geldstrafe und zwei Jahre eingeschränkte Freiheit nach Entlassung aus der Haft. Doch irgendetwas sagt mir, dass er das nicht absitzen wird – denn weder der Emir noch der Esel leben ewig, und die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie zunächst scheinen.
„Auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort“
Ilja Krassilschtschik, Leiter des Projekts Slushba poddershki, ehemaliger Herausgeber von Meduza
Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin, dass die Gerechtigkeit triumphieren wird. Wie viele Jahre ich das schon glaube. Aber mit jedem Mal, mit jedem Prozess, mit jedem Krieg verstehe ich weniger, was für die gerecht ist. Es scheint, dass es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt, auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.
„Eine demonstrativ grausame Strafe“
Pawel Tschikow, Jurist, Leiter der Menschenrechtsorganisation AGORA
Ehrlich gesagt, habe ich wegen Hochverrats keine Urteile zu mehr als 20 Jahren gefunden. Es muss einem bewusst sein, dass Artikel 275 des Strafgesetzbuchs [für Hochverrat] eine Höchststrafe von 20 Jahren vorsieht. Iwan Safronow wurde zu mehr Jahren verurteilt, weil er für zwei Aspekte schuldig erklärt wurde, die jeweils einzeln mit Strafen belegt wurden. So kam das endgültige Strafmaß durch teilweises oder vollständiges Aufsummieren zustande.
Das Strafmaß wegen Hochverrats war schon immer hoch. Aber in den letzten Jahren steigt es immer weiter an. Waren es vor zehn Jahren noch sechs bis neun Jahre, liegen die Urteile in den letzten fünf Jahren bei 12 bis 15 Jahren Haft. [...]
Iwan Safronow erhielt eine absurd hohe Strafe, eine demonstrativ grausame Strafe – entsprechend der heutigen Realität in Russland.
„Dieses Urteil ist ein Signal an alle Kriegsberichterstatter“
Galina Arapowa, Direktorin des Mass Media Defence Center, zitiert in Republic
Mir scheint, in Safronows konkretem Fall besteht das Problem auch darin, dass dieses Urteil der gesamten Medienszene demonstrieren soll, dass das Thema Krieg, genauer Kriegsindustrie und Raumfahrt, ein Tabu ist. Es ist ein Signal an alle Journalisten, dass man sich von diesen Themen fernhalten muss, ansonsten handelt man sich schnell 22 Jahre Haft ein.
Außerdem ist es ein Signal an die Kriegskorrespondenten und Analysten, dass sie nichts anderes über dieses Thema schreiben dürfen als das, was in den Pressemitteilungen von Roskosmos und Verteidigungsministerium verlautbart wird.
Und das ist tatsächlich ein wirkliches Elend, denn es bedeutet, dass ein großer Teil des Staatshaushalts tabu ist für Diskussion, Analyse und Medienberichterstattung.
„Iwan sagte, dass er niemals weggehen würde“
Taissija Bekbulatowa, Chefredakteurin des Onlinemediums Holod
Ich weiß noch, dass Wanja [Safronow] ein paar Jahre vor seiner Verhaftung bemerkt hat, dass er beschattet wurde. Er wusste nicht, womit das zusammenhing. Ich fragte ihn damals, ob er nicht lieber ausreisen möchte, aber er sagte, dass er niemals weggehen würde, ungeachtet aller Risiken, denn dies sei sein Land und hier sei seine Familie.
Erst der Vater, nun der Sohn
Lisa Focht, Korrespondentin der russischen BBC
Iwan Safronow hat heute 22 Jahre bekommen. Da finde ich keine Worte. Wie soll man verstehen, wie Iwans Angehörige damit umgehen – zum Beispiel die Mutter, die zunächst ihren Mann verloren hat und jetzt zuschauen muss, wie man ihren Sohn für ein Vierteljahrhundert hinter Gitter bringt.
„Dieser Kannibalismus wird niemals vergessen“
Leonid Wolkow, Politiker und Mitstreiter von Alexej Nawalny zu 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen
Im Jahr 2015 bekam Wassja Fjodorowitsch, ein Jurist aus Jekaterinburg und Anführer einer Bande, die Usbeken und Tadshiken tötete, 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen. Es ging damals um ungefähr 40 Morde, von denen 14 Morde und 5 Mordversuche vom Gericht bewiesen wurden.
