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Fremdschämen im weißen Kleid

„Die Russen können gut feiern.“ So lautet ein gängiges Klischee, das der Wahrheit entspricht. Aber möchte man bei den Hardcore-Festen a là Hochzeit wirklich dabei sein? Marina Wassiljewa auf Batenka mit einer kleinen Kulturkunde zum Thema große Feste feiern.

Source Batenka

„Guten Abend, meine Damen und Herren! Draußen ist es bitterkalt, aber hier im Saal wärmt uns die herzliche Stimmung. Also nehmt Platz, werte Gäste, macht's euch bequem, denn so eine Feier, die dauert ihre Zeit. Sucht euch einen gut gelaunten Tischnachbarn und eine hübsche Tischnachbarin. Jeder Dritte ist Kommandeur über eine Feier-Truppeneinheit – zu seinen Pflichten gehört: einschenken, nachschenken, den Tischnachbarn nicht übersehen und sich selbst nicht übergehen.

Während ihr das erledigt, will ich die Gästeliste überprüfen. Zuallererst die Jubilarin – prächtig wie die Königin von England, schön wie Angelina Jolie, sexy wie Pamela Anderson, klug wie Einstein, tüchtig wie Aschenputtel, reinlich wie Meister Proper – ist anwesend! Und die Gäste – teuer wie die Spieler von Chelsea, lustig wie Regierungsbeschlüsse, feurig wie Shirinowski, großzügig wie arabische Scheichs – alle da! Es kann losgehen! [...]“

So steht es in einem Skript für eine Feier, zu finden in der VKontakte-Gruppe Texte für Feste.

„Wenn ich das lese, erkenne ich alles wieder“, sagt Nastja aus Ishewsk. „Genau so läuft das ab. Eine irrsinnig aufwändige Hochzeit, auf der ich mal war, fand in Sankt Petersburg statt. Da gab es einen Zauberer, Sandmalerei, einen Schokoladenbrunnen. Die Mutter des Bräutigams hatte eine Schachtel mit exotischen Schmetterlingen mitgebracht. Und dann die Spiele: Triff mit dem Stift in die Flasche. Alle Teilnehmer binden sich ein Band um den Bauch, an dem hinten ein Bleistift oder ein Kugelschreiber baumelt, wie ein Schwanz. Mit dem soll man in eine Flasche zielen. Wenn ich daran denke, ist mir das echt peinlich. Die Finnen haben ein Wort dafür, wenn man sich für jemand anderen schämt. Jemand tut etwas, und du schämst dich.“

„Es gab durchaus schon mal peinliche Situationen, in denen ich mich geschämt hab“, gibt der Hochzeitsfotograf Walentin zu. „Für den Stumpfsinn und die Blödheit der Leute, die sich bei Spielen irgendwelche Gegenstände hin- und herreichen und die Körper aneinanderreiben.“

Den angebotenen Aktivitäten kann man sich nicht entziehen

Bei Nötigungen auf Feiern sehen Anthropologen zwei zentrale Mechanismen am Werk: Erstens ist da der rituelle Aspekt – die Ältesten sind gleichsam Priester, die dafür sorgen, dass die Traditionen streng befolgt werden. Zum anderen – gewöhnliches Mobbing wie in jedem Kollektiv, in dem sich die Mehrheit auf Kosten eines Opfers Bestätigung holt.

Grafiken © Sascha Krawtschenko

An dem Mobbing beteiligen sich in der Regel fast alle Gäste, während die Rolle der Priester bei Familienfeiern die engagiertesten Vertreter der älteren Generation übernehmen – Eltern, Großväter, Großmütter. Sie bestimmen, was wohin kommt, wer sprechen darf und wer nicht, wer was unbedingt gegessen haben muss. Manchmal geht die Priesterrolle auch auf den Moderator über – den Tamada, eine Art Alleinunterhalter.

