Die 1990er Jahre hatten in Russland zwei Seiten: eine sehr üble und eine sehr hoffnungsvolle. Im Foto-Flashmob, der kürzlich das russische Internet erfasste und es mit Bildern des zwiespältigen, dabei aber so bedeutsamen Jahrzehnts überschwemmte, kamen sie beide zum Ausdruck. Sergej Kusnezow versucht mit seinem Essay auf inliberty.ru, hinter die Oberfläche der Fotos zu schauen. Was sagt diese Art und Weise, mit den 1990ern umzugehen, diese Uneinigkeit in Bezug auf die Vergangenheit, über das heutige Russland aus? Wie kann die Erinnerung vom gesellschaftlichen Spaltkeil zu einer Quelle gemeinsamer Identität und gemeinsamer Zukunft werden?
Mit einer allgemeingültigen Einordnung der 1990er Jahre tut sich die russische Gesellschaft bis heute schwer. Die beiden existierenden Lesarten konkurrieren nicht einmal miteinander – sie heben sich gegenseitig auf und schließen die Möglichkeit eines Dialogs aus. Für manchen war es „die beste Zeit unseres Lebens“, „ein Jahrzehnt der Freiheit und Hoffnung“, der Mehrheit aber ist die Formel „die üblen 1990er“ [wörtlich „wilden“ - dek] weitaus näher. Emotional sind diese beiden Ansätze so verschieden, dass es nahezu unmöglich scheint, darauf etwas Verbindendes aufzubauen.
Wenn wir uns nicht miteinander darüber verständigen, wofür dieser Abschnitt in der Geschichte Russlands steht, können wir keinen nationalen Konsens erreichen.
Dabei sind die 1990er eine Schlüsselphase der jüngsten russischen Geschichte. Alles, womit wir heute zu tun haben, stammt aus dieser Zeit: die Korruption, die rigorose Unterdrückung der Opposition, die Kriege an den Grenzen, die Polittechnologien, der Wirtschaftsliberalismus, die Reisefreiheit, der freie Zugang zu westlicher Technologie, zu Büchern, Filmen und Musik … mit anderen Worten, alles Schlechte und alles Gute. Nicht zufällig entstammt die überwiegende Mehrheit der Politiker und der Medienpersonen den 1990ern.
Wenn wir uns nicht miteinander darüber verständigen, wofür dieser Abschnitt in der Geschichte Russlands steht, können wir keinen nationalen Konsens erreichen. Und das heißt, wir können uns nicht weiterbewegen. Meines Erachtens muss der Ausgangspunkt die Anerkennung der Tatsache sein, dass die 1990er Jahre für Russland traumatisch gewesen sind, und zwar sogar für diejenigen, die diese Jahre als eine Zeit der Freiheit und Hoffnung in Erinnerung haben. Wer die Freiheit des Wortes, des Glaubens und das Recht auf Freizügigkeit herbeisehnte, rechnete nicht damit, dass es zu diesen Freiheiten diverse Extras dazugeben würde: die Kriminalisierung des Alltags, bettelnde alte Frauen in den Metrounterführungen und Panzerschüsse mitten im Zentrum der Hauptstadt. Diejenigen, die sich über die neuen Freiheiten freuten und über die Gewalt und die Armut hinwegzusehen versuchten, sagen heute: „aber dafür hatten wir damals Hoffnung“. Doch auch diese Haltung ist eine Art und Weise, das „Neunziger-Trauma” zu überwinden.
(Natürlich gab es unter den heutigen Flashmob-Teilnehmern auch solche, die zu jung waren, um irgendein Trauma zu erleiden: In den 1990ern begannen sie gerade erst auf eigenen Beinen zu stehen und nahmen das Leben, wie es eben war – mit Kriminellen, Flüchtlingen, Bettlern und Drogentoten. Wie zu jeder anderen Zeit auch gab es Leute, die so sehr in ihr inneres und persönliches Leben versunken waren, dass sie überhaupt nicht bemerkten, was sich draußen vor ihrem Fenster abspielte. Für die meisten Menschen in Russland aber war es dennoch eine traumatisierende Erfahrung.)
Zu einem wesentlichen Teil beruht der ideologische Sieg von Putins Politik darauf, dass sie im Unterschied zu ihren Gegnern dieses Trauma anerkannt hat. Das Modell der „wilden 1990er“ wurde von der Gesellschaft angenommen, weil es das einzige Modell war, in dem das allgemeine Katastrophengefühl Widerhall fand, das diese Jahre begleitet hatte – oder zumindest die Erinnerungen daran begleitet. Natürlich hat dieses Modell Mängel – unter anderem ignoriert es die Tatsache, dass die heutige Zeit das Erbe der 1990er Jahre in sich trägt, aber wie viele Elemente aus der Putinschen Mythologie scheint es für sich allein zu stehen und wirkt recht stabil: Versuche, es frontal anzugreifen, schlagen fehl, sowohl in den Medien als auch im direkten Gespräch.
Zu einem wesentlichen Teil beruht der ideologische Sieg von Putins Politik darauf, dass sie im Unterschied zu ihren Gegnern dieses Trauma anerkannt hat.