Jetzt kämpft er womöglich in der Ukraine. Und kriegt am Ende auch noch einen Orden von Putin (ich hoffe, posthum).
Safronow wird seine Strafe nicht absitzen. Das wird alles sehr viel früher vorbei sein. Aber der Kannibalismus dieser Unmenschen, die 24 Jahre forderten und ihm 22 Jahre gegeben haben, die sich diesen „Fall“ ausgedacht und ihn vor Gericht gebracht haben – das ist alles schon dokumentiert und wird niemals vergessen.
„Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen“
Jewgeni Popow, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik
Als Journalist schockieren mich diese Zahlen. Aber die Beschuldigung wiegt schwer. Ich hoffe, dass das erst der Anfang ist. Die Verteidigung hat angekündigt, dass sie das Urteil anfechten und all ihre Argumente vorbringen wird. Sollte auch nur die geringste Hoffnung bestehen, dass Iwan unschuldig ist, sollte es Chancen und Argumente geben, dann bin ich sicher, dass diese in höheren Instanzen umgesetzt werden. Natürlich ist die Zahl riesig, einfach unglaublich.
Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen und erst recht nicht um mich werfen mit Begriffen wie „Repression“. Ich hoffe, wir werden die Argumente der Ermittlungen zu sehen bekommen, allerdings werden die Chancen immer kleiner.
„Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein“
Witali Jegorow, Gründer des YouTube-Projekts Otkryty kosmos
Wir sind Iwan Safronow
Wanjas Pech war es, dass er einem Geheimdienst-Oberst über den Weg gelaufen ist … Oder war es sein Glück? Er ist schon erlöst, keine schnelle Eingreiftruppe wird sich mehr auf ihn stürzen, er muss sich von den Ermittlern keine Drohungen anhören, was Verwandte und Freunde betrifft, muss nicht mit seinem Gewissen darüber verhandeln, was besser ist: Geständnis und 12 Jahre oder Ehre und 22 Jahre. Jetzt hat er zu essen und staatliche Garantien über eine stabile Zukunft für mehr als 20 Jahre. Etwas, was die Mehrheit der Bürger in Russland nicht hat. Vielleicht sogar niemand.
Weiß jemand, was die Spürhunde heute machen, die den Fall Safronow geleitet haben? Glaubt jemand, dass diese tollen Leute mit kaltem Herz und heißem Kopf in Rente auf die Krim gegangen sind, um dort Gemüse anzubauen mit dem Gefühl erfüllter Pflichten? Bei wem werden morgen Speznas-Einheiten auf dem Balkon landen? Wessen vom Staatsanwalt verfasstes Urteil wird am nächsten Morgen mit nüchterner Stimme vom Richter verlesen?
Diese Maschine, die Wanja gefressen hat, ist nicht niedergestreckt, sie hat den Hals noch nicht voll und ist noch nicht zum Stehen gekommen. Ihre Schräubchen tun weiter ihre Arbeit, denn sie brauchen neue Titel, Auszeichnungen, KPI [Key Performance Indicators – dek]. Sie brauchen uns. [...]
Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein.
Auch du.
Und ich.
Ich will nichts anheizen, keine Angst machen und niemandem drohen. Ich verkünde nur Fakten. Akzeptiert sie als Realität und trefft eure Entscheidung. Solange es auf eurem Balkon noch ruhig ist.
„Ist das schon 1937 oder kommt das noch?“
Irina Jakutenko, Wissenschaftsjournalistin
Iwan Safronow hat 22 Jahre bekommen. In 22 Jahren kann man geboren werden, die Schule durchlaufen, ein Studium abschließen, einen Job beginnen, seine erste Liebe treffen, heiraten und sogar ein Kind kriegen. Das ist ein ganzes Leben. Dazu noch 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Strafe, damit auch die Eltern ihre Freude haben. Freunde des Vergleichens: Ist das schon 1937, das Jahr des Großen Terrors, oder kommt das noch?
