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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Alexej Balabanow

Kurz nach dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich viele westlichen Unternehmen und Konzerne aus Russland zurückgezogen. Unter anderem waren es Unterhaltungsriesen wie Disney und Warner Bros, die Filmstarts stoppten. Die leer gewordenen Kinoprogramme musste man zwangsläufig mit russischen Filmen füllen und es ließ sich nicht lange suchen, was Kinobesucher gerne (erneut) schauen würden: Bereits Ende März 2022 ging in die Kinos die Film-Dilogie Brat vom russischen Regisseur Alexej Balabanow, die in Russland bereits zur Jahrtausendwende Kultstatus errungen hat. Und die Wahl hatte womöglich nicht nur allein mit der Popularität dieses Filmes und des Protagonisten – dem heldenhaften Kriminellen Danila Bagrow – zu tun, sondern auch mit angeblichem Patriotismus und vermeintlichem Antiamerikanismus. Die starken Zitate aus dem Film – vor allem das berühmte „Sila w prawde“ (dt. Die Macht liegt in der Wahrheit) – tauchen immer wieder in Reden von russischen Politikern bis hin zu Wladimir Putin auf und dienen als Propaganda-Slogans. Doch wer war der Schöpfer dieser Filme, deren Protagonisten und Zitate die russische Gesellschaft in den letzten 20 Jahren so geprägt haben? 

Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen / Foto © Aleksandr Schtscherbak/Kommersant

Alexej Balabanow (1959–2013) verstand es meisterhaft, Unvereinbares zu vereinen. Dadurch würde zusätzliche Energie entstehen, wie die zweite Ehefrau und Witwe des Regisseurs, die Kostümbildnerin Nadeshda Wassiljewa in einem Interview meinte.1 Das Aufeinanderprallen von Dingen, Handlungen oder Ideen, die nicht zusammenpassen, erzeugt Effekte des Staunens, der Verwunderung oder Irritation, lässt Ambivalenzen entstehen. Entsprechend bleibt das Gesamtwerk von Balabanow auch zehn Jahre nach seinem Tod widersprüchlich. Für die einen war er ein Genie, für die anderen ein Provokateur. Die einen liebten seinen unverwechselbaren Stil, die anderen fühlten sich von den exzessiven Gewaltszenen abgestoßen. Vielen Zuschauern in Russland gilt er bis heute als Kultregisseur. Im Gegensatz dazu wusste man seine Filme außerhalb von Russland oft nicht richtig einzuschätzen und hatte überdies Probleme mit dem Chauvinismus der Brat-Serie. Seine Filme – zwölf sind es an der Zahl – wurden auf internationalen Festivals zwar gezeigt, aber mit keinem einzigen wichtigen internationalen Filmpreis ausgezeichnet. Dass Balabanow zeit seines Lebens seine künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit bewahrte, gilt jedoch als unumstritten. 

Wanderer in der Großstadt

Ein augenfälliges formales Beispiel für Balabanows Liebe zum Unvereinbaren hält die Eröffnungsszene seines kommerziell erfolgreichsten Films – des Mafiathrillers Brat-2 (2000) – bereit. Der aus Brat (1997) bereits bekannte Protagonist Danila Bagrow geht an einem Filmset vorbei, während der Aufnahme läuft Tschaikowskis Schwanensee. Da fällt sein Blick auf einen jungen Mann in schwarzem Anzug, der vor einem unförmigen schwarzen Geländewagen steht und wie ein Schuljunge ein Gedicht von Michail Lermontow rezitiert. Das lyrische Ich des romantischen russischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert vergleicht sich mit Lord Byron („Nein, ich bin nicht Byron, ich bin ein anderer“) und scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu diesem „neuen Russen“ oder Banditen zu passen. Bei genauerem Hinsehen trifft es die Protagonisten Balabanows jedoch in ihrem Kern, denn auch sie sind – so weiter im Gedicht – „von der Welt gejagte Wanderer“2, Fremde in der modernen Großstadt, die sie erobern oder von der sie verschlungen werden. Denn die Stadt, so der Obdachlose mit dem deutschen Nachnamen Gofman in Brat, ist eine „schreckliche Kraft“ – sie saugt die Menschen auf, und nur die Starken überleben.3 