Aber schließlich kann kein historisches Modell ewig funktionieren – erst recht nicht in Russland mit seiner Tradition der „unvorhersagbaren Vergangenheit“. Vor ein paar Jahren hörte ich in einer russischen Provinzstadt, wie sich die Leute beschwerten, in den 1990ern sei es besser gewesen – damals seien es respekteinflößende junge Burschen gewesen, die alles geregelt hätten, heutzutage seien es „die Bullen“, die sich alles untertan machten. Mir persönlich leuchtet nicht ein, was an Banditenwillkür so viel besser sein soll als an Polizeischikane – doch damals begann ich zu ahnen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Neunziger-Nostalgie in Mode kommen würde.
So war es auch mit der Sowjetzeit. In den 1990er Jahren behauptete kein Mensch, unter Breshnew sei das Essen gesünder und die Filme besser gemacht gewesen oder hätten mehr Seele gehabt: Die Mehrheit hatte es auf die an den Verkaufstresen neu aufgetauchten Snickers abgesehen und schaute auf Video Raubkopien der neuesten Hollywoodfilme. Für die Rehabilitierung des Sowjetischen brauchte es die nostalgische Einstimmung durch die „Alten Lieder über das Wesentliche“ und die ewigen Erinnerungen an die „Elektronika“-Spiele, den Tee mit dem Elefanten und weitere Wahrzeichen einer für immer vergangenen Zeit. Eine Zeitlang existierte diese Nostalgie in friedlichem Auskommen mit den Erinnerungen an den Mangel, die Schlangen und die miese Qualität der sowjetischen Konsumgüter. Und nach nur etwa zehn Jahren begann die junge Generation ernsthaft zu glauben, es sei tatsächlich ein „großes Land“ zerstört worden und nicht ein Reich der Armseligkeit.
Die Nostalgie streitet nicht mit der Ideologie: Sie ignoriert sie. Darin liegt auch die einende Bedeutung des heutigen Flashmobs – ein Kindheits- oder Jugendfoto von sich kann jeder posten, ob er nun an die üblen 1990er glaubt oder sich an diese Zeit als Jahre der „Freiheit und Hoffnung“ erinnert.
Die Geschichte, und zwar die der Mode vor allem, zeugt davon, dass Nostalgiewellen so unvermeidlich kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Anscheinend setzt jetzt eine Phase der Neunziger-Nostalgie ein – und das eröffnet die Chance, diese Periode realistisch einzuordnen.
Die Frage ist, wie wir das Modell der „wilden 1990er“ ergänzen können. Wie wir es so verändern können, dass es nicht länger für die Negation der Freiheit und die Stärkung des staatlichen Paternalismus arbeitet. Ich denke, man muss anerkennen, dass das Land damals nicht von den Politikern, den neuen Businessmen oder den Ökonomen gerettet wurde: Die ganz normalen Leute waren es, die es gerettet haben.
Sie waren es, die für ein jämmerliches Gehalt als Lehrer oder Ärzte gearbeitet haben, sie waren es, die nicht in den Westen gegangen sind und weiter in Russland Wissenschaft betrieben haben. Die in karierten Reisetaschen Konsumgüter aus dem Ausland angeschleppt, in den Gärten Kartoffeln angebaut und in den Stadtwohnungen Kaninchen gehalten haben. Sie waren es, die sich als Kleinunternehmer versuchten und Reifendienste und Servicestationen, Cafés und Kioske eröffneten und dabei beim Gedanken an die neuen Banditen und das Gesundheitsamt zitterten. Sie waren es, die nach Wegen suchten, ihre Familien zu ernähren und für sich ganz neue Berufe entdeckten, die in dem Land, das gerade in die Brüche gegangen war, keiner je gelernt hatte.
Wir sollten anerkennen: Diese Menschen hatten große Angst und es war für sie alles andere als ein Vergnügen – aber sie waren es, und nicht die Politiker und Oligarchen, die unser Land gerettet haben.
Man muss anerkennen, dass das Land damals nicht von den Politikern, den neuen Businessmen oder den Ökonomen gerettet wurde: Die ganz normalen Leute waren es, die es gerettet haben.
Nur wenige dieser Menschen haben es damals zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht – es haben nicht einmal alle überlebt. Viele nahmen notgedrungen eine Beschäftigung an, die sie nicht froh machte, und denken heute nicht gerne daran zurück. Das verbindet die Veteranen der 1990er Jahre mit den Veteranen eines jeden Krieges – die ganz normalen Leute wollen lieber ihr Leben leben und nicht das Land retten: viel lieber wollen sie einfach nur zur Arbeit gehen und ihre Kinder großziehen.
Den Kriegsveteranen wird als Entschädigung wenigstens noch Dankbarkeit entgegengebracht. Wer die 1990er mitgemacht hatte, wurde nicht einmal des Dankes für würdig befunden. Es wundert nicht, dass die Leute diese Zeit als „chaotisch” bezeichnen. Sie haben schließlich auch das Recht dazu – genau wie sie das Recht dazu haben, ihre empörten Kommentare unter die Fotos von Schülern und Studenten, die Bilder einer unbeschwerten Jugend zu setzen.
Aber ich bin froh, dass ich, ausgehend von den Flashmob-Fotos, an dieser Stelle Gelegenheit gefunden habe, diesen Menschen danke zu sagen – all denen danke zu sagen, für die die Erinnerung an die 1990er Jahre bis heute traumatisch ist.
Ich glaube, die Überwindung dieses Traumas steht uns noch bevor.