Ritual und Mobbing

Vor ein paar Jahrhunderten hat es im Leben eines Menschen nur ein paar wenige Großereignisse gegeben. Das waren Geburt, Heirat und Tod – Momente, in denen ein Mensch von einem Zustand in einen grundlegend anderen wechselt, daher bezeichnen die Ethnologen diese Ereignisse als „Übergangsriten“. Heute gibt es solche Riten im Grunde nicht mehr: Die Grenzen zwischen den Feiern sind verwischt, Feste wie Geburtstage und Silvester, die man jedes Jahr feiert, sind hinzugekommen. Die Geburt eines Kindes zelebrieren die meisten nicht mehr, weil sie alle Hände voll zu tun haben, Beerdigungen sind immer weniger ritualisiert und gleichen immer mehr jedem anderen Festgelage. Hochzeiten besitzen heute die größte Bedeutung und das größte Gewicht, auch der Ablauf hat sich mit der Zeit fest etabliert: Standesamt, Spaziergang, Essen, Spiele, Tanz.

Festes Drehbuch sorgt für Wiedererkennung

Den beiden Mechanismen – Mobbing und Ritual – ist gemeinsam, dass sie einem strengen Drehbuch folgen, ohne jede Improvisation. Und genau deshalb setzt bei Filmen wie Gorko! bei uns dieser Wiedererkennungseffekt ein.

Kulturanthropologe Michail Okunew erklärt: „Die Witze drehen sich um Alter, Gewicht und Kleidung der Gäste, weil der Moderator Unbekannte zusammenbringen und unterhalten muss – und diese Dinge betreffen ohne jeden Zweifel alle ohne Ausnahme.“

Während der Feiern führen die Moderatoren häufig Situationen herbei, die es den Gästen schwermachen, sich den angebotenen Aktivitäten zu entziehen, weil alle Blicke auf sie gerichtet sind. Alleinunterhalter Alexander holte zum Beispiel bei einer Veranstaltung einen Gast auf die Bühne, damit der dem jungen Paar gratuliert, aber nachdem der Toast gesprochen war, verkündete Alexander plötzlich laut, der Gratulant würde jetzt „den Mr. Bean tanzen“ und bat den DJ, die Musik zu spielen.

Und als es ans Brautstraußwerfen ging, forderte er die unverheirateten Frauen auf, vorher Selfies zu machen – erst mit dem ältesten und dann mit dem „sexiesten Mann im Saal“. Alle diese Ankündigungen spricht der Moderator ins Mikrofon, und der, der dann gerade auf der Bühne steht, müsste nicht nur den Tamada enttäuschen, sondern alle Anwesenden, die ihre Blicke auf ihn gerichtet haben und erwarten, dass alles glattläuft und niemand einen Aufstand macht.

Witze über die Hochzeitsnacht

„Ein eigenes Thema für Witze ist die Hochzeitsnacht“, erzählt Nastja aus Ishewsk. „Manchmal geht die Feier mehrere Tage lang, und die Gäste kommen am Morgen nach der Hochzeit wieder zusammen. Und dann hörst du irgendeinen Vater oder Onkel sagen: „Sieh an, der Bräutigam kann kaum noch gerade stehen, hat sich wohl mächtig ins Zeug gelegt!“ Oder: „Na Natascha, wie geht’s dir denn so heut' Morgen?“ Und natürlich: „Wann kommen die Kinderchen?“ Außerdem lassen sich solche Gäste auch gerne mal volllaufen und baggern dich an. Und du kannst nichts tun und sie zum Teufel jagen, weil deine Mama daneben steht, und wenn du irgendwem eine Abfuhr erteilst, bist du die Zicke. Nein sagen kannst du nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Tu lieber so, als hättest du Spaß, dann ist das alles schneller vorbei.“ Nastja meint, man findet man das alles normal, solange man in seiner kleinen Heimat ist, „aber sobald man da rauskommt, merkt man, wie krass das eigentlich ist.

