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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Ilya Varlamov

Am 26. April 2017 schreibt der bekannte Blogger Ilya Varlamov auf seinem Twitteraccount: „Hallo, Stawropol) Danke @aeroflot für einen tollen Flug. Das Wetter ist großartig.“ Einige Minuten später spritzen ihm Unbekannte Seljonka ins Gesicht, einen organischen Farbstoff aus der Gruppe der Triphenylmethane, der in der russischen Hausmedizin als antiseptisches Wunderheilmittel gilt. Darauf folgten Torten und Schläge, denen der mit Säure angegriffene Blogger nichts mehr entgegensetzen konnte.

Jod, Torten und Seljonka sind die üblichen Kampfmittel der Aktivisten, von denen oppositionelle Politiker wie Alexej Nawalny oder Michail Kassjanow mehrmals angegriffen wurden. Nawalny verlor bei einem dieser Angriffe fast das Sehvermögen und musste operiert werden. Varlamov hatte allerdings Glück: Er trägt eine Brille. Schon eine Stunde später postete er den Tweet: „Mit mir ist alles ok :) Schade um mein Lieblings-T-Shirt und die Technik. Ich gehe mich jetzt waschen und dann fotografiere ich die Stadt.“ Dies war der eigentliche Anlass seiner Reise nach Stawropol.

Varlamov befindet sich immer inmitten der Ereignisse, schreibt und berichtet über alles, worauf er trifft und was mit ihm geschieht. Foto © varlamov.ru

Auch wenn sich dieser Vorfall schon wenige Stunden später in einem anderen Stadtteil wiederholte, war Varlamov nicht abzuschrecken. Im Gegenteil: Er dokumentierte den Angriff und veröffentlichte die Fotos der Täter (die schließlich eine Geldstrafe in Höhe von 8 Euro bezahlen mussten1) auf seinem Blog und in den Sozialen Netzwerken. Denn die minutiöse Dokumentation von alldem, was mit ihm und um ihn herum geschieht – seien es oppositionelle Demonstrationen auf dem Bolotnaja-Platz, nationalistische Ausschreitungen auf dem Manegenplatz, die Proteste auf Maidan oder Auseinandersetzungen mit der Polizei in Hamburg während des G20-Gipfels – ist sein Hobby und Beruf.

Blogger und Fotograf

Dem breiten Publikum ist er vor allem durch seinen Blog varlamov.ru bekannt, den er unter dem Nickname Zyalt2 am 5. August 2006 auf der LiveJournal-Plattform startete. Mit dem Slogan „Make Russia warm again“ schaffte er ein äußerst erfolgreiches Autorenmedium (awtorskoje SMI), das seit 2015 auf einer eigenen Domain läuft, aber immer noch bei LiveJournal integriert ist. Der Erfolg von varlamov.ru kann sich sehen lassen: Laut dem LiveJournal-Nutzer-Rating 2017 rangiert die Seite mit zwei Millionen Abonnenten auf dem ersten Platz dieser Liste und mit einigen Millionen Klicks im Monat konkurriert sie mit großen Online-Medien.

Viele Ereignisse in der jüngsten Geschichte Russlands sind den Internet-Nutzern durch seine Fotos und Videos bekannt. Varlamov gilt als Chronist der oppositionellen Demonstrationen und Kundgebungen: Der Marsch nesoglasnych (Marsch der Nichteinverstandenen), die Strategie 31, Bolotnaja, Sacharowa – zu allen diesen Ereignissen lieferte er hautnahe und anschauliche Foto-Reportagen. Varlamov befindet sich immer inmitten der Ereignisse, schreibt und berichtet über alles, worauf er trifft und was mit ihm geschieht – er kennt keine Scheu. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum er als Profilbild seines Blogs den als ausgelassen und rebellisch bekannten Bart Simpson ausgewählt hat, dessen Gesicht von einer Afro-Perücke – als Anspielung auf Varlamovs eigenen Wuschelkopf – mit den Farben der russischen Nationalflagge umrahmt ist.

Varlamovs Autorenmedium ist nicht nur hinsichtlich der Klickzahlen und Bekanntheit erfolgreich, sondern stellt auch ein gelungenes kommerzielles Projekt dar. Zu den Hauptthemen seines Blogs zählen neben der Beschäftigung mit den jüngsten politischen Ereignissen in Russland und anderen Ländern auch die aktuelle Lebenssituation und die Probleme des russischen Großstadtlebens.

Wegen der Betonung solcher Probleme wurde Varlamov bereits mehrmals zur Zielscheibe von Kritik. So bezichtigte ihn 2017 der Duma-Abgeordnete Wladimir Burmatow der „Auftragsschreiberei” (rus. sakasucha): Der Blogger habe für seinen niederschmetternden Bericht über einen Spielplatz in Tscheljabinsk Geld angenommen, so der Politiker. Stichhaltige Beweise blieben aus, wie auch bei den häufigen Unterstellungen seitens russischer Oppositioneller. Diese halten Varlamov manchmal vor, Auftragsschreiberei für den Kreml und ein doppeltes Spiel zu treiben. Der Journalist Oleg Kaschin, der 2012 Varlamov ebenfalls ein Doppelspiel vorgeworfen hatte,3 kürte ihn vier Jahre später zum Journalisten des Jahres 2016. Kaschin betonte jedoch dabei, dass Varlamovs Blog nur deshalb zu einem wichtigen Medium wurde, weil die mediale Landschaft drumherum zerstört oder verdorben sei.4

