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Ein Theaterstück vor Gericht

Ein Moskauer gericht hat die beiden Theatermacherinnen Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch am 8. Juli 2024 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Ihr Theaterstück Finist jasny sokol (dt. Finist, heller Falke) soll nach Auffassung des Gerichts Terrorismus gerechtfertigt haben. Es basiert auf einem klassischen russischen Märchen und handelt von russischen Frauen, die über das Internet mit Männern des IS in Kontakt kommen, nach Syrien reisen und dort heiraten. Swetlana Petriitschuk hatte das Stück auf der Grundlage von Gerichtsakten aus Verfahren gegen solche Frauen geschrieben. Shenja Berkowitsch hatte es inszeniert. Die Uraufführung war 2020.

Im Frühjahr 2022 erhielt es den größten nationalen Theaterpreis, die Goldene Maske (Solotaja maska). Swetlana Petriitschuk wurde im Rahmen der Goldenen Maske außerdem persönlich für das beste dramatische Werk ausgezeichnet. 2023 zeichnete die Novaya Gazeta die Inszenierung mit dem Kammerton-Preis aus. In der Begründung der Jury heißt es: „… für die Wahrheit im Leben und auf der Bühne.“ Zum ersten Mal wurde der Preis nicht an Journalisten verliehen – und außerdem in Abwesenheit der Preisträgerinnen. Denn die saßen zu diesem Zeitpunkt bereits in Untersuchungshaft. 

Mit Finist wurde erstmals in Russland ein Theaterstück vor Gericht gebracht. Das Gericht stützte sich auf Paragraph 205.2 Absatz 2 des russischen Strafgesetzbuchs. Darin geht es um „öffentlichen Aufruf zu terroristischen Aktivitäten, öffentliche Rechtfertigung des Terrorismus oder Propaganda für den Terrorismus“.

Entlastende Aussagen von Zeugen sowohl der Verteidigung als auch der Anklage wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen stützte sich die Anklage auf ein „destruktologisches Gutachtens“ des Religionswissenschaftlers Roman Silantjew, der ein entsprechendes Fach der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität lehrt. „Destruktologie“ ist weder international noch in Russland als Wissenschaft anerkannt. dekoder-Gnosistin Henrike Schmidt hat gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Verbands der deutschen Slavistik  ein Gegengutachten erstellt. 

Die Slavistinnen und Slavisten zeigen als Experten für Literatur und damit für fiktionale Texte, wie in dem Gutachten die Aussagen von literarischen Figuren willkürlich als solche der Autorin beziehungsweise der Regisseurin missinterpretiert werden. Sie unterstreichen, dass die „Destruktologie“ eine Pseudowissenschaft ohne ausformulierte Methode ist. Das wurde im Juni 2023 sogar vom Zentrum für gerichtliche Expertisen des russischen Justizministeriums in einer schriftlichen Stellungnahme bestätigt.

Zu Darstellung des behaupteten Straftatbestands veröffentlicht dekoder einen Ausschnitt aus dem Theatertext in deutscher Übersetzung.

Source dekoder
Shenja Berkowitsch und Swetlana Petriitschuk werden der „Rechtfertigung von Terrorismus“ beschuldigt / Foto © Stanislav Krasilnikov/SNA/imago images 

PERSONEN

MARJUSCHKA (steht stellvertretend für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre [vom IS – dek] angeworben wurden)
RICHTERIN
AUGUSTINUS VON HIPPO
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]

Dramaturgische Notiz

Zum Märchen

Zentral für das Stück ist das russische Zaubermärchen Die Feder von Finist, dem lichten Falken aus der Märchensammlung Narodnyje russkije skaski (1855–1863; Russische Volksmärchen) von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew sowie Finist, heller Falke von Nikolaj Schestakow (1894–1974). Das Märchen gehört zur russischen Volksliteratur. Es ähnelt in den Motiven am ehesten dem Märchen der Brüder Grimm Das singende, springende Löweneckerchen.

Die jüngste von drei Töchtern wünscht sich von ihrem Vater eine Feder von Finist, dem hellen Falken. Als die jüngste Tochter die Feder abends fallen lässt, verwandelt sie sich in einen Zarensohn. Ihre Schwestern sind eifersüchtig und verletzen den Falken, der daraufhin fortfliegt und der jüngsten Tochter nur noch zurufen kann, dass sie hinter dreimal neun Ländern nach ihm suchen soll, dass sie drei Paar eiserne Schuhe durchlaufen, drei eiserne Wanderstäbe durchbrechen und drei eisenharte geweihte Brote essen muss, bevor sie ihn finden kann. Sie macht sich auf den beschwerlichen Weg, um ihn zu finden und muss viele Hindernisse überwinden, bis beide endlich heiraten können.

Zu den Namen [Name gelöscht]

Die Autorin hat sich entschieden, den Angeklagten keine Namen zu geben, die Personen heißen Angeklagte oder [Name gelöscht]:

Swetlana Petriitschuk: „[Name gelöscht] ist eine häufig verwendete Formulierung in gerichtlichen Entscheidungen, die in Russland veröffentlicht werden, wenn die Ermittlungen nicht vollständig abgeschlossen sind. Solche Formulierungen finden sich häufig in Sätzen über Fälle, in denen Terrorismus unterstützt wird – einschließlich den realen Dokumenten, die im Stück vorkommen. Diese Formulierung ist eine Metapher für die jungen Frauen selbst, die ihren richtigen Namen verweigern, zu einer anderen Religion konvertieren und, beeinflusst von neuen Ideen, ihre Persönlichkeit auslöschen.“

Marjuschka steht stellvertretend für alle Angeklagten, sie steht für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre angeworben wurden. Die Gerichtsurteile, die in dem Stück genannt werden, sind dokumentarisch und basieren unter anderem auf der Geschichte der damals neunzehnjährigen Warwara Karaulowa, die vom IS angworben und von Interpol zunächst als vermisst gesucht wurde, später als Zeugin vernommen und dann selbst angeklagt wurde.

