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Russki Rock

„Zoi ist tot“ prangt seit Ende Juni in riesigen Lettern auf der Moskauer Viktor-Zoi-Gedenkmauer, der inoffiziellen Pilgerstätte für einen der wichtigsten russischen Rockmusiker. Sein Todestag jährt sich am 15. August.

Viele sahen in dieser Aktion unbekannter „Künstler“ einen symbolischen Sinn: Die Zerstörung des Denkmals für den Mann, der einst die Perestroika-Hymne My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) sang, entspricht ganz und gar dem Zeitgeist.

Wie Letzterer mit der Musik zusammenhängt und warum die Protestsong-Tracklist in Russland noch heute aus Werken längst vergangener Tage besteht, darüber sprach Rus2Web mit Juri Saprykin, Musikkritiker, Publizist und ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Afischa.

Source Rus2Web

Extreme Popularität und ein unglaublicher, geradezu religiöser Status – Viktor Zoi und seine Band Kino / Foto © Dmitriy Konradt

Sie sagten eben, dass Sie praktisch keine aktuelle russische Musik mehr hören. Was sind die Gründe dafür? Worin unterscheiden sich heutige Interpreten von den Künstlern der 1980er und 1990er, die Ihnen so am Herzen liegen?

Also ganz so ist es nun auch nicht. Es gibt immer noch bestimmte Richtungen, die ich verfolge, es sind bloß einfach deutlich weniger geworden. Zum Teil liegt das daran, dass Geschmack sich verändert, zum Teil aber auch an, naja … warum hören Menschen überhaupt Musik? Sie wollen starke Gefühle erleben, sich selbst darin wiederfinden, Schwingungen auffangen, die sich mit dem eigenen Lebensgefühl decken. Die russische Pop- und Rockmusik liefert das alles nicht mehr.

Haben die Stars der Rockmusik in letzter Zeit irgendetwas [Erwähnenswertes] hervorgebracht oder ist ihre Zeit abgelaufen?

Splin zum Beispiel geben Konzerte im Moskauer Sportkomplex Olympiski, und die Riesenhalle ist dann rappelvoll. Diese Band ist extrem gefragt. Die Musiker der 1980er und 1990er, das war die letzte Generation, die es geschafft hat, zu Nationalhelden zu werden, und nach Splin oder Korol i Schut gibt es keine Band mehr, die solche großen Hallen füllen könnte.


In den 1980er Jahren war die sozial relevante und inhaltlich aussagekräftige Musik der Rock, und der formierte sich als Gegengewicht zur konventionellen sowjetischen Unterhaltungsmusik. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre hatten diese Inhalte einiges an Anziehungskraft verloren, scheint mir. Welche Erklärung haben Sie dafür?

Zunächst mal beruhte die Hauptwirkung der Rockmusik Ende der 1980er Jahre nicht auf irgendeiner sozialen Aussage, sondern darauf, dass diese Musiker einfach vollkommen andere Menschen waren – sie sahen anders aus, sprachen eine komplett andere Sprache.

Als ich beispielsweise zum ersten Mal Aquarium hörte – ich glaube, das war der Song Ja smeja (dt. „Ich bin eine Schlange) oder Slushenje mus ne terpit kolessa (dt. „Der Musendienst duldet kein Rad) – also darin war nicht das kleinste Quentchen Soziales. Aber wenn du diese Musik gehört hast, hast du begriffen, dass bestimmte Mauern eingerissen sind.

Alle bisherigen Vorstellungen davon, wie Musiker aussehen und was für Musik sie machen können, welche Wörter man im Russischen aneinanderfügen kann – alles hatte sich komplett verändert oder sollte sich im allernächsten Augenblick verändern.

Die Wirkung dessen, was die Leute Ende der 1980er machten, hing nicht damit zusammen, dass sie irgendwelche verbotenen Themen aufwarfen.


Dieses Explosionsgefühl kam vor allem daher, dass innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe vollkommen unterschiedlicher Musiker auf der Bildfläche erschienen und jeder von diesen Leuten Sachen machte, die auf einer sowjetischen Bühne bis dahin ganz und gar unvorstellbar gewesen waren.

