Noch vor fünf Jahren galt das russische Internet als sehr freizügig. Etwas mehr als 40 Prozent der Menschen im Land hatten es da für sich entdeckt. Das russische facebook-Pendant VKontakte war nicht nur ein Freundesnetzwerk, sondern auch Musiktauschbörse, vorbei an jedem Copyright. Es gründeten sich neue junge Internetmedien, und das Livejournal – die damals mit Abstand am meisten genutzte Blogplattform in Russland – war ein Tummelplatz.
Mit dem 1. November 2012 trat ein tiefgreifendes Gesetz zu konkreten Internetsperren in Kraft. Das erste einer Reihe weiterer Gesetze, mit denen das Internet offiziell vom Kinderschutz bis zum Urheberrecht seitdem umfassend reguliert wird, ähnlich wie in anderen europäischen Staaten. Daraus ist in der Praxis auch ein mächtiges politisches Kontrollinstrumentarium erwachsen – teils ohne dass Gerichtsbeschlüsse erforderlich sind. Der Jurist Damir Gainutdinow von der Menschenrechtsorganisation Agora berät Menschen, die in dieses Räderwerk geraten und erklärt im Gespräch mit der Novaya Gazeta, wovor Nutzer inzwischen auf der Hut sein müssen und was von der Anwendung des jüngsten Überwachungsgesetzes, dem Jarowaja-Paket, zu halten ist.
Welche Tendenzen beobachten Sie beim Umgang des Staates mit dem Internet?
In den vergangenen zwei Jahren waren die folgenden Trends zu beobachten: Zum einen wurde der Druck auf konkrete Nutzer erhöht, zum anderen wurden diverse Überwachungstechniken entwickelt. Im Prinzip ist der Staat vor etwa fünf Jahren auf das Internet aufmerksam geworden. Das hatte mit steigenden Nutzerzahlen zu tun, deren Anteil an der Bevölkerung im Land mittlerweile jenseits der 50-Prozent-Marke liegt. Das Internet wurde für die Bürger eine Quelle unabhängiger alternativer Informationen. Der Staat hat dann begonnen, Maßnahmen zur Kontrolle dieser Informationen zu ergreifen.
Seit dem Jahr 2012 wurden sehr viele Gesetze zum Internet verabschiedet, größtenteils Gesetze mit Verbotscharakter. Angefangen hat alles mit der gesetzlichen Sperrung von Seiten über schwarze Listen. Ein paar Jahre lang wurde diese Richtung verfolgt, doch mit der Zeit wurde klar, dass Internetfilter nicht funktionieren. Die Nutzer lernten, die Sperren zu umgehen. Jeder geblockten Internetquelle von Bedeutung wird dadurch außerdem erhöhte Aufmerksamkeit zuteil.
Vor Kurzem gab es einen Skandal um die Sperrung von Pornhub, zuvor wurde die Webseite der Gruppe Krovostok geblockt. Und das, wo doch die Gesetzgebung zu schwarzen Listen und zu Extremismus nur einzelne zu sperrende Content-Arten vorsieht: darunter die Propagierung von Drogen und Selbstmord … Heißt das, man kann mit gerichtlichem Beschluss sperren, was man will?
Es gibt momentan fünf Gründe für Sperren ohne Gerichtsbeschluss: Kinderpornographie, das Propagieren von Drogen und Selbstmord, das Veröffentlichen von Informationen über minderjährige Gewaltopfer und Aufrufe zu extremistischen Handlungen und nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltungen.
Zugleich gibt es im Paragraphen 15.1 des Informationsgesetzes eine Ergänzung, die besagt, dass auch jedwede Information blockiert werden kann, die durch Gerichtsbeschluss als verboten erklärt wird. Dies ist eine scheinbar harmlose Klausel, doch auf ihrer Grundlage erfüllen die Staatsanwälte sehr effektiv ihre Statistiken, indem sie sich mit Klagen jeglicher Art an die Gerichte wenden. Vor ein paar Jahren zum Beispiel wurde ein Beitrag von Gazeta.ru gesperrt, in dem erklärt wurde, wie man Schmiergelder zahlt. Solche Fälle gibt es ziemlich häufig. Es wurden Seiten gesperrt, auf denen Parmesan angeboten wurde – wegen des Embargos und der Gegensanktionen. In Petersburg gab es die Forderung, Seiten zu sperren, auf denen über das Ende der Welt diskutiert wird.
Die Gerichte werfen hier alles Mögliche zusammen. Auch die Seite von Krovostok versuchten sie über diesen Kamm zu scheren und zu verbieten, weil sie asoziales Verhalten propagiert – ohne jegliche Gesetzesgrundlage. Mit Pornhub ist es dasselbe. Für Kinderpornos gibt es ein absolutes Verbot, für gewöhnliche Pornos aber besteht keinerlei Verbot. So hat man sich auf einen Strafrechtsparagraphen gegen die Verbreitung und Herstellung von Pornographie berufen, in dem es allerdings um illegale Pornographie geht. Das heißt, es existiert auch legale Pornographie, die nicht verboten werden kann. Solche Gerichtsbeschlüsse sind daher gesetzwidrig und gehören aufgehoben.