Die Wanderungen von Balabanows mit wenigen Ausnahmen männlichen Protagonisten sind aus einem genuin filmischen Stoff. Ihre mit zeitgenössischer Rockmusik unterlegten Streifzüge durch die Großstadt, meist ist es Sankt Petersburg, verleihen Balabanows Filmen ihren unverwechselbaren Rhythmus, ihre Dynamik und Energie. Die Protagonisten erschließen sich die urbanen Räume, und wir folgen ihnen auf ihren Wanderungen und Autofahrten bis in die Wohnungen hinein mit unseren Blicken. Was wir dabei zu sehen bekommen, ist – und das gilt insbesondere für die Filme, die in den 1990er Jahren beziehungsweise in der jeweiligen Gegenwart spielen – eine industriell überformte, im unmittelbaren Sinn postsowjetische Stadtlandschaft, meist in ihrem Verfall. 

Kritik an der Moderne

Eine grundlegende Skepsis gegenüber der Moderne und den damit einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sowie eine Ablehnung von auf Geld basierenden Beziehungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Balabanows filmisches Werk. Um diese Grundhaltung filmisch zum Ausdruck zu bringen, konzentriert sich der Regisseur auf zwei zeitliche Kristallisationspunkte: einerseits die Zeit des Fin de Siècle, andererseits die Transformationszeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. 
Die Stadt Sankt Petersburg mit ihren rastlosen Wanderern erscheint im Licht der Umwälzungen des Fin de Siècle als seelenlose und menschenfeindliche Steinwüste, wie in Balabanows an die Ästhetik des Absurden angelehnten Debütfilm Stschastliwyje dni (1991; dt. Glückliche Tage), oder als Ort des geistigen Niedergangs und der Perversion, wie in Pro urodow i ljudei (1998; Englisch bekannt als Of Freaks and Men). 

In seinem auf Michail Bulgakows frühen Arztgeschichten basierenden Film Morfi (2008; dt. Morphium) verweist Balabanow darüber hinaus explizit auf die Faszination und Macht, die von dem mit der Moderne untrennbar verbundenen Medium Film ausgeht. In der Schlussszene landet der gescheiterte, Morphium süchtige junge Arzt in einem Kino und erschießt sich mit einer Pistole, während die Stummfilmkomödie weiterläuft – für einen Menschen des Kinos wie Balabanow der ideale Tod, wie seine Biographin Maria Kuwschinowa bemerkt: in einem Kinosaal, unbemerkt, mit einem Lächeln auf den Lippen.4 Auf die eine oder andere Weise sind Balabanows Filme daher immer auch Filme über das Kino. In seinem vorletzten Film Kotschegar (2010; dt. Der Heizer) wird das filmische Prinzip der Rahmung – des Framing – im Szenenbild verankert: Die Wände der Wohnungen sind voller Bilder, Ikonen und Spiegel, während die immer wiederkehrenden Kamine mit dem lodernden Feuer als eine archaische Entsprechung des Kinos erscheinen.

Chauvinismus oder Volksnähe?