Wenn man heute Russkoje Radio oder Nasche Radio einschaltet oder selbst die Flow-Playlist von Apple Music, da ist einem in etwa klar, was die Leute da singen – alles klingt mehr oder weniger wie das, was man kennt. Mitte der 1980er Jahre aber machten ein paar Leute plötzlich etwas wirklich vollkommen anderes, etwas absolut neues. Da ging es eher um den Effekt der Neuartigkeit und darum, dass sich plötzlich sämtliche Grenzen auflösten, als um irgendwelche sozialen Aussagen.

Ich dachte bei der sozialen Dimension weniger an Aufrufe, auf die Straße zu gehen, als an den allgemeinen Protest gegen Beschränktheit und Einförmigkeit.
Wie hat sich dieser Protest, wie hat sich diese Musik seit Ende der 1980er Jahre verändert? Wie würden Sie die Veränderungen der 1990er und der 2000er Jahre charakterisieren?

Mit überraschend neuen Erkenntnissen kann ich da wohl kaum aufwarten. Klar ist, die zweite Hälfte der 1980er – das war eine Explosion, mit einem Mal tauchten da diese ganzen abgefahrenen Leute auf, die unterschiedlichsten Musiker, und die landeten dann sehr schnell auf der professionellen Bühne und in der kommerziellen Musikindustrie, wofür sie eindeutig nicht bereit waren.

Alle, die damals anfingen, seien es Aquarium, Kino, Kalinow Most oder Grashdanskaja Oborona – alle gingen fest davon aus, dass sie die ganze Sache ausschließlich für sich selbst und für ihre nicht allzu zahlreichen Freunde machten, dass sie lediglich Unannehmlichkeiten zu erwarten hatten und das alles mit Geld und Karriere nichts zu tun hatte. Wer Geld und Karriere machen wollte, musste sich gänzlich anders orientieren. Und dann werden diese Leute nach ein paar Jahren der Mühen und Entbehrungen tatsächlich zu kommerziell erfolgreichen Superstars.


Das war eine Herausforderung, die alle ziemlich dramatisch durchlebten damals, und nicht alle haben das gemeistert.

Ich würde sagen, die letzten Jahre der 1980er und die erste Hälfte der 1990er, das war die Zeit, als diese Musikergeneration sich in der neuen sozialen Wirklichkeit selbst zu finden suchte. Als das für unerschütterlich gehaltene sowjetische Haus mit einem Mal anfing zu bröckeln und man lernen musste, mit einem neuen Status zu leben – dem eines erfolgreichen, gut verdienenden Musikers.

Meiner Meinung nach waren die 1990er für die russische Musik eine ziemlich verhängnisvolle Zeit. Es gab eine ganze Menge guter Sachen, zum Beispiel Grashdanskaja Oborona und die ihnen nachfolgenden sibirischen Punkgruppen, die in dieser Realität nicht heimisch wurden; oder der ganze aus Moskau und Tjumen stammende Underground, also Gruppen wie Solomennye Jenoty (dt. Die Stroh-Waschbären“), Banda Tschetyrjoch (dt. Die Viererbande“) und so weiter – das waren Leute, die sich komplett außerhalb der Medienöffentlichkeit befanden, die die neurussische Weltordnung explizit ablehnten und sich ihr - nicht auf der sozialen, sondern eher auf der existenziellen Ebene – widersetzten.

Ende der 1990er begann dann bereits eine völlig andere Geschichte, Mumi Troll (dt. Der Mumin-Troll“) tauchte auf und nach ihnen eine regelrechte Welle von Bands, die so einen solide gemachten, westlich orientierten Trend-Pop mit menschlichem Antlitz und lebendigen, mysteriösen Texten machen. Unter anderem entstand auf dieser Welle auch [der Rock-Radiosender] Nasche Radio. Das war in gewisser Weise das Ende des Undergrounds und der Beginn einer neuen Popmusik-Ära.


