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Das Fake-Engagement

Ein gutes halbes Jahr ist das sogenannte Jarowaja-Paket nun in Kraft. Neben verstärkter Vorratsdatenspeicherung und Internetkontrolle beinhaltet das umstrittene Anti-Terror-Gesetz auch eine Anzeigepflicht für Bürger: Wer sogenannte „extremistische” Taten nicht anzeigt, dem droht bis zu einem Jahr Haft. Nicht nur, weil der Extremismus-Begriff in Russland schwammig definiert ist, befürchten Kritiker, das Gesetzespaket könne Denunziationen Tür und Tor öffnen. 

Initiiert wurde das Gesetz von der Abgeordneten Irina Jarowaja. Sie hatte sich zuvor bereits als Ko-Autorin des sogenannten NGO-Agentengesetzes ihren Ruf als Hardlinerin erarbeitet.

Im historischen Gedächtnis Russlands sind mit Denunziationen vor allem die Jahre des Großen Terrors verbunden. 80 Jahre danach blickt Wadim Wolkow in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti kurz zurück und fragt vor allem nach dem Wesen der Denunziation im Russland von heute: Worin unterscheidet sich eine Denunziation von einer ganz normalen Beschwerde? Wo fängt sie an? Und: Inwiefern wird hier ziviles Engagement einfach ad absurdum geführt?

Source Vedomosti

Genosse Stalin wird ohne Ende verflucht, und das natürlich nicht ohne Grund. Trotzdem möchte ich mal fragen, wer denn die vier Millionen Denunziationen geschrieben hat“, schrieb Sergej Dowlatow einst in seiner typisch ironischen Art. Die Frage ist zum größten Teil rhetorisch, wobei digitale Technik und Fortschritte in der Datenverarbeitung irgendwann eine durchaus konkrete Antwort hervorbringen dürften.

Die Motivation eines Denunzianten kann unterschiedlich sein, ist aber hier nicht so wichtig. Denn Denunziation als soziales Phänomen lässt sich nur in Verbindung mit Interesse von Polizei und Justiz erklären: Eben diese schaffen einen Bedarf an denunzierenden Eingaben und filtern sie dann für ihre Zwecke. So ist die Denunziation eine sehr wirksame  Maßnahme, um den Rechtsapparat in Bewegung zu setzen, insbesondere in einem repressiven Staat. Denn für sich genommen ist Recht etwas Passives; darauf haben Soziologen schon seit Langem hingewiesen. Um es zur Anwendung zu bringen, bedarf es besonderer Anstrengungen, die gesetzlich festgelegten Regeln folgen.

Denunziation unter dem Deckmantel der Beschwerde

Ein Gericht wird eine Sache nur dann verhandeln, wenn jemand Klage erhebt; die Polizei wird einen Fall nur dann prüfen, wenn es einen Bericht oder eine Meldung zu einem Vorfall gibt. Eingereichte Klagen, Anrufe bei der Polizei, Beschwerden, Anzeigen und Denunziationen, Anträge der Staatsanwaltschaft – Millionen solcher Vorgänge mobilisieren ständig verschiedene Rechtsbereiche. Den handelnden Personen liefern sie somit eine Grundlage (oder bringen sie dazu), Gebrauch von ihren dienstlichen Befugnissen zu machen. Ohne diese Trigger setzt sich die Rechtsmaschine nicht in Bewegung.

Die Rechtswissenschaftler schenken der Praxis der Rechts-Mobilisierung nur wenig Aufmerksamkeit, doch für die Anwender des Rechts ist das eine äußerst wichtige Fertigkeit: Wie kann man ein repressives Verfahren sachgerecht in die nötige Richtung lostreten, und dann auch noch so, dass das eigene Handeln diskret bleibt?

Eine Denunziation unterscheidet sich von einer Beschwerde weniger dadurch, dass ihr eine Lüge oder etwas frei Erfundenes zu Grunde liegen, sondern dadurch, dass eine Denunziation für Rechtsanwender instrumentalisierbar ist. Selbst wenn sie nicht auf vorheriger Absprache beruht, so kalkuliert die Denunziation doch die aktuellen Interessen der Rechtsanwender mit ein und empfiehlt sich quasi selbst: Kommt, benutzt mich.