Das Problem ist, dass Staatsanwälte und Richter hier Hand in Hand arbeiten. Die erdrückende Mehrheit solcher Fälle wird verhandelt, ohne die beteiligten Parteien hinzuzuziehen – also die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte. Richter und Staatsanwalt sitzen sich einfach gegenüber und machen die Sache unter sich aus. Als ich mir die Akten zu Krovostok genau ansah, fand ich darin auch das Gerichtsprotokoll zur Sperrung. Zehn Minuten hat die Sitzung gedauert, bei der es um das Verbot der Seite ging. Dabei ist das Gericht formal verpflichtet, alle Materialien zu prüfen, die verboten werden sollen. Auf der Webseite gab es mindestens vier Alben mit einer Spielzeit von jeweils etwa einer Stunde. Sie innerhalb von zehn Minuten zu prüfen, ist schlicht unmöglich.
In diesem Fall gelang es, hinter die verschlossenen Türen zu schauen und zu sehen, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Ich bin mir sicher, dass die anderen Fälle in der Mehrheit genauso ablaufen.
In Ihrem Bericht für 2015 haben Sie geschrieben, die Behörden seien dazu übergegangen, die entwickelten Instrumente zur Druckausübung auf das Internet nun umsetzen. Was heißt das?
Parallel zum Ausweiten der Gründe für das Blocken von Webseiten wurde das Strafmaß für Rechtsbrüche im Internet verschärft. Für bestimmte Netzaktivitäten wurden Paragraphen eingeführt, zum Beispiel wenn es darum geht, die Verletzung der territorialen Integrität des Landes zu propagieren. In einem dieser Prozesse hat das Gericht angeführt, dass es einen Straftatbestand darstellt, die Wörter „Annexion“ und „Okkupation“ in Bezug auf die Halbinsel Krim zu verwenden. Anders ausgedrückt: Diese Wörter wurden für gesetzeswidrig erklärt.
Auch bereits bestehende Paragraphen wurden verschärft, zum Beispiel Paragraph 282 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, zum Schüren von Hass und Feindseligkeit. Außerdem fallen die Urteile schärfer aus. Im Jahr 2015 haben wir 21 Fälle genau verfolgt, in denen Nutzer zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden, plus mindestens zwei Fälle von Zwangseinweisungen auf medizinischer Grundlage. Auch dies ist Freiheitsentzug, der allerdings in einer psychiatrischen Anstalt verbüßt wird und zudem von unbestimmter Dauer ist. Es ist schwer zu sagen, was grausamer ist.
Im Jahr 2015 wurde auch damit begonnen, gewöhnliche Nutzer aktiv zu verfolgen. Zuvor waren das hauptsächlich Fälle, in denen es um die Veröffentlichung rassistischer und nazistischer Videos ging, das täglich Brot der Extremismuszentren. Jetzt aber ist der gewöhnliche Nutzer in Gefahr, wenn er irgendetwas geliked hat oder irgendeiner falschen Gruppe beigetreten ist. Der Fall von Jekaterina Wologshenninowa aus Jekaterinburg (schuldig gesprochen für den Repost proukrainischer Gedichte – М. А.) zeigt dies sehr deutlich.
Der Staat baut darauf, die Nutzer einzuschüchtern. Außerstande alles zu blockieren, versucht er, die Veröffentlichung von Inhalten zu verhindern.
Im Zusammenhang mit den letzten Gesetzesnovellen wie dem Jarowaja-Paket zeigt sich, dass der Staat versucht, dem Nutzer nachzuspüren, Schriftverkehr zu lesen, Gespräche abzuhören. Noch läuft der Konflikt hauptsächlich zwischen Staat und Service-Anbietern ab, die ganz offensichtlich kein Interesse daran haben, dem Staat die Daten ihrer Nutzer zur Verfügung zu stellen, denn hier steht ihr Ruf auf dem Spiel. Es ist unklar, wie sie aus dieser Situation herauskommen. Unterdessen ergreifen die Nutzer diverse Schutzmaßnahmen. So wie sie zuvor gelernt hatten, Sperren zu umgehen, machen sie sich nun mit Verschlüsselungstechniken wie PGP vertraut und geheimen Chats bei Telegram. Es ist so eine Art Wettrüsten.
Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen
Ein paar Monate sind seit der Verabschiedung des Jarowaja-Pakets vergangen, besondere Proteste sind jedoch nicht zu sehen. Könnte das Paket unter öffentlichem Druck aufgehoben werden?
Ich bin mehr als sicher, dass der Protest existiert. Eine solch grobe Einmischung in ihr Privatleben werden die Menschen nicht akzeptieren. Ja, es stimmt, die Leute sind nicht bereit, zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen. Und die Nutzer selbst leiden noch nicht besonders darunter.