Naja und alles, was dann in den 2000er Jahren kam … da ist ja im Prinzip alles bekannt. Allmählich bildete sich der russische Hip-Hop heraus, der heute, Mitte der 2010er Jahre, endgültig zur neuen Volksmusik geworden ist, zum russischen Chanson 2.0.

Andererseits verabschiedeten sich allmählich auch alljene Musiker, die seit den 1980er, 1990er Jahren dabeigeblieben waren und mit unterschiedlichem Erfolg weiter interessante oder auch uninteressante Sachen gemacht hatten. Abgesehen vom Hip-Hop in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist in den 2000er Jahren in Russland wahrscheinlich nichts Neues entstanden.

Und warum nicht? Wollen die Leute nichts Neues hören?

In den 1980ern war das, was einen jungen Musiker vor allem reizte, eine gewisse Weltflucht, der Versuch, einer drückenden und verhassten Realität zu entfliehen und sich eine ästhetische Nische zu suchen, in der man sich cool und stark, in der man sich als Held fühlen konnte.

In den 2000ern war der Anreiz ein vollkommen anderer – vor der Wirklichkeit fliehen wollte jetzt keiner mehr, im Gegenteil, man wollte sich allmählich in ihr einrichten. Die Rezepte dafür waren ja bereits da. Mach es wie Mumi Troll oder wie Semfira, halte dich an Splin oder auch an Korol i Schut. Bitte sehr, es gibt jede Menge Beispiele dafür, wie man es machen muss, wenn man Erfolg haben will.

Verlaufen die Entwicklungslinien von Musik und Gesellschaft deckungsgleich?

Nein, die Musik und die Gesellschaft bewegen sich in unterschiedliche Richtungen. Das heißt, es gibt vermutlich irgendeine Korrelation, aber die ist schwer zu erfassen, besonders wenn man so dicht dran ist. Im Nachhinein, mit einem Abstand von 10 bis 20 Jahren erkennt man die Zusammenhänge, aber so auf Anhieb ist das kaum zu erfassen.

Sie haben zu den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz eine Tracklist erstellt …

Richtig, das habe ich damals.

Auf dieser Liste fanden sich all die üblichen Verdächtigen der 1980er und 1990er, darunter der besagte Zoi-Titel Peremen (dt. „Veränderungen“), die dort so offen gefordert werden …

Nennen Sie mir mal einen weiteren Titel von Viktor Zoi, der irgendeine Forderung beinhaltet.


Viele seiner Lieder haben einen offensichtlichen Subtext.

Nein. Die Leute machen sich immer an Peremen fest, als ob es das wäre, was Zoi ausgemacht hat. Meiner Ansicht nach hat es das überhaupt nicht. Seine extreme Popularität und sein unglaublicher, geradezu religiöser Status hatten überhaupt nichts mit dem Lied My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) zu tun.

Wenn in Zois Musik der Zeitgeist zum Ausdruck kam, dann darin, dass er auf seinen letzten Alben ein unwahrscheinlich romantisches und zugleich äußerst tiefgründiges Bild vom Krieg als dem natürlichen Zustand der Menschheit entworfen hat. Einem Krieg, an dem teilzunehmen weder Sünde noch Übel oder Fluch ist, sondern ein ganz natürlicher Teil des Lebenskreislaufs, wenn auch nicht der erhebendste.


Das ist ein uraltes östliches Verständnis, das vor allem den jungen Menschen in jener extrem schweren Zeit damals offenkundig auf der Seele lag. Ich meine Krieg nicht im Sinne mit Waffengewalt ausgetragener Konflikte, sondern als Zustand des Konflikts mit der Realität auf den verschiedensten Ebenen.

Wenn es bei Zoi eine historische Mission gibt, dann nicht die, dass er die Leute darauf vorbereitet hat, vors Weiße Haus oder zum Bolotnaja-Platz zu ziehen, eher hat er sie für die zahlreichen Konflikte mit der Realität gewappnet, mit denen seine Hörer in den 1990er Jahren konfrontiert wurden. Zoi hat ihnen geholfen, diese Konflikte zu überstehen … denen, die noch am Leben geblieben waren.