Zum dreißigsten Königreich

Der Ausdruck wird synonym für „In einem fernen Land“ oder „Hinter den sieben Bergen“ gebraucht. Im Russischen ist er zugleich ein Synonym für den IS und wird immer mit dem Hinweis versehen, dass die Organisation in Russland verboten ist.


1
Anweisung №1:
Wie der Ritus der islamischen Ehe, Nikāḥ, über Skype durchzuführen ist

Viele islamische Wissenschaftler erkennen die islamische Ehe, Nikāḥ, über Skype nicht an. Dies wird mit Stellen aus der Schrift „Rawzat at-Talibin“ begründet:

Das Angebot und die Annahme von Nikāḥ müssen in Anwesenheit von Zeugen im selben geografischen Raum erfolgen. „Wenn eine Person die Worte der feierlichen Eheschließung an jemanden geschrieben hat, der nicht anwesend ist, dann wird eine solche Ehe nicht als gültig angesehen ..., da sie unter eine Kategorie fällt, die als Kinayat bekannt ist, was ein indirekter Ausdruck ist. Und die Ehe durch indirekte Wörter wird nicht als gültig angesehen. Die technischen Neuheiten unserer Zeit eröffnen allerdings ganz andere Möglichkeiten, als die erste Generation von Muslimen überhaupt erahnen konnte. Grundlegend bei der Eheschließung ist die Anwesenheit des Bräutigams, der Braut und der Zeugen; die Zeugen sollen den Heiratsantrag hören können und bestätigen, dass sie ihn gehört haben. Wenn die eheschließenden Parteien und die Zeugen an einer gemeinsamen Skype-Sitzung teilnehmen, wenn die Zeugen die Braut und den Bräutigam „live“ sehen und gleichzeitig die Rede der beiden hören, ist eine solche Eheschließung gültig, da Schummeln oder blindes Vertrauen in eine Stimme ausgeschlossen werden können. Die Verfahrensweise des Online-Ritus ist äußerst einfach. Am vereinbarten Tag wird in unserem Büro ein Notar für Eheangelegenheiten anwesend sein. Die Zeremonie findet in einer geschmückten Empfangshalle statt, wo Sie und Ihr Bräutigam auf einem Bildschirm mit einer Diagonale von mindestens 72 cm zu sehen sein werden. Die Halle ist mit technischen Neuheiten für Ton- und Videoübertragung eingerichtet, so dass Sie ohne jegliche Hindernisse die nötigen Worte austauschen können. Nach der Zeremonie erhalten Sie ein Zertifikat und, falls erwünscht, das Video der Frontkamera. Bei Fragen wenden Sie sich bitte telefonisch an unsere Firma [Name gelöscht].

2

RICHTERIN
Angeklagte, unter welchen Umständen haben Sie versucht, unbefugt die Grenze der Türkei und der Syrischen Arabischen Republik zu überqueren und ins Territorium zu gelangen, welches von der in Russland verbotenen terroristischen Vereinigung kontrolliert wird?

ANGEKLAGTE
Es war neben der Stadt Batman. Die Kurden nennen sie Elich. Wir fuhren lange mit dem Auto. Der Innenraum roch nach Benzin, alle Türgriffe waren abgesprengt, neben mir saßen zwei Frauen, bei einer ist das Kind müde vom Weinen eingeschlafen. Es wurde dunkel. Der Fahrer stoppte, zeigte in Feldrichtung, sagte: „Dahin gehen wir“. Es war nichts zu sehen, ich musste pinkeln. Das Kind begann wieder zu weinen. Die Grillen schrillten. Der Rock hakte an den Dornen. Ich fürchtete, auf eine Schlange zu treten. Damit ich mich nicht so furchtbar fühlte und um mich zu beruhigen, wiederholte ich den Abzählreim „Aten Baten, ging´n Soldaten“, – kennen Sie den? Der Fahrer sagte, uns treffe ein bestimmter Mann. Deshalb freuten wir uns, als die Lichter auftauchten und der Hund bellte. Aber es war die kurdische Streife. Sie begannen zu schreien, alle sollten sich auf den Boden hinlegen, sie stießen uns mit den Gewehrläufen, ich fiel hin und mein Gesicht wurde zerkratzt. Wir wurden verhaftet.

RICHTERIN
Sie sind nach Syrien gefahren, um eine Terroristin zu werden?

ANGEKLAGTE
Ich bin hingefahren, um zu heiraten.

RICHTERIN
Wen?

ANGEKLAGTE
Finist. Wlad. Karim. Nadir – ich kenne seinen Namen nicht. Aber er ist mein Zukünftiger, mein Glück, mein heller Falke.

RICHTERIN
Unter welchen Umständen haben Sie beide sich kennengelernt?

ANGEKLAGTE
Er hat mir in der Gruppe Spartak auf Vkontakte geschrieben. Er hat gesagt, er ist 21 und Nationalist. Wir? Wir haben über das Leben und über Fußball gesprochen. Ich ging mit meinem Hund etwas früher raus, sperrte mich dann im Zimmer ein, machte den Laptop an, und ein Supertyp erschien am Bildschirm. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.

RICHTERIN
Wegen Fußball?

ANGEKLAGTE
Wegen dem Schaumkuchen. Er hat nie über seine Familie gesprochen, aber einmal hat er gesagt, als er klein war, hat seine Mutter für ihn immer Schaumkuchen gebacken. Und seine Frau soll ihm auch Schaumkuchen backen. Ich habe mir dann vorgestellt, wie ich für ihn Schaumkuchen backe, das Rezept habe ich im Internet gefunden. Ich habe mich dabei so gut gefühlt. Und da habe ich verstanden, dass wir beide seelenverwandt sind.

RICHTERIN
Was wissen Sie noch über ihn?

