Die Obschtscherossiskoe obschtschestwennoe dwishenie „Narodny front za Rossiju“ (kurz: ONF) (deutsch: „Allrussische Gesellschaftliche Bewegung ‚Volksfront für Russland‘“) ist eine nationalpatriotische Dachorganisation, die im Jahr 2011 von Wladimir Putin ins Leben gerufen wurde; und zwar mit dem Ziel, die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu zu ordnen. In ihrer Struktur und Funktion ähnelt die ONF sowohl Parteien als auch NGOs und Verbänden. Regionale Interessen sollen stärker in der föderalen Politik Gehör finden und somit Defizite staatlichen Handelns ausgleichen, die durch die Machtvertikale entstanden sind. Außerdem dient die ONF als Kaderreserve, sie ist auf Verbandsebene in der Wirtschaftspolitik aktiv und kontrolliert vor allem regionale Behörden im Beschaffungswesen und bei der Umsetzung von präsidialen Entscheidungen. Durch die enge Anbindung an die Präsidialadministration ist die ONF allerdings zentral gelenkt. Sie ist geprägt durch ein Verständnis von Gesellschaft, die durch den Staat von oben mitgestaltet wird.1
Präsident Wladimir Putin ist Anführer der Volksfront, die seit 2013 als Bewegung einen eigenen Rechtsstatus besitzt. NGOs, Berufs- und Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und andere gesellschaftlich aktive Organisationen machen den Kernbestand der ONF aus. Ko-Vorsitzende und Mitglieder des Exekutivkomitees sind hochrangige Personen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaftsverbänden.
Der Name Volksfront erinnert einerseits an Parteikoalitionen in der Kommunistischen Internationalen, aber auch an die Unabhängigkeitsbewegungen, die sich gegen Ende der Sowjetunion in zahlreichen Republiken bildeten. Andererseits werden ONF-Mitglieder in der Umgangssprache auch als frontowiki bezeichnet, was im Russischen auf die sowjetischen Frontsoldaten im Großen Vaterländischen Krieg anspielt. Laut ONF-Statut2 kämpfen die frontowiki für einen „starken, freien und souveränen Staat“3.
Kaderreserve für Parlamente und Verwaltung
Der Gründungszeitpunkt vor den Dumawahlen 2011, als die Zustimmungswerte von Einiges Russland einen Tiefpunkt erreichten, weist auf eine erste Funktion der Volksfront hin: Sie dient als Kaderreserve für höhere Ämter in Parlamenten und in der Verwaltung, die soziale Basis von Einiges Russland sollte dadurch verbreitert werden. Dieses Ziel wurde bei der Dumawahl 2011 allerdings nur teilweise erreicht: Zwar entstammten 80 Abgeordnete der Duma-Fraktion Einiges Russland der ONF und hatten davor teilweise sozialpolitisch einschlägige Berufe wie Arzt oder Lehrer ausgeübt, Abgeordnete mit Erfahrung in der Wirtschaft überwogen aber bei weitem4.
Volkskontrolle der Bürokratie
Die grundsätzliche Bedeutung der ONF besteht darin, dass die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu geordnet wurde: Kontroll- und Aufsichtsfunktionen, die vorher über 40 staatlichen Behörden5 vorbehalten waren, sind nun auch auf eine gesellschaftliche Bewegung delegiert6. Durch den Ausbau der Machtvertikale nahm zwar die Kontrollkapazität des föderalen Zentrums gegenüber den russischen Regionen in den 2000er Jahren zu. Bad governance7, also ineffiziente, intransparente, durch Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit geprägte Regierungsführung, bleibt aber weiterhin eine Konstante staatlichen Handelns in Russland. Eklatant sichtbar wurde dies an den sogenannten Mai-Erlassen, in denen Wladimir Putin sein Programm aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2012 als verbindliches Regierungsziel formulierte. Diese Erlasse werden von Ministerien und Regionalverwaltungen nur formal, schleppend oder gar nicht umgesetzt. Deswegen hat hier nicht nur die Kontrollabteilung der Präsidialadministration8 die Aufsicht, sondern auch Narodnaja Ekspertisa9, ein Monitoringzentrum der ONF, die mit russlandweit derzeit über 16.000 sogenannten „Volks-Experten“ die Umsetzung präsidialer Entscheidungen überwacht. Eine weitere ONF-Initiative ist „Sa tschestnye sakupki“10 („Für ehrliche [staatliche] Beschaffung“): Sie richtet sich gegen Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder11.
Im Dilemma zwischen Kontrolle und Präsidentenloyalität
Staatskapitalismus und autoritäre Modernisierung stoßen an ihre Grenzen, wenn die Bürokratie ineffizient arbeitet. Die ONF stellt einen Versuch dar, durch eine von oben herab gesteuerte „Ersatzdelegierung“12 von Kontrollfunktionen, gesellschaftlichen und öffentlichen Druck auf Verwaltungen der föderalen und regionalen Ebene auszuüben.
Das Dilemma besteht allerdings darin, dass die ONF als verlängerter Arm des Präsidenten diesem gegenüber zu Loyalität verpflichtet ist. Was zwangsläufig (nach dem Motto „Guter Zar, schlechte Bojaren“) zu selektiver Kontrolltätigkeit führt und die Gefahr birgt, dass Kontrolle als Instrument gegen politische oder wirtschaftliche Konkurrenten eingesetzt wird. Die Finanzierung der ONF ist äußerst intransparent13, so trägt sie selbst zur weiteren Überregulierung und Zentralisierung staatlichen Handelns bei – was den erklärten Zielen der Bewegung widerspricht.