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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Der Teppich an der Wand

„Überall auf der Welt legt man Teppiche auf den Boden. Warum hängen wir sie an die Wand?“ Selbst für Russen ist die Antwort auf diese Frage alles andere als einfach. Das, was für viele heutzutage als ein Symbol der Geschmacklosigkeit gilt, gehörte in sowjetischen Wohnungen der 1970er und 1980er Jahre zum Interieur, genauso wie das gute Porzellan oder das Kristallgeschirr hinter den Scheiben der lackierten Schrankwand (russ. „Stenka“).

Auch heute sind die Teppiche, vor allem in den Wohnungen älterer Menschen, keine Seltenheit. In Beiträgen und Diskussionen in Internetforen wird vor allem eines deutlich: Der Wandteppich wird als spezifisch russische Eigenart und somit als ebenso erklärungsbedürftig wie identitätsstiftend gewertet.

Heute ist der Wandteppich häufig ein Objekt ironischer Fotoposen in Sozialen Netzwerken  / Foto © pogovorim_mirtesen.ru

Teppiche hingen bereits in den Stalinbauten an den Wänden und bedeckten auch Tische, Sofas, Sessel und den Boden, aber in den 1970er Jahren wurden sie zum Massenphänomen. Teppiche waren cool, teuer und Mangelware (defizit). Da die Mode zuerst bei der Intelligenzija und den Funktionären aufkam, galt sie bald als Zeichen von Status und Prestige. Echte Teppiche sind eigentlich die mit den orientalischen Mustern, aber beliebt waren auch die „mit den Hirschen“, die man gar nicht auf den Boden legen konnte.

Nach dem Teppich-Boom in den 1970er und 1980er Jahren wurde im Laufe der 1990er der Wandteppich zum Inbegriff des schlechten Geschmacks der Großeltern, ein Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, das man vergaß, abzuhängen. Sich vor dem Wandteppich fotografieren zu lassen, was in der Sowjetunion zum guten Ton gehörte, gilt mittlerweile als gestrig. Bildstrecken in Sozialen Netzwerken ironisieren das Portrait vor dem Wandteppich oder laden es erotisch auf in Kompositionen, die an die Odalisken von Henri Matisse erinnern.

Zugleich bleibt der Wandteppich Symbol für Ehe und Hausstand und dient gelegentlich als Hochzeitsgeschenk oder Aussteuer. Im Internet sind Fotos von Brautpaaren vor dem Teppich zu finden, oft in einem Park. Der Teppich hinter den Brautleuten wird von den Frauen der Trauzeugen hochgehalten, die auf den Schultern ihrer Partner sitzen.1

Das orientalische Zimmer als Ort der Zuflucht

Die Herkunft des Wandteppichs scheint einerseits im Orient-Boom des 19. Jahrhunderts zu liegen, andererseits in einer russischen Tradition, in Innenräumen alle Oberflächen reich mit Textilien auszuschmücken.2 Dabei begann der Trend zunächst im westlichen Europa und in den USA: Schriftsteller, Künstler und Architekten begannen sich nach der Eroberung Algiers 1830 für den islamischen Orient zu interessieren. Britische Adelige und amerikanische Großbürger ließen sich Schlösser und Villen im orientalischen oder maurischen Stil bauen, mit Ornamenten reich verziert. Inseln der Flucht aus dem hektischen Alltag, Orte orientalischer Genüsse wie Kaffeehäuser, Restaurants und Ausstellungs-Pavillons waren im orientalischen Stil gehalten. Persische Teppiche erlebten seit den 1860er Jahren einen regelrechten Boom, und jedes reiche Haus musste zumindest ein „orientalisches Zimmer“ oder eine orientalische „Ecke“ haben.3