ANGEKLAGTE
Da, wo er geboren wurde, ziehen die Frauen Ende März ihre Stiefel aus und ihre Schuhe an. Es bedeutet, dass Frühling ist. Dass alle Männer aus seiner Familie mal graue, mal grüne Augen haben, abhängig vom Wochentag. Dass er ein Held ist, und dass ich ein Nichts bin, er mich aber so liebt, so minderwertig wie ich bin. Vorgestellt hat er sich unterschiedlich. Ein Videobild von ihm habe ich nie gesehen. Hat er nicht geschickt, weil die Kamera lügt und das Herz – nicht. Finist hat mir verboten, mit anderen Männern zu sprechen, und ich habe verstanden, dass er es ernst meint mit mir.

Einmal hat er mich geblockt dafür, dass ich einen Wanja in Vkontakte als Freund bestätigt habe. So sind drei Jahre vergangen. Dann begann er über den Islam zu sprechen. Am Anfang nur ab und zu und danach immer häufiger. Über andere Dinge zu sprechen, weigerte er sich. Er erklärte mir alles so schön, und alles war für mich interessant. Besonders über die Frauen. Er sagte, dass die Rechtlosigkeit der Frauen im Islam nur ein Klischee sei, dass eine Frau immer von ihrem Mann behütet wird und wenn sie arbeiten möchte – dann arbeitet sie, wenn nicht, dann nicht, und der Mann soll sie umsorgen. Ich mochte diese Ideen. Und dann habe ich mich dafür entschieden, mich zu seiner Religion zu bekehren. Er sagte, dafür bräuchte ich niemanden, in die Moschee müsse ich auch nicht gehen, man müsse lediglich spezielle Worte sprechen und eine Waschung in einer Waschschüssel machen. Ich habe mir einen neuen Namen ausgedacht, habe beschlossen, dass ich [Name gelöscht] genannt werde. Er hat es genehmigt.

RICHTERIN
Wie sind Sie zu dem Entschluss gekommen auszureisen?

ANGEKLAGTE
Finist mein Falke verschwand auf einmal – kein Brief, keine Nachricht. Ich habe kiloweise Schaumkuchen gegessen, bin nicht mehr mit meinem Hund Gassi gegangen, habe fünf Mal am Tag gebetet und sündhafte Gedanken vertrieben, er tauchte aber nicht mehr auf. Und nach einigen Monaten kam eine Nachricht von einem neuen Profil, in dem stand, dass er sich in das Dreißigste Königreich aufgemacht hat, um für sein Glauben zu kämpfen. Er begann, mich einzuladen. Sagte, ich würde seine Frau sein, ich würde behütet sein, ich würde viele Freundinnen haben und das Leben würde schön sein, mit dem Krieg hätte ich nichts zu tun. Er sagte, im Dreißigsten Königreich lebten die echten Muslime, kein Trinken, kein Rauchen, die Leute behandelten einander gut, ohne Ausnahme. Er hat gefragt, ob ich ihn liebe. Er hat gesagt, wenn eine ihn liebt, findet sie ihn, und wenn sie dabei drei Paar eiserne Schuhe auftragen, drei eiserne Wanderstäbe zerbrechen, drei eiserne Kappen abreißen und drei eisenharte geweihte Brote essen müsse.

RICHTERIN
Und da haben Sie beschlossen, sich auf den Weg ins Dreißigste Königreich zu machen?

ANGEKLAGTE
Ich habe mir drei Paar eiserne Schuhe, drei eiserne Wanderstäbe, drei eiserne Kappen bestellt, habe 20 Dollar, die von meinem Geburtstag übrig waren, aus der Spardose genommen. Am vereinbarten Tag wurde ich kontaktiert, mir wurde das Flugticket geschickt und gesagt, ich solle abreisen. Ich hab meiner Mutter geschrieben, dass ich in die Uni fahre, habe einen zweiten Rock in die Tasche gepackt, und neue Dessous auch – die hatte ich schon länger mal bei Intimissimi für eine besondere Gelegenheit gekauft – und habe mich auf den Weg über Berg und Tal gemacht, um den ersehnten Finist, den hellen Falken, zu suchen. Im Flughafen von Istanbul, nach der Passkontrolle, Tuch übergezogen, festgesteckt, Handy angeschaltet – und da waren bereits alle weiteren Anweisungen.

3
Anweisung № 2:
Wie ein Hidschab richtig anzuziehen ist

Sie brauchen ein Tuch viereckiger Form. Wählen Sie ein Tuch aus Satin oder Baumwolle für warme und heiße Tage und ein dichteres Wolltuch für kalte Tage. Sie benötigen auch zwei Haarklammern oder Haarnadeln. Falten Sie die obere rechte Ecke mit der unteren linken Ecke. So wird das Tuch in Form eines Dreiecks gefaltet. Legen Sie das Tuch über den Kopf. Zwei Spitzen sollen auf die Schultern fallen. Heften Sie das Tuch unter dem Kinn fest. Öffnen Sie den Mund in der Weise, als ob Sie ein „O“ sagen, so ist es Ihnen möglich, Ihren Kiefer zu bewegen, ohne dass der Hidschab verrutscht. Legen Sie die linke Spitze des Tuches nach rechts um und die rechte Spitze nach links. Vergewissern Sie sich, dass der Hidschab festsitzt und nicht rutscht. Denken Sie daran, dass die Haare und der untere Teil des Kinns nicht zu sehen sein sollen: dieser Bereich gehört zum Gesicht und soll folglich bedeckt bleiben, genau wie der Hals. Die Frauen, deren Hals und Haare zu sehen sind, sind Sündige, da sie von fremden Männern gesehen werden.

ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
Ich bin in der Familie eines Chirurgen aufgewachsen, am Gymnasium hatte ich Mathe und Physik als Schwerpunkt, ich habe Punk und Hardcore gehört und die Filme von DC und Marvel geliebt. Und danach habe ich den Koran gelesen, und es wurde zum Schock: Dort steht geschrieben, dass unser Weltall sich ausdehnt, dass unser Himmel und unsere Erde am Anfang eine einheitliche „Wolke“ waren und danach getrennt wurden, dort ist der Ursprung der Fötus-Entstehung und noch vieles andere. Und ich habe gespürt, dass diese Lehre keine Schöpfung eines Menschen sein kann, dass es etwas unvergleichbar Größeres ist. Auf diese Weise nahm ich den Glauben an, habe die Schahāda gesprochen, bin Muslima geworden, habe begonnen den Salāt zu lesen. Die Frage nach dem Hidschab habe ich wie die Sorge des Schöpfers über mich wahrgenommen. Ich begann zu beten, damit der Schöpfer mir helfen würde mich so zu verschleiern, dass es ein Segen für mein jetziges Leben und für das nächste nach dem Tod werde.

ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
In einem Hidschab fühle ich mich unter göttlicher Schirmherrschaft, geborgen vor der äußeren Hektik. Er gibt mir eine Empfindung von Einheit, von Ruhe. Keine Sehnsucht danach, dass der Wind durch mein Haar weht. Selbst im Sommer juckt die Kopfhaut nicht. Manchmal fahre ich U-Bahn und es scheint mir ein Wahnsinn, dass die Frauen sich zeigen. Alle Religionen sagen doch, dass eine Frau wie in einem Kokon sein muss, umhüllt sein muss. Der Hidschab schützt Frauen nicht nur vor fremden Blicken, sondern auch vor sich selbst. Eine Frau ist eben ein schwaches Wesen, von ihr geht die meiste Verwirrung und das Schlechte aus, darum obliegt uns eine große Verantwortung – wir sollen unsere Schönheit lieber nicht zur Schau stellen.

ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
Hätte ich figurbetonte Kleidung an, würde ich mich wie eine Diebin fühlen. Ich hätte das Gefühl, meinem Mann etwas zu stehlen und es einem Fremden zu schenken, einem, der in keiner Weise Sorge um mich getragen und mir nie einen Cent gegeben hat. Der Hidschab schützt vor den Blicken der Männer, vor denen, die dich wie ein Stück Fleisch anschauen, und verbirgt dich vor den Sünden der Welt. Der Hidschab hat mich glorifiziert und nicht erniedrigt. Falls ich eine Tochter bekomme, erkläre ich ihr von Kindheit an, dass ein Hidschab eine Verpflichtung ist, die ihr selbst zugute kommt.

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Anweisung № 3:
Wie man eine Halal Torte backt

Damit Backwaren den Halal-Anforderungen entsprechen, vergewissern Sie sich, dass bei der Zubereitung keine alkoholischen Zutaten verwendet werden. Auch geringe Mengen von Alkohol, zum Beispiel wenn der Fondant damit bestrichen oder Lebensmittelfarbe verdünnt wird, sind verboten und die Torte darf nicht verzehrt werden. Oft wird Gelatine verwendet, die aus Schweineknorpel zubereitet wird, was sie auch verboten macht. Auf dem Produkt sollen keine Bildnisse lebender Kreaturen angebracht sein. Wichtig ist zudem, dass während jeder Essenszubereitung der Name des Schöpfers erwähnt wird.

RICHTERIN
Nach dem bisherigen Ermittlungsstand des Strafverfahrens hat das Tljaratinsker Bezirksgericht bezüglich der Angeklagten, geboren 1990, gebürtig und wohnhaft in der Siedlung Wizjatli, Kreis Zuntin, wegen des Verdachts einer Straftat gemäß Artikel 208 Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

a) die Angeklagte habe eine die Mitglieder einer illegalen, bewaffneten Vereinigung fördernde Handlung verübt, unter folgenden Umständen:

aa) Im November 2011, ein genaueres Datum und die Zeit wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt, kam die Angeklagte zu Ihrer Schwester zu Besuch. In derselben Nacht, gegen 23 Uhr, kamen zu dem oben genanntem Haushalt vier Mitglieder der illegalen, bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya, und zwar [Name gelöscht]. Aus eigenem Antrieb, mit dem Ziel, die Tätigkeit der Vereinigung zu unterstützen, habe die Angeklagte den obengenannten Mitgliedern der Vereinigung Zuntinskaya zugesagt, Hilfe zu leisten. Und zwar habe sie für sie den Tisch gedeckt: zwei Brote, acht Stücke Käse, eine Dose Salzgurken. Aus persönlichen religiösen Motiven, im Bewusstsein ihrer rechtswidrigen Tätigkeit, buk die Angeklagte für die oben genannten Mitglieder der illegalen bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya einen Kuchen, den sie dann verzehrten.

Rezept des Halal Schokoladenkuchens mit Mandeln und kandierten Früchten

Um den Kuchenboden zuzubereiten, Mehl, Butter, Zucker und ein Ei zufügen, alles verrühren, den Teig mit einer Folie umhüllen und für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen. Den Ofen auf 190 °С anheizen, den Teig ausrollen, in eine Form legen, den Rand drei Zentimeter nach oben einrollen, dann 30 Minuten im Ofen backen. Für die Füllung Nelken in einer Kaffeemühle oder einer Mühle zermahlen, die Schokolade zerbröckeln, Butter und Schokolade in einem Wasserbad schmelzen lassen. Die Mandeln und einen Teil der kandierten Früchte zerkleinern, der Schokocreme zufügen, verrühren. Eier mit Zucker schlagen, mit der Schokocreme verrühren. Die Torte zwei Stunden nach der Zubereitung servieren. Ein Stück Halal-Torte aus Mürbeteig, gefüllt mit einer Schoko-Mandel-Creme und verfeinert mit kandierten Früchten ist ein Liebesbeweis und eine Aufmerksamkeit für Angehörige und Freunde.