Viele Denunziationen imitieren zwar Beschwerden, doch echte Beschwerden versuchen, das Problem des Beschwerdeführers zu lösen und nicht das Problem des Rechtsanwenders. Wenn zum Beispiel Datschenbesitzer an die für Umweltschutz zuständige Anklagebehörde eine Beschwerde wegen wilder Waldrodung schreiben, dann ist das eine Beschwerde. Wenn jedoch wachsame Bürger dieser Behörde etwas über die Umweltstiftung ISAR–Sibir melden, die Anklagebehörde, sprich die Staatsanwaltschaft, daraufhin eine Überprüfung durch das Justizministerium anstrengt und dieses dann in Umweltschutz-Wettbewerben der Stiftung Merkmale politischer Tätigkeit erkennt und die Stiftung in das Register ausländischer Agenten aufnimmt, dann ist das Denunziation.

Denunziation als Antrieb für eine repressive Maschinerie

Die Intensivierung des Denunziantentums in der UdSSR in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ist hinlänglich bekannt. Das NKWD benötigte formale Anlässe für politische Repressionen, und die wachsamen Bürger ließen nicht lange auf sich warten. Die Masse an Denunziationen schuf zwar auch Raum für den Kampf gegen innere Feinde, vor allem aber ließ sie die repressive Maschinerie heißlaufen. Und die lief dann 1938 derart aus dem Ruder, dass die eifrigsten Kader des NKWD selbst repressiert werden mussten.

Auch in heutiger Zeit sind Denunziationen verbreitet. Signale und Beschwerden wachsamer Bürger über Theaterinszenierungen, Ausstellungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen, Filme und NGOs – das sind die neuen, massenhaft zur Verfügung stehenden Instrumente zur Mobilisierung des Rechts. Zum Instrumentarium gehören in der Regel auch Beschwerden, die von Polizei und Justiz initiiert werden, eine Unterfütterung in Form eines Abgeordneten, der wirksamer eine Aktivierung der Aufsichtsbehörde (Staatsanwaltschaft) erreichen kann, außerdem eine Reihe von Überprüfungen durch andere Kontroll- und Aufsichtsbehörden, deren Ergebnis von vorneherein feststeht.

Eine schnelle Durchsicht der Fälle, bei denen Organisationen als ausländische Agenten eingestuft wurden, zeigt, dass in den allermeisten Fällen alles mit einer Beschwerde begann. Als deren Urheber sind entweder einfache Bürger aufgetreten, die gewisse Anzeichen von Extremismus festgestellt haben wollten, oder auch Regionalregierungen (wie die Regierung der Region Altai im Falle des Umweltverbands Geblerowski) oder sogar ein Mitglied des Föderationsrates (Dimitri Sablin im Fall des Lewada-Zentrums).

Denunziation als Gegenteil von offenem Dialog

Neben dem Zweck, den Anlass für ein Verfahren zu liefern, hat die rechtsmobilisierende Denunziation eine weitere Funktion: Werden als Trigger Beschwerden wachsamer Bürger, Aktivisten oder Abgeordneter eingesetzt, wird dadurch Aktivität einer Zivilgesellschaft imitiert und die Anwendung des Rechts legitimiert. Wenn Polizei und Justiz Verschwörungen aufdecken, ist das eine Sache; dann könnte man Willkür vermuten. Wenn das Vorgehen als Reaktion auf Bedürfnisse und Fragen aus der Gesellschaft dargestellt wird, sieht die Sache ganz anders aus; das ist sehr viel schwieriger von aufrichtigem Bürgerengagement zu unterscheiden.

Wahrscheinlich gibt es unter den aktiven und wachsamen Bürgern aufrichtig Überzeugte und Gläubige. Ich bezweifle jedoch, dass diese ihre Besorgnis sofort zur Polizei oder zur Staatsanwaltschaft tragen, dabei Amtssprache verwenden und derart genau das Ziel treffen. Wie dem auch sei, es bleibt eine bedenkliche Tatsache: Wachsamkeit und Aktivismus, die durch den Bedarf von Polizei und Justiz stimuliert werden, lassen sich immer schwerer von echter zivilgesellschaftlicher Aktivität unterscheiden.