„Zum ********“
Alexej Ponomarjow, Musiker und Podcast-Redakteur
Wanja Safronow hat 22 Jahre Strafkolonie bekommen für einen fingierten Fall von „Hochverrat“. Vor 22 Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, die Wanja und ich gemeinsam besuchten. Zum ******** [Durchdrehen], verdammt noch mal.
„Es geht um Rache des Staates“
Nikita Mogutin, Journalist
22 Jahre für Iwan Safronow – dabei geht es nicht um Gerichtsbarkeit und nicht um den Kampf für Gerechtigkeit. 22 Jahre unter verschärften Haftbedingungen für einen Journalisten, für seine berufliche Tätigkeit – dabei geht es um die prinzipielle Rachsucht des russischen Staates. Dabei geht es um die Niederlage des Systems im Sommer 2019, als sie den Fall Iwan Golunow fingierten [dem Meduza-Journalisten wurde ein Drogendelikt untergeschoben – dek]. Unter Druck [großer Proteste und Solidaritätsbekundungen – dek] musste das System zurückweichen, Iwan kam frei, die Anakonda musste ihre Beute wieder herauswürgen.
Umso entscheidender war es nicht nachzugeben im Fall Safronow. Wer auch immer hinter diesen fingierten Vorwürfen stand – der Inlands- oder der Auslandsgeheimdienst – sie rächten sich für ihre demütigende Niederlage. Schon 2019 haben wir darüber gesprochen, dass es „schrecklich sein wird, der nächste Journalist zu sein“, denn der würde nicht freigelassen und nicht gerettet. „Für dich selbst und für Wanka“.
Genau deswegen geht es bei den 22 Jahren für den Journalisten Safronow um die Rache der gedemütigten Elite, eine Rache an jedem, der sich damals für Wanja Golunow einsetzte, eine grundlegende Antwort jedem, der dachte, dass die öffentliche Meinung in Russland irgendetwas beeinflusst.
„Eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen“
Borislaw Koslowski, Wissenschaftsjournalist und Autor
Wenn Safronow frei kommt, ist er 54 Jahre alt.
Er ist 8 Jahre jünger als ich, der Kerl ist Jahrgang 1990.
Über die Stichhaltigkeit der Anklage kann man bei Projekt nachlesen – teilt den Link nicht, wenn ihr in Russland seid, dafür könnt ihr auch eingebuchtet werden, weil Projekt „unerwünschte Organisation“ ist.
Der Slogan „Freiheit für Safronow“ scheint mir selten unsinnig – er sieht aus wie ein Appell an jene, die über Safronows Freiheit verfügen, also an eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen. Das heißt, die gehen gerade ihrer üblichen Beschäftigung nach und zermalmen von Slowjansk bis Mykolajiw massenhaft lebendige Menschen zu Hackfleisch und sollen nun irgendwie mal kurz Pause machen, um Safronow freizulassen.
Stattdessen wünsche ich Safronow, Jaschin [der wegen Verbreitung angeblicher „Fakes“ über die russische Armee in Haft ist – dek] und Nawalny nur eines: dass sie den Moment erleben, wenn irgendwer diese ganzen blutrünstigen Untoten mit Putin an der Spitze unschädlich macht. Und die Frage nach ihrer Freiheit klärt sich von alleine. Bis dahin wird sie sich leider überhaupt nicht klären.
„Wozu? Damit andere Angst haben“
Njuta Federmesser, Vorsitzende des Fonds für Hospiz-Unterstützung Wera (dt. Glaube)
22 Jahre.
Und es ist sinnlos zu fragen: Wofür? Denn wie immer ist die richtige Frage: Wozu? Damit andere Angst haben.
Vor was Angst haben? Vor allem und allen. Sich selbst, ihrem Schatten, ihren Verwandten, Freunden, Vorgesetzten und Untergebenen, ihrem Spiegelbild, ihren Kindern, ihren eigenen Worten und Gedanken.
Wozu? Um zu herrschen – nicht auf Grund von Intellekt und Kompetenz, sondern auf Grund von menschlicher Angst. Die Geschichte zeigt, dass diese Methode funktioniert. Für eine begrenzte Zeit.