RICHTERIN
In tatsächlicher Hinsicht legt das Gericht der Angeklagten im Wesentlichen folgendes zur Last:

a) Die Angeklagte hat vorsätzlich eine nach Artikel 208, Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation verbotene Straftat begangen – Unterstützung einer illegalen, bewaffneten Gruppierung. Mit Rücksicht auf den Charakter und den Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit der begangenen Tat, auf den Charakter und auf den faktischen Grad der Mitwirkung der Angeklagten, die Bedeutung dieser Mitwirkung zur Durchsetzung der kriminellen Ziele der Straftat, beschließt das Gericht:

aa) es ist von einer fehlenden Besserungsaussicht auszugehen, was die Freiheitsstrafe unentbehrlich macht
bb) die Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in der Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt.

5.
RICHTERIN
Ist es Ihnen Recht, wenn wir Sie weiter Marjuschka nennen?

MARJUSCHKA
Ich brauche mich nicht daran zu gewönnen.

RICHTERIN
Was planten Sie im Dreißigsten Königreich zu tun?

MARJUSCHKA
Zu kochen. Kleidung zu waschen. Eine Frau zu sein, wie der Schöpfer und meine Physiologie es befehlen. Und den Schaumkuchen zu backen, nun das habe ich bereits gesagt.

RICHTERIN
Gab es denn in Ihrem Heimatland niemanden daheim, für den Sie Kleidung waschen konnten?

MARJUSCHKA
In meinem Heimatland gibt es keine Männer, nur Steppenroller. Pflanzen ohne Wurzeln, vom Wind getrieben. Keine Überzeugungen, nur Halbherzigkeiten. Finist dagegen ist das Ideal eines Mannes, das äußerst schwierig zu finden ist in der modernen westlichen Gesellschaft, er ist die Gestalt eines kräftigen, furchtlosen Mannes, der bereit ist zu töten und für seine Ideale zu sterben.

RICHTERIN:
Nehmen wir also Folgendes an. Sie sind am Istanbuler Flughafen angekommen. Sie sind durch die Ebenen, durch den dunklen Wald und über hohe Gebirge gewandert. Der fröhliche Gesang der Vögel erfreute Ihr Herz, die Bäche wuschen Ihr Gesicht, die dunklen Wälder grüßten Sie. Niemand konnte Marjuschka etwas zuleide tun: Die grauen Wölfe, die Bären, die Füchse – alle Tiere sind ihr zugelaufen. War das alles so?

MARJUSCHKA:
Fast. Am Flughafen habe ich ein Taxi genommen. Dem Fahrer habe ich die Nummer gegeben, die mir per WhatsApp noch während des Fluges zugesandt wurde. Der Taxifahrer hat die Nummer gewählt und ihm wurde erklärt, wohin zu fahren ist. Er wollte zunächst nicht, doch es wurde ihm ausreichend Geld versprochen. Während er mich gefahren hat, habe ich meiner Mutter ein SMS gesandt, damit sie nicht vergessen würde, mit dem Hund rauszugehen. Bei der Einfahrt zum Haus hat mich ein Tschetschene empfangen, meine Tasche hat er nicht genommen, die habe sie selbst aus dem Kofferraum geholt. Der Taxifahrer ist sehr schnell weggefahren, ich glaube nicht, dass er nach Geld gefragt hat. Der Tschetschenen-Bruder hat gesagt, ich sei jetzt unter Gleichgesinnten und hat mich in die Wohnung geführt. Hinter der Tür waren viele Schuhe und in der Wohnung war es total still. Die Sofas waren durchgelegen, es war heiß und den Ventilator durfte man nicht benutzen. Es roch nach Erbsen und nach gewaschener Wäsche. In der Wohnung waren sechs Frauen, viele mit Kindern. Aus Russland, aus Kasachstan und auch aus Aserbaidschan. Mir wurde gesagt, meine SIM-Karte sei wegzuwerfen und Surfen im Internet sei verboten. Das Verlassen der Wohnung war untersagt. Ein Mädchen aus Baku hat die ganze Zeit geweint und mir war auch sehr nach Weinen zumute, aber ich hatte Angst, dass es jemand dem Finist erzählt. Zum Schlafen haben wir uns auf den Boden gelegt – alle Frauen in einem Zimmer, und die Kinder in der Mitte. Ich habe geträumt, dass ich an der Uni in der Philosophie Vorlesung sei. [...] 
 

Ende des Textausschnitts. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Drei Masken Verlags

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Frauenstraflager

Absichtlich die Regeln des Straflagers zu überschreiten? Manche Frauen trauen sich dies, um wenigstens einige Tage in einer Straf-Einzelzelle für sich sein zu können. Beate Fieseler über fehlende Privatsphäre, harte Arbeit und andere Widrigkeiten, die den Alltag in Frauenstraflagern prägen. 

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Tschetschenien

Im Laufe der Geschichte war das Gebiet des heutigen Tschetscheniens von verschiedenen Imperien beherrscht und unterlag dabei wechselnden kulturellen, religiösen und politischen Einflüssen.1 Die Wainachen, eine ethnologische Gruppe, zu der Tschetschenen und Inguschen gehören, brachten keine eigene Geschichtsschreibung hervor. Daher beruht die Quellenlage vor dem 19. Jahrhundert vor allem auf der Rekonstruktion der Geschichte anhand archäologischer Funde. Vom 11. bis zum 13. Jahrhundert christianisierte Georgien einen Teil der wainachischen Bevölkerung, die bis dahin einer Naturreligion anhing.2 Nach der mongolischen Eroberung Ende des 14. Jahrhunderts begann der allmähliche Übertritt zum Islam, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog.