Hier kann es nur ein Kriterium geben und das liegt nicht im Bereich von Ideologie und Werten (seien diese nun ultrakonservativ oder liberal), sondern in den Mitteln, mit denen Ziele erreicht werden. Bürgerliches Handeln impliziert eine offene und rationale, einander zugewandte Diskussion, einen Dialog, der nicht davon ausgeht, dass jemand a priori Recht hat. Insofern sind all die moralischen Aufrufe und geäußerten Besorgnisse, die sich direkt oder indirekt an die Staatsanwaltschaft richten, vor allem eines: Fake.

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Irina Jarowaja

Von Paulus zu Saulus? Die Wandlung der liberalen Politikerin Irina Jarowaja zur bekanntesten Hardlinerin der Duma wurde von Vorwürfen der Prinzipienlosigkeit begleitet. Mit dem Beschluss des von ihr initiierten Anti-Terror-Pakets im Juni 2016 wurde die Eiserne Lady der Volkskammer für viele zum Symbol des autoritären politischen Kurses.

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Irina Jarowaja

Was Medienpräsenz und das Durchbringen von Gesetzesinitiativen angeht, macht ihr so schnell keiner was vor: Irina Jarowaja ist als einzige Abgeordnete gleich in beiden Kategorien unter den Top Ten aller 450 Duma-Parlamentarier der Legislaturperiode 2011 bis 2016.1 Als Hardlinerin gilt sie spätestens seit ihrer jüngsten Initiative, das Anti-Terror-Paket zu ändern – mit voraussichtlich massiven Auswirkungen auf die Meinungs- und Informationsfreiheit. Die Verabschiedung des sogenannten Jarowaja-Pakets war zugleich ein Paukenschlag, mit dem die VI. Duma ihre Arbeit im Juni 2016 beendete und sich in die Sommerferien verabschiedete.

Wer ist diese Frau, die ihre politische Karriere bei der liberalen Partei Jabloko begann und deren Name nun mit einem der restriktivsten Gesetzespakete Russlands verbunden ist?

Foto © Wikipedia über CC BY 4.0Zwei explizite Altersangaben stechen in Irina Jarowajas (geb. 1966) Biographie auf der Homepage von Einiges Russland2 hervor: dass sie „mit 28 Lebensjahren“ stellvertretende Staatsanwältin und mit 29 Jahren bereits Chefin der Untersuchungsabteilung der Staatsanwaltschaft wurde. Alle weiteren Angaben zu ihrem rasanten Aufstieg folgen dann wieder einem streng chronologischen Muster nach Jahreszahlen.

Politische 180-Grad-Wende

Die steile Karriere der jungen Juristin brachte ihr alsbald auch einen Abgeordnetensitz im Rat der Oblast Kamtschatka ein, wo sie sich der liberalen Partei Jabloko anschloss und zugleich den Fraktionsvorsitz übernahm. Aus dieser Zeit, die auf der Homepage übrigens ohne den Verweis auf Jabloko auskommt, sind enge Kontakte zu Michail Chodorkowskis Stiftung Open Russia überliefert. Jarowaja hat sich außerdem als eine scharfe Kritikerin der Partei Einiges Russland hervorgetan.3  Nach ihrer eigenen Angabe hat sie diese Kritik auch in der Staatsduma geäußert, doch waren alle ihre Versuche, als Jabloko-Abgeordnete einen Sitz in der Volkskammer zu bekommen, erfolglos. Erst mit einer 180-Grad-Wendung – ihrem Übertritt  in die Machtpartei Einiges Russland Ende 2007 – erreichte die zweifache Mutter ihr Ziel und wurde Dumaabgeordnete. Fragen zu und Kritik an diesem Bruch in ihrer politischen Biographie ließ sie unbeantwortet, auch zu dem Vorwurf, dass sie solche Parteiübertritte zuvor selbst kritisiert hätte, schwieg sie.

Im Konservativ-Patriotischen Klub

Die radikale Kehrtwende der neuen Abgeordneten wurde im Jahr 2008 deutlich: Jarowaja trat dem Konservativ-Patriotischen Klub bei – einer Dachorganisation innerhalb der Partei Einiges Russland – und übernahm gleich darauf die Leitung dieser Parteiströmung. Vor diesem Hintergrund zeichnete sie für über 70 Gesetzesvorlagen (mit-)verantwortlich und trug somit wesentlich zu einem Rekord bei: Die V. Duma hat in den Jahren 2007 bis 2011 über anderthalbtausend Gesetze verabschiedet4, was ihr den sarkastischen Beinamen des „verrückten Druckers“ einbrachte.