Gibt es einen Viktor Zoi 2016?

Nein, den gibt es nicht. Es gibt niemanden, in dessen Liedern die Menschen heute Antworten auf die großen Fragen des Lebens suchen würden, dessen Lieder nahezu religiösen Status hätten.

Sollte denn ein Musiker seiner politischen Haltung außerhalb seiner Musik Ausdruck verleihen?

Ein Musiker sollte gar nichts. Du bist ein König: Leb allein auf deinem Thron. Ein Musiker macht das, was seiner Natur entspricht. Es gibt Leute, die kann man sich sofort auf den Barrikaden vorstellen, die begeben sich gerne in die Politik. Und es gibt solche, denen liegt das gänzlich fern. Das sind unterschiedliche Temperamente und unterschiedliche Schaffens- und Lebenswege. In dieser Frage lässt sich unmöglich eine allgemeingültige Regel aufstellen.

Apropos Politik in der Musik. Dass Juri Schewtschuk [damals] nach Grosny gefahren ist, wird nicht als Politik wahrgenommen – er hat ja eh alles, was er dort zu Gesicht bekommen hat, in Musik umgesetzt. Heutzutage machst du entweder Musik und redest generell nicht über soziale, politische Themen oder du redest drüber, aber dann wirst du automatisch zur politischen Figur …

Ich sehe Schewtschuks Reise nach Grosny definitiv nicht als musikalisches Ereignis. Er hat da am Lagerfeuer gesessen und zur Gitarre Poslednjaja Ossen (dt. „Der letzte Herbst“) gesungen. Und politisch war an der Aktion offen gestanden auch nichts. Es war eine ganz natürliche menschliche Geste: Da sterben unsere Jungs, sie machen dort eine schwere Zeit durch, und ich möchte bei ihnen sein.

Das Lied Kapitan Kolesnikow pischet vam pismo (dt. „Kapitän Kolesnikow schreibt euch einen Brief; Kapitänleutnant Dimitri Kolesnikow war als Besatzungsmitglied der im August 2000 gesunkenen Kursk ums Leben gekommen – Anm.d.R.), das er später schrieb –  einfach herzzerreißend - das ist auch so eine menschliche Geste. Es ist nicht gegen Putin, es ist nicht für Putin, es ist über Menschen, die auf dem Grunde des Meeres für ihre Heimat sterben, während diese Heimat sie längst vergessen hat.


Heutzutage kommt es vor, dass selbst eine einfache menschliche Geste am Ende eine Fernseh-Hetzjagd und abgesagte Konzerte zur Folge hat, wie es zum Beispiel Andrej Makarewitsch erlebt hat.

In der Situation eines tiefgreifenden inneren Konflikts, eines kalten Bürgerkriegs, wie wir ihn im Frühjahr 2014 erlebt haben – einer Situation, die gerne als völliger Triumph und als große Einigung des Volkes im Rausch der Begeisterung über die Krim-Annexion beschrieben wird, die in Wirklichkeit aber ein innergesellschaftlicher Konflikt von unglaublicher Heftigkeit war –, in einer solchen Situation kommt jedes zu diesem Konflikt geäußerte Wort einem Schuss gleich. Das liegt auf der Hand, und dafür braucht man nicht Makarewitsch zu sein.

Du postest auf facebook ein Foto von deinem Kätzchen, und sofort melden sich mehrere hundert Kommentatoren zu Wort, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen und den Chochly dieses und den Moskali jenes anlasten. Wenn du dich dann auch noch zu diesem Konflikt äußerst, selbst wenn du einen allgemein menschlichen, humanistischen oder sonst einen Standpunkt vertrittst, wirst du für einen Teil der Gesellschaft auf jeden Fall zum erbitterten Feind.

Seit Ende der 1980er Jahre hat die russische Gesellschaft so etwas nicht gesehen, eine derart offen an den Tag gelegte Konfrontation.