„In der neunten Klasse war ich auf der Hochzeit meiner ältesten Cousine“, erinnert sich Assja aus Pskow. „Um die fünfzig Leute waren da, und die Schwestern der Frau von Onkel Wassja – jede von ihnen konnte über den ganzen Tisch hinweg irgendwas über die Hochzeitsnacht brüllen oder, dass sie nur ja gleich mit den Kindern anfangen sollen, weil Kinder ja das Wichtigste in der Ehe sind. Für mich war das damals der reinste Schock. Ich war so traurig! In meiner Vorstellung war eine Hochzeit (besonders die meiner Lieblingscousine) was Tolles: Du trägst ein schönes Kleid, bist mit dem Menschen zusammen, den du liebst, alle sind gerührt und beglückwünschen euch.

Aber stattdessen war ich in einem Schmierentheater gelandet, und jeder konnte ihr die intimsten Fragen stellen, schlüpfrig-debile Anspielungen auf die Hochzeitsnacht machen, und sie saß da in ihrem Kleid, wurde rot vor Scham, schwieg und schaute zu Boden. Nein, natürlich, alle wussten, was eine russische Hochzeit ist, und alle haben genau das erwartet. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand protestiert hätte – wogegen denn? Ist doch normal! Manchmal dachte ich, die Braut würde gleich losheulen und weglaufen, aber alle feierten fröhlich, aßen Salate und tanzten.“

Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s mal langsam

Hochzeitsmoderator Alexander lässt Kommentare fallen wie: „Sie sind 70 Jahre alt, Sie können sprechen, solange Sie wollen“, „Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s langsam!“ Aber auf die Frage, ob es eine ungeschriebene Sperrliste von Hochzeitswitzen gibt, sagt er: „Man darf nicht intim werden, nicht die Gäste erniedrigen. Vor allem nichts sagen, was irgendwen beleidigen könnte. Auf keinem Gebiet.“

Dimitri Piterski, einem anderen Alleinunterhalter, zufolge, hänge es vom „Humorniveau“ des Moderators ab, wie gut ein Scherz ankommt. „Der eine kann locker das Thema Scheidung auf einer Hochzeit anschneiden und die Gäste mit einem spontanen Witz zum Brüllen bringen. Wenn man entsprechende Literatur zu der Frage liest, gibt es eine Reihe von Themen, über die man bei Feiern (und generell) keine Witze macht: Religion, Physiologie, Patriotismus, die eigene Überlegenheit. Die Liste ist lang, aber ich für meinen Teil glaube, intelligente Witze kann man zu jedem Thema machen. Nur dumme Witze sind verboten, und noch dümmer ist es, Witze zu machen, wo sie nicht verstanden werden“, sagt Dimitri.

Das ist eine Art Traumatherapie

Auch wenn viele, vor allem junge Menschen zugeben, dass sie sich auf Hochzeiten unwohl fühlen, hat das Fremdschämen offenbar auch was Gutes: In so einem Moment bist du froh, dass das gerade nicht dir passiert. Auf VKontakte gibt es eine Gruppe namens Die Hochzeit deiner Klassenkameradin, die sich im Prinzip genau diesem Gefühl widmet.

In dieser Gruppe kursieren mehrere Videos, die schnell Hunderttausende von Zuschauern haben und zum Beispiel die Braut dabei zeigen, wie sie über das erste Kennenlernen rappt („Dann holst du mich zum Spazierengehn, komm mal mit, und nun kann's für immer voll abgehn“), oder wo Hochzeitsgäste sich mit vor den Bauch gebundenen Kissen Wettrennen liefern und so weiter. Den Kommentaren nach zu urteilen, gefällt keinem, was er da sieht – aber man schaut es trotzdem. „Das ist eine Art Traumatherapie“, meint Oleg, einer der Abonnenten. „Viele haben das selbst erlebt, ich zum Beispiel sehe mir das an und denke: Gott sei Dank, dass das diesmal nicht ich bin. Oder: Okay, das ist noch schlimmer als bei uns, wenigstens musste bei uns der Bräutigam nicht aus dem Brautschuh trinken.“

Oleg erzählt, er sei schon auf vielen Hochzeiten gewesen und habe sich oft unwohl gefühlt. Aber trotzdem fand er es auch lustig. „Das Problem ist, dass alles durcheinander geht. Ich singe zum Beispiel gerne Karaoke, aber dann folgt danach gleich irgendein dämliches Ratespiel, wie: Wer von beiden macht später den Abwasch, und dann wieder was Witziges, und du hast keine Zeit zu reagieren. Naja, eigentlich wie im richtigen Leben.“