Agentengesetz und Anti-Terror-Paket

Kurz nach Beginn der Proteste gegen die Fälschungen bei der Dumawahl 2011 wurde Jarowaja zur Leiterin des parlamentarischen Ausschusses für Sicherheit und Korruptionsbekämpfung ernannt. In dieser Eigenschaft geißelte sie die Proteste als „Selbstzweck“ und als „Farce der Chamäleons“.5
Ihren Ruf als Hardlinerin erarbeitete sie sich mit der anschließenden Ko-Autorschaft des NGO-„Agentengesetzes“. Mit dessen Verabschiedung im Juli 2012 wurde der Name Jarowaja zu einem Synonym für die autoritäre Konsolidierung Russlands. Zum „Gesicht der Partei, Symbol der abschließenden VI. Legislaturperiode [der Duma]“6 wurde sie aber erst nach der Annahme eines von ihr initiierten Änderungsgesetzes im Juni 2016: Das Anti-Terror-Paket trägt seit der Bekanntmachung des Entwurfs inoffiziell ihren Namen – Jarowaja-Paket beziehungsweise -Gesetz.

Der Entwurf wurde nach dem Absturz eines russischen Ferienfliegers über Ägypten und im Zuge der Terror-Anschläge in Paris initiiert. Das Paket sieht restriktive Neuerungen sowie einzelne Änderungen in der Extremismus- und Terrorbekämpfung vor: So soll es unter anderem eine Anzeigepflicht für alle als terroristisch beziehungsweise extremistisch eingestuften Straftaten geben, bei Unterlassung droht bis zu einem Jahr Haft. Die Strafmündigkeit soll in dem Zusammenhang auf 14 Jahre herabgesenkt werden. Außerdem ist eine massive Vorratsdatenspeicherung und Internetkontrolle geplant.7

Kritiker der Novelle bemängeln, dass die Umsetzung des Jarowaja-Pakets die Bürger-Staat-Beziehungen auf eine neue Ebene heben wird. Bürger werden demnach zu informellen Staatsbediensteten, die indirekt verpflichtet sind, für Recht und Ordnung zu sorgen.8 Die Anzeigepflicht bedeutet individuelle Verantwortung für alle extremistischen Straftaten, die im Vorfeld hätten bemerkt werden können. Da der Begriff des Extremismus dabei allerdings einer weit gefassten Logik folgt, kann das Paket eine Welle von Denunziationen auslösen.

Einzelne Oppositionspolitiker vergleichen das  Paket deswegen mit den Kontrollmechanismen aus Orwells Roman 19849 und erwarten von der VII. Duma weitere Schritte der autoritären Konsolidierung. Der Name Jarowaja jedenfalls steht auf der Wahlliste in der ersten Gruppe, an erster Stelle.10


1.Noch nicht veröffentlicht, zum Überblick: Ekaterina Šul‘man: Facebook-Post vom 28. Juni 2016
2.Edinaja Rossija: Jarovaja Irina Anatol‘evna
3.slon.ru: Oborotni s mandatom: Otkuda berutsja edinorossy
4.Ria Novosti: Gosduma pjatogo sozyva: rekord po čislu zakonov i skandalov
5.patriotplatform.ru: Irina Jarovaja: Malo kto chotel idti za liderami „farsa chameleonov“
6.So die Charakterisierung der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Šul‘man auf Echo Moskvy
7.Einen Überblick über das gesamte Paket bietet u. a. Meduza: «Paket Jarovoj» prinjat: I ėto očen‘ plocho
8.lenta.ru: Dembel‘skij paket: Kak izmenitsja žizn‘ rossijan posle vstuplenija v silu popravok Jarovoj
9.So bspw. Dimitri Gudkow auf Kommersant: «Zakon pridetsja proignorirovat‘, esli chočeš‘ žit‘»
10.Edinaja Rossija: Spiski partii „Edinaja Rossija“ na vyborach v Gosdumu VII sozyva
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)