Auf Ihrer Bolotnaja-Tracklist fanden sich neben Viktor Zoi Stücke von Aquarium, AuktYon, Grashdanskaja Oborona, ein paar Songs von DDT und Kasta. Welche aktuelleren Titel könnten auf Ihrer Protest-Tracklist von 2016 stehen?

Auf den Kundgebungen [damals] habe ich immer davon geträumt, Uprising von Muse aufzulegen und den Song bis zum Ende rauf und runter zu spielen. Alles andere ist dann schon ein Kompromiss. Was Besseres ist mir zu dem Thema bislang nicht eingefallen.

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Russische Rockmusik

„Ein fremder Baum, der in unsere Erde gepflanzt wird, kann keine Früchte tragen“1 , so bewertete die Zeitung Komsomolskaja Prawda im Jahr 1982 die Rockband Maschina Wremeni. Dieses Zitat  spiegelt sinnfällig das jahrzehntelange Misstrauen wieder, das das sowjetische Regime gegenüber einheimischen Künstlern empfand, die musikalische Formen oder Ideen aus dem Westen auf russische Bühnen brachten.

Die Rockmusik in der Sowjetunion orientierte sich stark an Vorbildern aus England oder den USA. Allerdings handelte es sich beim russischen Rock, der sich seit den späten 1960er Jahren entwickelte, nicht um eine bloße Nachahmung des Westens. Die politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion bewirkten, dass Rockmusik von Anfang an einen oppositionellen Charakter hatte.

Künstler und Fans maßen den Texten eine ausgesprochen große Bedeutung bei, in denen sich häufig verschlüsselte kritische Aussagen über die sowjetische Gesellschaft verbargen. Auch in Kleidung und Verhalten bildeten die Rockmusiker einen Gegenentwurf zu dem, was die offizielle sowjetische Musikkultur ausmachte.

Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt

Staat und Partei in der Sowjetunion betrachteten schon seit dem Oktoberumsturz 1917 alles, was an musikalischen Neuerungen aus dem Westen kam, mit ausgeprägtem Misstrauen. Als „Grunzen eines metallenen Schweines“ und „Balzgequake eines riesigen Frosches“ verunglimpfte der Schriftsteller Maxim Gorki etwa den Jazz. Dennoch gelangte – selbst unter Stalin – unablässig westliche Musik in die Sowjetunion. Als Mittler fungierten westliche Radiosender, aber auch sowjetische Diplomaten, die Schallplatten für ihre Kinder aus Westeuropa oder Amerika mitbrachten.

Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs

Das Jahr 1964 bedeutete nicht nur für Europa eine Zeitenwende. The Beatles dominierten – nach ihrem Durchbruch in Großbritannien und Westeuropa – die amerikanische Hitparade. Ihre auf Schallplatte oder Tonband ins Land geschmuggelte Musik verursachte auch in der Sowjetunion nachhaltige Erweckungserlebnisse. Das „Yeah, yeah, yeah“ aus dem frühen Beatles-Hit She Loves You ertönte als die kommunistischen Funktionäre verschreckender Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Da die englischen Top-Gruppen in der Sowjetunion nicht auftreten durften, heimsten Bands große Erfolge ein, die Musik und Auftreten der Briten nachahmten.2

Die Politik der bedingten Duldung ermöglichte in den 1970er Jahren die Existenz von vielen frühen Rockgruppen wie zunächst Maschina Wremeni (dt. „Zeitmaschine“) und später auch der von Boris Grebenschtschikow gegründeten Band Aquarium. Seit den 1970er Jahren verstanden sich viele Rockmusiker als Akteure der Gegenkultur. Während einige Künstler wie Alexander Gradski zumindest im Fernsehen und auf Schallplatte auch Lieder von „offiziellen“ Komponisten sangen, lehnten viele andere die staatlich geförderte Unterhaltungsmusik der sogenannten Estrada ab.