Kampf für schönere und lebenswerte Städte

Ausgestattet mit einer Handkamera oder einfach nur mit seinem Handy wandert Ilya Varlamov (geb. 1984) durch die Städte, filmt und kommentiert dabei nicht nur aktuelle Ereignisse, sondern auch die Beschaffenheit von Straßen, Gehsteigen und Gebäuden. Offensichtlich findet er dabei Gehör, weil er mit Humor und einfachen, klaren Worten auf Missstände und Nachlässigkeiten hinweist, bei denen andere wegsehen. Und er weiß offensichtlich, wovon er spricht: Der geborene Moskauer ist während der Perestroika und der 1990er Jahre aufgewachsen und absolvierte das Moskauer Architekturinstitut. Bereits während seines Studiums gründete er zusammen mit Artjom Gorbatschow das Studio für 3D-Visualisierung iCube, das sich nach über 10 Jahren Existenz in Moskau als erfolgreiches Unternehmen im Bereich der Stadtplanung und Architekturgrafik etabliert hat und sowohl mit großen Privatfirmen als auch mit staatlichen Behörden und der Moskauer Regierung zusammenarbeitet.

Varlamov arbeitet außerdem für die von ihm und Maxim Katz gegründete Stiftung Gorodskie projekty (dt. Stadtprojekte) – eine gemeinnützige Organisation, die sich für ein besseres und angenehmeres Leben in der Stadt einsetzt und die Miteinbeziehung der BürgerInnen für die Lösung städtischer Probleme fordert. Unterstützt von Freiwilligen, führt die Stiftung jeweils vor Beginn eines Stadtprojekts Feldstudien durch und hat dadurch beispielsweise schon ein Parkverbot auf den Gehsteigen der Twerskaja Uliza durchgesetzt. Die Stiftung arbeitet eng mit iCube R&D Group, die inzwischen von Varlamovs Frau Ljubow Varlamova geleitet wird, und der gleichnamigen Agentur Gorodskie projekty zusammen.

Gläserne Schraube

Varlamov setzt sich in erster Linie für die Verbesserung der Lebensqualität in russischen Städten ein. Als Menschenrechtsaktivist und Mitorganisator des Projekts Strana bez glupostej (dt. Land ohne Dummheiten) kämpft er gegen Verletzungen der bürgerlichen Freiheit und gegen Verwaltungsverstöße. Mithilfe von Youtube-Videos, wie beispielsweise in seinem neuen Videoprojekt Kak nam obustroit Rossiju (dt. Wie wir Russland ausbauen können), thematisiert und diskutiert er Ideen, Neuigkeiten und Projekte russischer Stadtentwicklung und Stadtplanung. Dabei tritt er in Interaktion mit seinen Followern: Ganz im Sinne der Bürgernähe sollen seine AnhängerInnen auf Probleme und Nachlässigkeiten sowie auf positive Entwicklungen in ihren Städten hinweisen, ihm Fotos schicken und neue Themen vorschlagen.

Parkplatz, nominiert für den Preis Gläserne Schraube. Foto © varlamov.ru

Varlamov kämpft allerdings nicht nur mithilfe von Aufklärung und Bewusstseinsschaffung in Form von Fotos, Videos oder Blogeinträgen für lebenswertere Städte und gegen Verwaltungsverstöße, sondern auch mit Witz: So hat er die Antiprämie Stekljanny bolt (dt. Gläserne Schraube) ins Leben gerufen – ein Preis, bei dem Fotos mit den schlimmsten Fehlern, Ungenauigkeiten und Pannen russischer Stadtgestaltung prämiert werden.5

Russland verändern

Ilya Varlamov will mithilfe seiner Fotos, Kommentare und Videos etwas in Russland verändern, indem er Lösungen aus anderen Ländern für ein angenehmes Stadtklima sammelt, auf Anregungen und Beobachtungen russischer BürgerInnen eingeht und diese mit seinem Fachwissen kommentiert. Mehrmals versuchte er sich auch in der Rolle des Politikers. So ist er 2012 Mitgründer der sogenannten Liga Isbiratelei (dt. Liga der Wähler) geworden, er kandidierte auch für den Posten des Bürgermeisters der Stadt Omsk und scheiterte bei der Unterschriftensammlung; im April 2018 kündigte er an, auch an den Moskauer Gouverneurswahlen teilnehmen zu wollen.

Jedoch treffen sein Engagement und insbesondere das Aufzeigen von Korruption und Schlamperei im russischen Baugewerbe nicht bei allen auf Zustimmung. Er kritisiert die Gouverneure und Bürgermeister, Bauherren und Investoren. Seine Fotoreportagen aus der russischen Provinz werfen ein Schlaglicht auf die Realitäten, die die breite Öffentlichkeit sonst nicht auf dem Schirm hat. Damit löst er oft auch Mediendebatten aus. Den Vorfall in Stawropol bringt er mit kommerziellen Interessen einer Immobilienfirma JugStrojInvest in Verbindung – er wollte ein von ihr gebautes Wohngebiet fotografieren.


1.Mk.ru: Napavšije na Varlamova s zeljenkoj ottelalis´ štrafom v 500 rublej
2.Varlamov schrieb in einem seiner Posts, dass dieser Nickname keine Bedeutung hat und wird als Sjalt ausgesprochen: Varlamov.ru: Čto značit “zyalt”?
3.Kommersant.ru: Velikij murzilka
4.Kashin.guru: Žurnalist goda 2016 - Ilja Varlamov
5.Varlamov.ru: Stekljannyj bolt
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