Kolonialisierung

Die Beziehungen zwischen Russen und Tschetschenen sind geprägt von Kolonialisierung und reichen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Damals trafen die Kosaken Iwans des Schrecklichen mit der Bevölkerung der Siedlung Tschetschen-Aul zusammen. Nach dem Namen dieser Siedlung wurden die Bewohner der Region in der Folgezeit Tschetschenen genannt. Selbst nennen sie sich Nochtschi. 
Während der Smuta zog sich Russland zunächst weitgehend aus dem Kaukasus zurück, bevor es 1739 den Kampf gegen die Bergvölker eröffnete. Die eigentliche Kolonialisierung begann aber 1817 mit dem Kaukasuskrieg. Russland gründete 1818 die Festung Grosnaja (dt. die Furchtgebietende, 1870 ging daraus die heutige Hauptstadt Grosny hervor) und stellte sich den Truppen von Imam Schamil – ein Dagestaner, der von 1834 bis 1859 den militärischen Widerstand anführte und dabei auch brutal gegen Stämme vorging, die ihm ihre Loyalität verweigerten. Er wurde später deshalb zur nicht unumstrittenen legendären Identifikationsfigur für Tschetschenen. Der Krieg dauerte bis 1864, viele Historiker beschreiben den Widerstand als den vehementesten in der russischen Kolonialgeschichte. Hunderttausende Menschen starben, schätzungsweise über eine halbe Million Menschen wurden vertrieben. 

In dieser Zeit ging Tschetschenien in die russische Literatur ein – etwa bei Alexander Puschkin, Michail Lermontow oder Lew Tolstoi. Ähnlich wie im Westeuropa dieser Zeit entstanden dabei orientalistische Narrative, die zwischen Romantizismus und Überlegenheitsgefühl schwankten: Kaukasier galten darin einerseits als eine Art „edle Wilde“, andererseits aber auch als solche „Wilden“, die es zu „zivilisieren“ gilt. Dieser Orientalismus führte bei vielen in Russland zur Herausbildung einer Distinktion: Kaukasier wurden zu den „Anderen“.3 
  

Verfolgung und Diskriminierung

Im Ersten Weltkrieg kämpften tschetschenische und inguschische Heere schon zusammen auf der Seite Russlands. Doch nach der Oktoberrevolution proklamierte die Bergrepublik im Mai 1918 ihre Unabhängigkeit. Im März 1920 eroberte die Rote Armee Grosny. Tschetschenien wurde sowjetisch und zusammen mit Inguschetien in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert – Gorskaja ASSR. 
In den folgenden Jahrzehnten gab es vereinzelt Aufstände gegen die Besatzungsmacht, die stets niedergeschlagen wurden. Wie auch in der übrigen Sowjetunion wurde zudem die religiöse Infrastruktur weitgehend zerstört, auch der Klerus wurde verfolgt.

Aus der 1818 gegründeten Festung Grosnaja ging Tschtscheniens heutige Hauptstadt Grosny hervor / Foto © Alexxx Maleev/flickrWährend des Großen Vaterländischen Krieges war ein Teil des Kaukasus von deutschen Truppen besetzt. Stalin diente dieser Umstand als Vorwand, mehrere kaukasische Völker wegen ihrer teilweisen Kollaboration mit den Faschisten kollektiv zu bestrafen. Am 23. Februar 1944 begann die nahezu vollständige Deportation von fast 500.000 Tschetschenen und Inguschen in Viehwaggons nach Zentralasien. Zehntausende überlebten die Deportation und die folgenden Jahre der Verbannung nicht. Die Republik wurde am 7. März 1944 aufgelöst, ihre Geschichte umgeschrieben, nationale Denkmale und Archive vernichtet und das entvölkerte Land mit Menschen aus anderen Regionen besiedelt. 
Diese Verfolgung trug letztendlich aber „zur Schärfung eines ‚ethnischen‘ Bewußtseins der Tschetschenen bei. Die Gewalt, die ihnen angetan worden war, wurde unter dem Schlagwort des ‚Genozids‘ zum Kristallisationspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses.“4 

Obwohl der Oberste Sowjet der UdSSR 1957 die Verbannung aufhob und die Rückkehr der Deportierten erlaubte, wurden Tschetschenen auch in der wiederhergestellten Tschetschenisch-Inguschischen Sowjetrepublik diskriminiert. Dies betraf auch die Bereiche Bildung und Arbeit, so waren die wichtigsten Ämter wesentlich von Vertretern der slawischen Elite dominiert. Wegen mangelnder Verdienstmöglichkeiten nahm in den 1980er Jahren die Arbeitsmigration nach Südrussland, die beiden Hauptstädte  und in die Erdölgebiete Sibiriens zu. Dadurch entstand in der Russischen Sowjetrepublik eine große tschetschenische Diaspora.

Erster Tschetschenienkrieg

Nach dem gescheiterten Augustputsch gegen Gorbatschow nutzte der tschetschenische General Dschochar Dudajew das Machtvakuum der Perestroika und stürzte die lokale Führung in Grosny. Im November 1991 erklärte er die Unabhängigkeit Tschetscheniens. 
Dudajews Unterstützung in der Gesellschaft war gering, um so mehr, als er die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen konnte. Verschiedene Lager stritten um die Macht, Moskau unterstützte die Opposition mit dem Ziel, Dudajew zu stürzen und Tschetschenien wieder in den russischen Einflussbereich zu bringen. Es begann ein Propagandakrieg, der auf der einen Seite die Erinnerung an die traumatischen Kolonisationserfahrungen reaktivierte und auf der anderen Seite auf die territoriale Einheit Russlands, die Menschenrechtsverletzungen des Dudajew-Regimes und die drohende Gefahr für die innere Sicherheit Russlands setzte. 
Dies war eine der Ursachen für den Ausbruch des Konflikts: Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, der Erste Tschetschenienkrieg begann. Aus dem geplant schnellen Sieg und der Absetzung Dudajews wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten bei Straßenkämpfen. 
Grosny wurde in Schutt und Asche gebombt, zehntausende Zivilisten, darunter ein hoher Anteil an russischer Bevölkerung, verloren ihr Leben. Die tschetschenischen Kämpfer verließen erst am 23. Februar 1995, dem Jahrestag der Deportation von 1944, die Hauptstadt und stellten sich so symbolisch in die Tradition des Widerstandes gegen die Kolonialmacht Russland. 
Bis März 1995 gelang es den Moskauer Streitkräften, die Kontrolle über Grosny und den nördlichen Landesteil zu gewinnen. Im April 1996 wurde Dudajew durch einen gezielten Raketenangriff von russischer Seite getötet. Doch der Vormarsch stockte, und schon im August 1996 mussten russische Truppen Grosny aufgeben. Russland war gezwungen, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen und die Truppen zurückzuziehen. Der Erste Tschetschenienkrieg endete. 