Die großen Warenhäuser richteten Orient-Abteilungen ein. Dabei wurde die Qualität der Handarbeit besonders betont. Auch Einrichtungszeitschriften förderten den Trend weg vom strengen Französischen Stil hin zu den dunkleren, warmen Tönen türkischer Polster, Vorhänge und Teppiche. Zwischen 1880 und 1915 waren in Westeuropa und den USA mit Teppichen gepolsterte Möbel in Mode. Die günstigeren Teppiche dafür kamen aus dem Mittleren Osten, vor allem aus Teilen Russlands, namentlich dem Kaukasus und den turkmenischen Gebieten Zentralasiens.4

Diese Mode erfasste auch die Eliten des Zarenreiches. Fotos aus den reichen russischen Häusern entsprechen ähnlichen Aufnahmen aus Frankreich, England oder den USA: Reich und bis unter die Decke mit orientalischen Teppichen und Kissen dekorierte Räume oder Ecken mit Poufs, mit Teppichen gepolsterte Sessel und Diwane laden zum Verweilen und Träumen ein. Oft wurden über den Teppichen nach kaukasischer Manier Waffen angebracht.5

Sowjetische Kontinuitäten

In Russland waren die „orientalischen Zimmer“ vor dem Ersten Weltkrieg ein bei der adligen Jugend, aber auch in Künstlerkreisen beliebter Treffpunkt. Nach der Revolution gingen sie mit in die Emigration. Aber die Mode wurde von den sowjetischen Eliten übernommen. In der jungen Sowjetunion erhielt die Teppichproduktion durch staatliche Aufträge eine neue Dimension: Turkmenische, aserbaidschanische, armenische, ukrainische, moldawische, kasachische und dagestanische Manufakturen produzierten nun hochwertige handgeknüpfte Teppiche für die ganze Sowjetunion und für den Export. Hinzu kam die maschinelle Produktion von Teppichen für die breite Nachfrage. Sowjetische Teppiche waren auch in Europa und in den USA in den 1920er Jahren eine ernstzunehmende Konkurrenz.6

Nach 1945 verbreiteten sich in einer günstigen Variante gefranste Bildwandbehänge (russ. „Schpalery“) mit Rehen, Bären, Schwänen oder röhrenden Hirschen, aber wer es sich leisten konnte, besaß echte, wollene Teppiche mit orientalischen Mustern.7 So ein Teppich konnte zu Sowjetzeiten ein Jahresgehalt kosten.

Prestigeträchtiges Symbol des Luxus

Fotos sowjetischer urbaner Interieurs der 1950er Jahre zeigen die Teppiche als Ausdruck gehobener Wohnlichkeit, gerade auch in Künstlerkreisen, der Bohème, aber auch bei Lehrern und Ingenieuren. Manche Aufnahmen aus der Zeit zeigen Familien in Interieurs, in denen Boden, Wände und Sofa, zuweilen sogar der Tisch mit Teppichen bedeckt sind, sodass zumindest im Bild überhaupt keine freien Flächen sichtbar sind.

Nach einer kurzen Zeit in den 1960er Jahren, als ein minimalistischer Einrichtungsstil modern war und die Ratgeberliteratur eine radikale Entrümpelung der kleinbürgerlichen Interieurs von überflüssigem Kitsch verlangte, war in den 1970er Jahren die Gemütlichkeit Trumpf, und die Teppiche vermehrten sich inflationär. Mit der massenhaften Verbreitung nahm der Anteil industriell hergestellter Teppiche zu. Auch Importe aus Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei waren auf dem Markt.

Die Sowjetunion versprach ein Leben im Wohlstand, und die Teppiche waren ein prestigeträchtiges Symbol des Luxus. Geschätzt waren vor allem Teppiche aus Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien, Armenien und Dagestan als wertvolle Kunstgegenstände.8