Generation der Hausmeister und Wächter

Die Machthaber missbilligten die Rockmusik nicht allein wegen ihrer musikalischen Form. Besonderen Argwohn erfuhren die Texte, die sich oft kritisch mit den sowjetischen Gegebenheiten auseinandersetzten. Sie würden angeblich „fremde Ideale und Auffassungen“ propagieren, wie es in einer Verordnung des Kulturministeriums hieß. Ohne die Möglichkeit, offizielle Konzerte zu geben oder Schallplatten zu veröffentlichen, mussten sich die Musiker der sogenannten „Generation der Hausmeister und Wächter“ ihren Lebensunterhalt in einfachsten Brotberufen verdienen. Häufig fanden Konzerte – die sogenannten kwartirniki (von kwartira, dt. „Wohnung“) – in heimischen Wohnzimmern statt. Die Alben erschienen als Kassetten im Samisdat und wurden von Gerät zu Gerät weiter überspielt, bis statt der Musik nur noch ein Rauschen zu hören war.

Soundtrack der neuen Zeit

Das äußere Erscheinungsbild der Rockmusiker mit ihren langen Haaren, westlichen Designerjeans und Basketballschuhen erregte das weitere Missfallen der Funktionäre. Die Rockmusik erschien den Jugendlichen im Gegensatz zur offiziellen Musikkultur mit ihren allgegenwärtigen Baritonen authentisch: Sie eröffnete ihnen glaubwürdige emotionale Gegenwelten zum offiziellen sowjetischen Raum. Rockmusik wirkte in der Zeit von Perestroika und Glasnost durchaus systemverändernd: Die Musik von Gruppen wie Aquarium, Kino oder DDT bildete gleichsam den Soundtrack der neuen Zeit. Seit Anfang der 1980er Jahre gab es mit dem Leningrader Rock-Klub sogar eine offizielle – wenngleich streng vom Geheimdienst KGB beobachtete – Institution, die Musikern Auftrittsmöglichkeiten verschaffte.

Für die russische Rockmusik sind die Texte von besonderer Bedeutung. Viele Lieder wie Poworot (dt. „Wendung“) von Maschina Wremeni oder Chotschu peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) von Kino waren offen gesellschaftskritisch. Die Texte anderer Lieder erschienen melancholisch und unverständlich oder hatten einfache und alltägliche Inhalte. Sie vermittelten den Zuhörern, auch wenn sie nicht prononciert systemkritisch waren, ein Gefühl von Freiheit und begleiteten damit den gesellschaftlichen Umbruch der 1990er Jahre.

Den gegenkulturellen Nimbus hat die Rockmusik heute in Russland wie im Westen längst verloren, auch wenn die seit den 1970er Jahren tätigen Musiker immer noch aktiv sind und junge Musiker, die ein nonkonformistisches Image pflegen, ebenfalls ihr Publikum finden. Längst bedienen sich aber auch Rechts- oder Linksextremisten der musikalischen Ästhetik des Rock. Den Machthabern jagt die Rockmusik keine Angst mehr ein, wenngleich ihre Protagonisten – wie Juri Schewtschuk (DDT) – immer wieder regierungskritisch Stellung beziehen und dafür auch – wie Andrej Makarewitsch (Maschina Wremeni) – bedrohliche Medienkampagnen in Kauf nehmen müssen.


-> Mehr zu russischem Rock in diesem Artikel auf dekoder.


1.Komsomolskaja Prawda: Ragu iz sinej pticy
2.Besonders erfolgreich waren die Pojuščie gitary aus Leningrad, die in den späten 1960er Jahren Stadien füllten. Ihre Musik konnte dabei so gut wie niemand hören, weil die technischen Anlagen nicht annähernd ausreichten, um Stadien zu bespielen. Wichtiger war dem Publikum offenkundig ohnehin das Gefühl, Teil eines Konzerterlebnisses zu sein, das sie für ein oder anderthalb Stunden in eine andere Welt entführte. Zwar kamen die Pojuščie gitary in den offiziellen Medien kaum vor, ihre Musik war aber immerhin nicht verboten, und vereinzelt konnten auch Schallplatten mit Beatmusik erscheinen.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)