Zweiter Tschetschenienkrieg

Im Januar 1997 wurde Aslan Maschadow in den ersten freien Wahlen zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Russland erkannte die Wahl an, und im Mai unterzeichneten Jelzin und Maschadow einen Friedensvertrag. 
Maschadows Machtposition im kriegszerstörten Land war schwach, zeitweise gab es mehr als 300 Kampfeinheiten, die nicht seinem Befehl unterstanden. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen religiös-extremistischen Kräften und Maschadows Anhängern. Die Ende der 1980er Jahre begonnene Auswanderung der nicht-tschetschenischen Bevölkerung verstärkte sich nun wegen der labilen Sicherheitslage in der Republik zu einem Massenexodus.
Im August/September 1999 drangen Rebellen unter Schamil Bassajew und Emir Ibn al-Chattab nach Dagestan ein, überfielen mehrere Bergdörfer und riefen eine Islamische Republik aus. Kurze Zeit später verübten Unbekannte mehrere Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten, denen hunderte Zivilisten zum Opfer fielen. Viele russische Medien legten die Anschläge sofort Tschetschenen zur Last. Daraufhin folgte eine beispiellose antitschetschenische Hetzkampagne. Von Anfang an gab es jedoch Hinweise auf eine Verwicklung des FSB in die Anschläge.

Im Oktober 1999 marschierten rund 100.000 Soldaten in Tschetschenien ein, der Zweite Tschetschenienkrieg begann. Grosny lag bis Februar 2000 unter schwerem Beschuss, die tschetschenischen Kämpfer verließen die Stadt wieder am symbolträchtigen 23. Februar und zogen sich in die Berge zurück. Die russischen Streitkräfte bombardierten vor allem die Dörfer im Westen der Republik, zu einer besonderen Zielscheibe wurden dabei die Familien der Kämpfer aus dem ersten Krieg. Im März endete die russische Großoffensive. Moskau setzte den ehemaligen Mufti Tschetscheniens, Achmat Kadyrow, als Chef der Verwaltung ein. Dieser hatte sich zuvor auf die Seite Russlands gestellt. 
Im Sommer 2000 änderten die Separatisten ihre Kriegsstrategie, sie setzten nun vor allem auf Terroranschläge gegen die Besatzer und ihre Strukturen. Die russische Streitkraft führte Säuberungsaktionen in den Dörfern durch, verhaftete und verschleppte Menschen. Das Verschwindenlassen von Menschen entwickelte sich dabei zu einer verbreiteten Methode russischer Armeeangehöriger, Lösegeld bei den Angehörigen zu erpressen.5 

Im Oktober 2003 hielt Moskau Wahlen in Tschetschenien ab, bei denen Achmat Kadyrow zum Präsidenten gewählt wurde. Zahlreiche russische und internationale Wahlbeobachter wiesen dabei auf massive Verstöße gegen das Wahlrecht hin. 
Während der Siegesfeier am 9. Mai 2004 wurde Kadyrow bei einem Anschlag getötet. Sein Sohn Ramsan übernahm das Amt des Vizepräsidenten. Neuer Präsident Tschetscheniens wurde zunächst Alu Alchanow, bis er 2007 von Ramsan Kadyrow abgelöst wurde.
Der Präsident der tschetschenischen Exilregierung, Maschadow, wurde im Untergrund aufgespürt und im März 2005 von einem russischen Spezialkommando getötet. Die meisten Mitglieder seiner Regierung leben heute im europäischen Ausland und sind zum Teil als politische Flüchtlinge anerkannt.
Der Zweite Tschetschenienkrieg endete offiziell 2009. Insgesamt haben die Kriege seit 1994 mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet. Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg sind Zehntausende nach Europa geflohen. In Deutschland leben heute rund 40.000 tschetschenische Geflüchtete, von denen nur ein Teil über den Status eines anerkannten Flüchtlings verfügt.

Kadyrow-Regime

Bei zahlreichen Veranstaltungen gedenkt heute die tschetschenische Diaspora am 23. Februar der Deportation. In Tschetschenien selbst wird der Gedenktag seit 2011 dagegen am 10. Mai begangen, dem Tag der Beerdigung von Achmat Kadyrow. Als der bekannte Oppositionspolitiker Ruslan Kutajew 2014 öffentlich das Trauerverbot am 23. Februar kritisierte, wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet und zu vier Jahren Haft verurteilt. 
Zahlreiche unabhängige Beobachter stuften den Prozess gegen Kutajew genauso als politisch-motiviert ein, wie auch viele andere Prozesse gegen tschetschenische Oppositionelle. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2007 hat Ramsan Kadyrow mit Hilfe seiner paramilitärischen Sicherheitstruppe Kadyrowzy ein hochrepressives Regime errichtet. Internationale Organisationen berichten regelmäßig über massive Verletzungen der Menschenrechte, darunter auch über die weit verbreitete Anwendung von Folter, das Verschwindenlassen unliebsamer Personen und außergerichtliche Exekutionen. Korruption in Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft ist ebenso allgegenwärtig.6 Zudem greift das Regime systematisch in die Privatsphäre der Tschetschenen ein: beispielsweise werden geschiedene Paare unter Druck gesetzt, sich zu versöhnen und wieder zusammenzuleben, mit der Begründung, dass Kinder Geschiedener sich radikalisieren und zu Terroristen würden.7 Im Frühjahr 2017 gab es erstmals Berichte über eine Welle der Verfolgung und Ermordung von LGBT, die zum Jahresbeginn 2019 erneut ausbrach.8 Kadyrow selbst behauptet, es gäbe keine LGBT in Tschetschenien und somit auch keine Verfolgung.  