Staubfänger, nostalgisches Kultobjekt oder therapeutischer Rückzugsort

Heute scheiden sich die Geister. „Für mich ist es kulturlos, wenn das Bett neben einer kahlen Wand steht, als wäre es eine Mönchskammer oder Gefängniszelle“, „mit ihm ist es irgendwie gemütlicher und für die Seele wärmer“, „wenn ich ins Zimmer komme, habe ich das Gefühl, ich würde diesen Teppich umarmen, wenn ich nur könnte“. Andere fragen sich dagegen: „Wie schwachsinnig muss man sein, um einen Teppich in seiner stinkigen Chruschtschowka aufzuhängen?“ Der Teppich sammle Staub, diene als Unterkunft für Zecken, Mücken und andere Parasiten, der Raum sehe kleiner aus, primitiv, geschmacklos, eben echte „asiattschina“.9 Generell wird darüber sinniert, ob der Wandteppich eine Eigenart oder eine Geschmacklosigkeit ist.

Während ein Teppich an der Wand im heutigen Russland den einen als Zeichen von Kulturlosigkeit und Sowok gilt, verkünden andere in Einrichtungsratgebern neuerdings die Rückkehr des Wandteppichs und zeigen modische Varianten. Das Online-Medium Lenta.ru etwa berichtet über die Rückkehr der Wandteppiche in die russischen Wohnzimmer im Zuge der Sowjetnostalgie und findet kulturelle und psychologische Erklärungen: Die Wandteppiche seien nicht nur eine sowjetische Besonderheit gewesen, sondern bis heute Teil des sowjetischen visuellen Gedächtnisses. Sie würden Vertrautheit vermitteln und angenehme Erinnerungen an die sowjetische Stabilität und Geborgenheit auslösen, an Feste und Geselligkeit, aber mit ihrer Ornamentik auch an nicht-russische Exotik, die Teil des sowjetischen (imperialen) Alltags war und die außerhalb der Bilder der sowjetischen Vergangenheit in Vergessenheit geriet. Der Teppich spiele gar eine wichtige therapeutische Rolle, indem sein Anblick bestimmte Reaktionen auslöse, angenehme Erinnerungen an die eigene Jugend, das Gefühl der Einzigartigkeit und Ruhe durch Selbstvergewisserung.10


1.siehe z.B. Kaifolog.ru: Kovrovyje prikoly 
2.zum Orient-Boom vgl.: Ittig, Annette (1992): Ziegler's Sultanabad Carpet Enterprise, in: Iranian Studies, Vol. 25, No. 1/2: The Carpets and Textiles of Iran: New Perspectives in Research (1992), S. 103-135; Roxburgh, David J. (2000): Au Bonheur des Amateurs: Collecting and Exhibiting Islamic Art, ca. 1880-1910, in: Ars Orientalis, Vol. 30: Exhibiting the Middle East: Collections and Perceptions of Islamic Art (2000), S. 9-38; Roth, Rodris (2004): Oriental Carpet Furniture: A Furnishing Fashion in the West in the Late Nineteenth Century, in: Studies in the Decorative Arts, Vol. 11, No. 2, S. 25-58; zu Russland vgl.: berlogos.ru: Kover na stene: tradicii i sovremennost 
3.Ittig, Anette (1992), S. 108. Orientalische Zimmer tauchten auch in der Literatur auf, etwa in Emile Zolas Erzählung Au bonheur des dames (1884). Gemälde wie die Odalisken des Orientalisten Henri Matisse zeigen die dekorativen, an Ornamenten reichen Interieurs noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 
4.Roth, Rodris (2004), S. 25 
5.Der russische Schriftsteller Michail Lermontov beschrieb das orientalische Zimmer mit Waffen in den 1830er Jahren in seinem Romanversuch Fürstin Ligovskaja (1836/37, publ. 1882). 
6.Ittig, Anette (1992), S. 121 
7.22-91.ru: Sovetskie kovry ukrašali steny i poly 
8ebd. Ein spätsowjetischer Katalog für echte Teppiche von Berezka findet sich hier: Back-in-ussr.com: Katalog kovkov iz SSSR 
9.vgl.: lovehate.ru: Pro kovry na stenach 
10.Lenta.ru: Ego vorsejšestvo: Bessmertnyje kovry vozvraščajutsja na steny rossijskich kvartir  
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