Zwischen Balabanows ersten beiden Spielfilmen – Stschastliwyje dni nach Motiven von Samuel Becket und Samok (1994; dt. Das Schloss) nach Franz Kafka – und seinen Publikumserfolgen Brat (1997; Der Bruder) und Brat-2 (2000) liegen die bis in die 1980er Jahre unvereinbaren Welten des Autorenfilms einerseits und des kommerziellen Genrekinos andererseits. Um die Wende zum Populären zu vollziehen, kehrt Balabanow im Mafiathriller Brat die Ohnmacht der Protagonisten gegenüber der sie verschlingenden modernen Großstadt um. Danila Bagrow, gespielt vom Jungstar der 1990er Jahre Sergej Bodrow (1971–2002), ist ein sozialer Außenseiter aus der russischen Provinz, der aus dem brutalen Tschetschenien-Krieg zurückkehrt, und dem die Stadt als eine Art magische Energiequelle dient. So tritt er von Petersburg aus über Moskau und schließlich die USA einen Siegeszug über eine Welt an, in der die Gewalt der Mafia und die Macht des Geldes regieren. Diesen Sieg erringt er in der naiven Überzeugung, die Guten von den Bösen unterscheiden zu können und die Bösen entsprechend auch richten zu dürfen. Seine Kraft bezieht er aus traditionell hochgehaltenen Werten wie Wahrheit, Freundschaft und Liebe zur Heimat, die er in griffige Sinnsprüche packt: „Sila w prawde“ (dt. In der Wahrheit liegt die Kraft / Macht) verkündet er in Brat-2. Genau dieses Motto kursierte im Februar 2022 in den russischen Medien und wurde so zur Propagandawaffe im Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Es ist insbesondere die von Balabanow geschaffene Figur des Danila Bagrow, die dem Regisseur den berechtigten Vorwurf einbrachte, ein „Handlanger“5 von Chauvinismus und Nationalismus zu sein. Unter dem Deckmantel, doch nur die Sprechweise der einfachen Leute wiederzugeben,6 findet sich insbesondere in den kommerziell erfolgreichen Filmen – den beiden Brat-Filmen wie auch dem Folgefilm Woina (2002; dt. Krieg) – eine Fülle an chauvinistischen, russisch-nationalistischen, antisemitischen, antiamerikanischen und rassistischen Sprüchen.7 Und trotzdem bleibt die Figur des Danila Bagrow insbesondere in Brat ambivalent, beinhaltet im Kontext ihrer Entstehungszeit vor allem auch „die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren angeblich grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden.“8 

Parodie und Provokation

Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen. Das demonstrierte er in allen Filmen, die auf Woina noch folgen sollten. In Shmurki (2005), einer tiefschwarzen Komödie, setzte er auf das vor Blut triefende Kino eines Quentin Tarantino noch ein Stück drauf und schuf eine schrille Parodie auf die von ihm selbst ersonnenen romantisierten Banditen der Brat-Filme. In der Schluss-Szene präsentiert Balabanow einen Blick in die Gegenwart des Jahres 2005 und darüber hinaus: Aus den brutalen kriminellen Existenzen der 1990er Jahre sind eifrige Diener im politischen System Putins geworden. Fünf Jahre später entstand der Film Kotschegar, in dem die Banditen der 1990er Jahre dagegen im Lichte des russischen Kolonialismus erscheinen. Der Heizer des Filmtitels ist ein Jakute in Sankt Petersburg, ein Afghanistan-Veteran und Held der Sowjetunion, der für seinen ehemaligen Kriegskameraden die unzähligen Leichen, die dieser und sein Kumpane hinterlassen, im Heizofen einer Fabrik entsorgt. Doch die Beziehung zwischen dem Russen und dem Jakuten nimmt kein gutes Ende – ähnlich wie im zaristischen Russland. Mit dieser eindeutigen, von vielen als russophob kritisierten Botschaft ist Kotschegar einer der wenigen postkolonialen Filme, die das russische Kino bis heute hervorgebracht hat. In seiner Machart aber ist der Film ein minimalistisches filmisches Meisterwerk des Absurden und Unheimlichen.

Cargo 200

Als Balabanows umstrittenster und verstörendster Film gilt jedoch Grus 200 (2007; engl. Cargo 200). Der Film spielt im Jahr 1984 in einer sowjetischen Provinzstadt, in der die Ankunft einer besonderen Luftfracht angekündigt wird – die als Grus 200 in den russischen Sprachgebrauch übergegangenen Zinksärge mit in Afghanistan gefallenen Soldaten. Vor diesem Hintergrund baut Balabanow eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs auf, der in einem Exzess abstoßender physischer und psychischer Gewalt endet. Im Mittelpunkt der Handlung steht, kurz zusammengefasst, der psychopathische, impotente Milizionär Shurow (gespielt von Alexej Polujan) und die junge Anshelika (gespielt von Agnija Kusnezowa), die von Shurow entführt wird. Shurow bringt die junge Frau in seine Wohnung, kettet sie an ein Eisenbett, legt ihren toten Verlobten aus einem der eingetroffenen Zinksärge neben sie, lässt sie von einem von der Miliz festgenommenen Alkoholiker vergewaltigen und liest ihr schließlich die Liebesbriefe ihres Verlobten vor. Am Ende dieser mehrmals durch Parallelhandlungen unterbrochenen Szene des Grauens findet sich die junge Frau inmitten von drei Männerleichen wieder, der Shurows inklusive.