Doch bald werden die Preise fürs Internet steigen, weil Rostech den Zuschlag für den Bau von Datenzentren erhalten hat und nun von den Betreibern Geld für die Umsetzung des Jarowaja-Pakets einfordern kann. Oder die Betreiber werden gezwungen sein, zusätzliche Ausrüstung einzukaufen, um die Überwachung der Nutzer zu gewährleisten; diese Ausgaben werden selbstverständlich in die Tarife einfließen. Die Nutzer werden es zu spüren bekommen. Dass der Staat dieses Gesetz zurücknimmt, nur weil die Gesellschaft dagegen ist, damit braucht keiner zu rechnen.
Eher sollte man darauf setzen, dass sie nicht genug Ressourcen haben, um alles umzusetzen. Die ständig ausgeweiteten Kontrollmechanismen werden immer kostspieliger. Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen. Darum hoffe ich, dass diese Gesetze zum größten Teil Papiertiger bleiben.
Wenn schon finanziell nicht machbar, wie sieht es denn technisch aus: Wie realistisch ist es, den gesamten Internet-Verkehr zu entschlüsseln? Davon träumt ja unser Staat.
Mathematisch scheint mir das nicht machbar. Zumindest stehen die technischen Ressourcen, die man dafür aufzuwenden plant, in keinem Verhältnis zum Wert der Informationen, die man abschöpfen kann. Man geht beispielsweise davon aus, dass der Verschlüsselungsalgorithmus, den der Dienst PGP verwendet, nicht gehackt werden kann. Wie soll dann ein Signal abgefangen werden? Höchstens, indem man jedem Nutzer ein Spionageprogramm unterjubelt, das das Signal abfängt, bevor es verschlüsselt wird, indem jeder Tastendruck gespeichert wird. Doch das kann man unmöglich bei allen Nutzern machen.
Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker gefährdet durch Staatsanwälte als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden
Steht denn das Jarowaja-Paket im Einklang mit den internationalen Konventionen, die Russland ratifiziert hat?
In der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es den Artikel 8, der jedem Menschen das Recht auf Achtung der Privatsphäre garantiert. Die Konvention verbietet die massenhafte, flächendeckende Kontrolle der Kommunikation von Bürgern. Zuweilen muss dieses Recht bei einzelnen Bürgern für die Aufdeckung von Verbrechen eingeschränkt werden, doch bedarf es in jedem Fall einer genauen Begründung. Es gibt die Entscheidung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte im Prozess Roman Sacharow gegen Russland, für den das Gericht Rahmenbedingen und Praxis der Überwachung von Mobilfunknutzern in Russland analysiert hat und zu dem Schluss kam, dass es in der russischen Gesetzgebung keine Garantien gegen Missbrauch gibt und dass die gerichtliche Kontrolle nicht effektiv ist.
Wir haben die Statistik des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation eingesehen und so die Anzahl der genehmigten Anträge zum Abhören durch Exekutivbehörden festgestellt. Angefangen im Jahr 2007 haben die russischen Gerichte 4,5 Millionen solcher Genehmigungen erteilt. 97 bis 98 Prozent dieser Anträge der Exekutivbehörden wurden bewilligt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn es gibt in der Gesellschaft keinerlei Kontrollmechanismen für die Nutzung von SORM. Auch das Gericht hat keine Kontrolle darüber, wie seine Genehmigung für das Abhören umgesetzt wurde und ob das Abhören nach Ablauf der Genehmigungsdauer eingestellt wurde. Das System, das in Russland üblich ist, entspricht nicht den Anforderungen der Konvention, auch dies wurde vom Europäischen Gerichtshof festgestellt.
Andererseits haben die Vereinten Nationen im Mai 2015 ein Papier zu Regeln der Informationsfreiheit verabschiedet, aus dem hervorgeht, dass das Recht auf Anonymität im Internet sowie die Verschlüsselung von Daten ein unabdingbares Menschenrecht darstellt. In dieser Hinsicht widerspricht das Jarowaja-Paket natürlich den für Russland verbindlichen internationalen Prinzipien.
Sollte es denn überhaupt eine Kontrolle des Internets geben und wie müsste eine entsprechende Gesetzgebung aussehen?
Ich denke, lieber keine Kontrolle über das Internet als die, die wir jetzt haben. Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker durch die derzeitigen Netzaktivitäten der Staatsanwälte gefährdet als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden. Zweifelsohne muss die Gesetzgebung zur freien Meinungsäußerung reformiert werden. Da muss sehr vieles geändert werden. Zunächst ist festzuschreiben, dass Einschränkungen des Informationszugangs ausschließlich über den Gerichtsweg erfolgen können. Wird über die Sperrung von Sites verhandelt, müssen die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte unbedingt hinzugezogen werden. Die Antiextremismus-Gesetzgebung muss ganz offensichtlich geändert werden, um das Prinzip aufzuheben, dass sich ein Staatsanwalt in irgendeinem Kaff ans Bezirksgericht wenden und etwas verbieten kann, während die Betroffenen zweitausend Kilometer entfernt leben.