Russische Festrituale können nicht als brutal bezeichnet werden

Der Anthropologe Michail Okunew findet nicht, dass man russische Festrituale als „brutal“ bezeichnen kann. Vielmehr würden diejenigen, die möglichst unbemerkt bleiben wollen, einfach deshalb von den anderen Gästen zum fröhlichen Mitmachen „gezwungen“, weil die Gäste bereits in einem feierlichen, „rituellen“ Zustand seien und wollen, dass alle Anwesenden diesen Zustand mit ihnen teilen. „Wenn man über Gewalt sprechen will, dann gibt es meiner Meinung nach in der russischen Festtradition nur eine Form: Faustkämpfe, die während der Masleniza und an den kleineren Festen danach, an den Wochenenden bis Pfingsten ausgetragen werden. Ich kann nicht bestätigen, dass es in der russischen oder russländischen Tradition versteckte Formen von Gewalt bei Festen gibt, denn das würde den moralisch-ethischen Normen unserer Kultur widersprechen.

Ich glaube, das heutige Programm – Essen-Spiele-Tanz – hat seine feste Form schon vor gut fünftausend Jahren angenommen, in der Mittelsteinzeit, als die Jäger von einer erfolgreichen Jagd nach Hause kamen oder es einen anderen religiösen oder gesellschaftlichen Anlass zum Feiern gab. Man bereitete Speisen zu, lieferte sich Wettkämpfe, tanzte zu primitiver Musik ums Feuer und versuchte die junge Frau, die einem gefiel, mit einer nonverbalen ‚Unterhaltung‘ über die Erhaltung der eigenen Art zu beeindrucken. Und das Vollstopfen der Kinder mit Essen ist eine ganz normale Sorge darum, dass ein Kind satt wird. Man sollte da nicht unnötig viel Semantik suchen.“

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Herstellung von Samogon. Foto © Yuriy75 unter CC BY-SA 3.0Der Begriff Samogon für eine unter häuslichen Bedingungen und für den eigenen Bedarf hergestellten Spirituose entstand Anfang des 20. Jahrhunderts. Ursächlich für die weite Verbreitung der Schwarzbrennerei war das sogenannte suchoi sakon (wörtlich: trockenes Gesetz): Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erließ Zar Nikolaus II. 1914 einen Ukas, der die Herstellung und den Verkauf aller Sorten alkoholischer Produkte im Zarenreich verbot. In der Folge begannen immer mehr Menschen, selbst Schnaps zu brennen - auf Russisch sam gonju, woher sich auch der Begriff Samogon ableitet.

Die Bolschewiki schafften das suchoi sakon zunächst nicht ab. Als die Schwarzbrennerei jedoch immer größeren Umfang annahm, sahen sie sich 1923 letztlich doch gezwungen, die gewerbliche Produktion und den offiziellen Verkauf von Alkohol wieder zu gestatten. Gleichzeitig wurde dafür ein striktes Verbot zur Herstellung von Samogon eingeführt, das bis zum Ende der Sowjetunion Bestand hatte. Es konnte allerdings nicht konsequent durchgesetzt werden: So führte zum Beispiel die bekannte Anti-Alkoholkampagne unter Michail Gorbatschow von 1985 bis 1991 zum erneuten Aufblühen der Schwarzbrennerei, wobei der auf dem Schwarzmarkt erhältliche Samogon von minderer Qualität war und oft Gesundheitsprobleme hervorrief.

Bis heute bleibt die heimische Eigenherstellung von Samogon eine weitverbreitete Praxis. In der gegenwärtigen Gesetzgebung der Russischen Föderation gibt es kein Verbot der Herstellung von Samogon, wenn auch entsprechende Intitiativen mehrmals in der Duma vorgeschlagen wurden, zuletzt Anfang Juli 2015.1


1.Lenta.ru: „Wodka pachnet ukolom w sadnizu“. Potschemu w Rossii ne stoit sapreschtschat proiswodstwo samogona
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