Der Filmmusik, die ein integrales Moment in allen Filmen Balabanows darstellt, kommt in Grus 200 die zentrale Funktion eines ironisch-distanzierenden Kommentars zu Bild und Erzählung zu. So ist der sich aufbauende Gewaltexzess mit populären sowjetischen Hits unterlegt, unter anderem mit Na malenkom plotu (dt. Auf einem kleinen Floß) von Juri Losa. Was Balabanow in diesem Sozialthriller daher aufeinanderprallen lässt, ist das sowjetische Gewaltregime der Exekutive und des Militärs einerseits, und die Erinnerung an ein fröhliches, glückliches Leben in der Sowjetunion andererseits. Metaphorisch gelesen schändet die bereits impotente Sowjetmacht den unschuldigen Volkskörper. Das eigentliche Monster aber, das Balabanow mit diesem Film erlegen will, ist die um sich greifende, ideologisch genährte Sowjetnostalgie. So gesehen geht es Balabanow in Grus 200 keineswegs um Gewalt als filmischen Selbstzweck, sondern um eine gesellschaftliche Schocktherapie.9 Angesichts der staatlichen und militärischen Gewaltexzesse, die aus Russland und aus dem Krieg in der Ukraine seit 2022 immer wieder bekannt werden, ist Grus 200 zehn Jahre nach dem Tod des Regisseurs daher aktueller denn je.


1.vDud’ (YouTube): „Balabanov – genial’nyj režisser”, 15. Mai 2018 
2.Lermontov, Michail (2000): Gedichte. Russisch / Deutsch. Übersetzt von Kay Borowsky und Rudolf Pollach. Stuttgart, S. 59 
3.Im russischen Original: „Gorod – strašnaja sila. […] On zasasyvaet. Tol’ko sil’nyj možet vykrabkat’sja.“ 
4.Vgl. Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov. Sankt-Peterburg, S. 159 
5.dekoder.org: Kino #3: Brat 
6.Eine von Balabanows Antworten auf den Nationalismusvorwurf lautet wie folgt: „Alle bezichtigten mich des Nationalismus. Absolut ohne Grundlage. Ich gebe das Befinden unseres Volkes wieder. Mögen die Menschen in der Provinz etwa die Juden? Natürlich nicht. Dieses Gefühl verstehen die russischen Menschen, und es ist ihnen vertraut. Und dass sie die Kaukasier nicht mögen ist genauso offensichtlich.“ (im Original: [В]се меня обвиняли в национализме. Абсолютно безосновательно. Я отражаю состояние нашего народа. В провинции люди евреев любят? Точно говорю, что не любят. Это ощущение русским людям понятно и близко. И то, что хачиков не любят — тоже абсолютно очевидно). Vgl. seance.ru: Balabanov o Balabanove 
7.Dazu gehören aus den beiden Brat-Filmen Sprüche wie, adressiert in der konkreten Szene an Kaukasier, „Ne brat ja tebe, gnida černožopaja!“ (Ich bin für dich kein Bruder, du schwarzärschige Zecke); adressiert an Amerikaner „Muzyka tvoja amerikanskaja – govno […] Da i sami vy… Skoro vsej vašej Amerike – kirdyk.“ (Deine amerikanische Musik ist Scheiße […] Und überhaupt seid ihr selber… Bald wird’s eurem ganzen Amerika an den Kragen gehen.); adressiert an Ukrainer „Vy mne, gady, ešče za Sevastopol’ otvetite“ (Ihr Schweine werdet mir noch für Sevastopol’ büßen); schließlich, adressiert an den amerikanischen Mafiaboss, „Vot skaži mne, amerikanec, v čem sila? Razve v den’gach?… Ja dumaju, čto sila v pravde. Tot, u kogo pravda, tot i sil’nee“ (Nun sag mir, Amerikaner, worin liegt die Stärke? Etwa im Geld?… Ich denke, dass die Stärke in der Wahrheit liegt. Derjenige, der im Besitz der Wahrheit ist, ist auch stärker). 
8.dekoder.org: Putin – Geisel der 1990er Jahre? 
9.Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen von Daria Ezerova: Ezerova, Daria (2020): Laughing Apocalypse: Horror and/as Comedy. In: Nancy Condee et al (Hg.): Cinemasaurus. Russian Film in Contemporary Context. Boston, S. 84–104 
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