Mit dem Kaukasuskrieg begann ab 1817 die eigentliche Kolonialisierung Tschetscheniens / „Die Schlacht am Walerik“, Aquarell von M. Lermontow und G. Gargarin, 1840

Entsprechend gibt es in Tschetschenien kaum Pressefreiheit: Während Russland auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen den Rang 148 von insgesamt 180 einnimmt, dürfte Tschetschenien für sich genommen noch weiter unten stehen. Unabhängige Medien gibt es in der Republik faktisch nicht, zahlreiche JournalistInnen wurden wegen ihrer kritischen Artikel ermordet, darunter 2006 die Journalistin der Novaya Gazeta Anna Politkowskaja.
Ebenso gefährdet sind Menschen, die sich für Frauenrechte einsetzen. Frauen werden im vorchristlichen Gewohnheitsrecht  Adat und in der Scharia als sogenannte „Trägerinnen der Ehre“ verstanden und sind einer permanenten sozialen Kontrolle durch Familienangehörige und Männer ausgesetzt. Die Dunkelziffer für Femizide schätzen Menschenrechtler als hoch ein, nicht selten gelten sie als sogenannte Ehrenmorde.9 
Die Verfolgung von Gesetzesverstößen, insbesondere im familienrechtlichen Bereich, wird von den staatlichen Ermittlungsbehörden häufig zurückgewiesen mit der Begründung, es handele sich dabei um Regeln des Adat oder der Scharia. Hingegen werden Gerichte dann aktiv, wenn es darum geht, unliebsame Oppositionelle rechtskräftig zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen. So gab es schon mehrere Prozesse gegen Menschenrechtler; der wohl bekannteste unter ihnen ist der gleichfalls als politisch motiviert eingestufte Prozess10 gegen den Leiter des Memorial-Büros Tschetschenien, Ojub Titijew. Im Januar 2018 wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet, inzwischen läuft ein kafkaesker Prozess gegen ihn. Titijews Vorgängerin bei Memorial, Natalja Estemirowa, wurde 2009 von Unbekannten entführt und ermordet.

Staat im Staat

Vor dem Hintergrund der von Putin aufgebauten Machtvertikale stufen zahlreiche Beobachter Tschetschenien als eine Art Staat im Staat ein. Nicht nur das Moskauer Gewaltmonopol gilt hier in vielen Bereichen als unwirksam, auch die Gesetze, die im restlichen Russland noch umgesetzt werden, wurden in Tschetschenien teilweise durch traditionelle Rechtssysteme ersetzt: das vorchristliche Gewohnheitsrecht Adat und die Scharia. 

Kadyrow laviert ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin / Foto © kremlin.ru CC BY 4.0
Die Mischung aus Traditionalismus und Nationalismus schafft laut Beobachtern eine Illusion von Selbstbestimmung11, also eine Art imaginierte Emanzipation von der Kolonialmacht Russland. Damit bedient Kadyrow moderate separatistische Erwartungen und untermauert seinen Legitimitätsanspruch. Gleichzeitig laviert er ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin. Während er sich nach Innen also als Garant der Selbstbestimmung darstellt, zeigt er nach Außen, dass gerade dieser populistische Separatismus nötig sei, um Tschetschenien nicht wieder zu einem Pulverfass werden zu lassen. Manche Beobachter meinen, dass Kadyrow für den Kreml damit als Garant der Stabilität erscheine: Als jemand, der einerseits dafür sorgt, dass Tschetschenien formal Teil Russlands bleibt und andererseits Terroranschläge in Russlands Großstädten verhindert. Vermutlich ist das der Grund, weshalb der Kreml diejenigen Silowiki im Zaum hält, die auch in Tschetschenien die Machtvertikale durchsetzen wollen.12 Die Kehrseite davon, so kritisieren Beobachter, sei faktisch eine Carte blanche für das Kadyrow-Regime, an der russischen Verfassung vorbei Adat und Scharia zu etablieren. Wobei allen Rechtssystemen in Tschetschenien gemein ist, dass ihnen weitestgehend die Erzwingungsmacht fehlt: Es gilt somit häufig das Recht des Stärkeren oder reine Willkür.13


Zum Weiterlesen:
Cremer, Marit (2017): Angekommen und integriert? Bewältigungsstrategien im Migrationsprozess, Frankfurt am Main/New York
Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, S. 197-212
Cremer, Marit (2007): Fremdbestimmtes Leben: Eine biographische Studie über Frauen in Tschetschenien, Bielefeld

1.ausführlich dazu: Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, 197-212 
2.Sarkisyanz, Emmanuel (1961): Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917: eine Ergänzung zur ostslawischen Geschichte Russlands, München, S. 114-140 
3.vgl. relga.ru: Formirovanie obraza Kavkaza v rossijskoj obščestvennoj mysli (konec XVIII – seredina XIX vv.) 
4.Halbach, Uwe (1994): Rußlands Auseinandersetzung mit Tschetschenien, In: BIOst 61, S. 20 
5.Council of Europe (2003): The human rights situation in the Chechen Republic 
6.Memorial Human Rights Center: Bjulleten' Pravozaščitnogo centra «Memorial» Situacija v zone konflikta na Severnom Kavkaze: ocenka pravozaščitnikov Leto 2018 goda 
7.Grozny.tv: Kadyrov prizval duchovenstvo aktivizirovat’ rabotu, napravlennuju na ukreplenie semejnych cennostej 
8.osce.org: OSCE Rapporteur’s Report under the Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in the Chechen Republic of the Russian Federation 
9.taz: Frauenmorde in Tschetschenien: Tödliche Traditionen 
10.Novaya Gazeta: Dur' kakaja-to: Novyj prokol obvinenija: narkotiki v dele Ojuba Titieva – ne narkotiki? 
11.International Crisis Group: Čečnja: vnutrennee zarubež'e, S. ii 
12.ebd. 
13.Halbach,Uwe (2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation: Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, S. 6, 21 und osce.org: OSCE Rapporteur’s Report under the Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in the Chechen Republic of the Russian Federation 
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