„Wohnung für eine russische Familie zu vermieten, Kaukasier unerwünscht“ – solche diskriminierenden Annoncen kennt laut Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland. Mehr als ein Drittel der Befragten steht solchen Anzeigen positiv gegenüber, insgesamt wollen zwei Drittel der Gesellschaft den Zuzug anderer Ethnien nach Russland einschränken (bei Lewada als „Ethnophobie-Level“ erfasst).1
Quelle: Lewada
Obwohl Xenophobie in den letzten Jahren weitgehend aus den Massenmedien verschwand, ist sie seit 2017 wieder rapide gestiegen. Warum ist das so?
Als im August 2018 die denkmalgeschützte hölzerne Mariä-Himmelfahrts-Kirche in der kleinen karelischen Stadt Kondopoga abbrannte, fühlten sich viele Menschen in Russland an 2006 erinnert. Damals kam Kondopoga zum ersten Mal in die Schlagzeilen: wegen massiver fremdenfeindlicher Pogrome. Da in der Folgezeit russlandweit dutzende andere Städte von Pogromen erfasst wurden, sahen viele Nationalismusforscher in Kondopoga die Initialzündung für fremdenfeindliche Übergriffe.
Die Wirtschaft florierte 2006, Wirtschaftsvertreter forderten weiteren Zuzug von Gastarbeitern. Zeitweise lebten schätzungsweise bis zu sieben Millionen von ihnen in Russland, sie erwirtschafteten rund sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts.2 Die meisten von ihnen kamen auch damals aus dem Kaukasus und Mittelasien nach Russland. Hier wurden sie zur Zielscheibe medialer Stigmatisierung, nationalistische Stimmen wie Alexander Dugin hetzten öffentlichkeitswirksam gegen „Überfremdung“ und forderten ein „Russland für Russen“.
Diesem Slogan stand 2005 mehr als die Hälfte der Gesellschaft positiv gegenüber3, und „Nichtrusse“ war bei einem guten Drittel der Befragten das am negativsten konnotierte Wort.4
Diese Zahlen waren umso frappierender, als frühere wissenschaftliche Studien Russland zur Mitte der 1990er Jahre noch als das Land in Europa darstellten, das am wenigsten fremdenfeindlich ist.5 Doch laut offiziellen Zahlen sind rund 20 Prozent der russländischen Gesellschaft keine ethnischen Russen. So ist es denkbar, dass bei einer repräsentativen Umfrage unter ethnischen Russen allein die Ergebnisse entsprechend höher ausfallen dürften.
Ethnophobie – biologistische Grundlage?
Die russische Nationalismusforschung bezeichnet diese Fremdenfeindlichkeit als Ethnophobie, weil der ermittelte Ressentiment-Grad beispielsweise gegenüber den Tataren oder Baschkiren weitaus geringer sei als gegenüber den ebenso muslimischen Usbeken, Kirgisen oder Tschetschenen. So könne man etwa nicht von Islamophobie sprechen, erklärt beispielsweise Waleri Solowei – ein Nationalismusforscher, der selbst ethno-nationalistische Standpunkte vertritt. Außerdem seien Tataren und Baschkiren laut Solowei den ethnischen Russen phänotypisch ähnlicher, sodass Ethnophobie in Russland eine biologistische Grundlage habe.6
Diese weitverbreitete Ethnophobie schlug sich 2006 in Kondopoga nieder. Auf die landesweiten Pogrome, die mitunter auch von kremlnahen Massenmedien als ein Zeichen der „Erhebung des russischen Geistes“ gedeutet wurden, reagierten die Machthaber opportun(istisch): Sie fingen an, die Notwendigkeit der „Gewährleistung von Vorteilen für die verwurzelte Bevölkerung“ herauszustreichen.7 Das Kreml-Programm der Russländischen Staatsnation indes erachteten sie zunehmend als gescheitert.
Russländer: Staatsnation statt ethnische Nation
Schon lange zuvor wurde der Begriff Russländer (russ. „Rossijanin“) oft synonym zu Russe (russ. „Russki“) verwendet. Angestoßen durch Boris Jelzin sollte Russländer in den 1990er Jahren zum neuen Bürgerbegriff avancieren.
Mit der Einführung sollte ein Bedeutungswandel von einem ethnisch-konnotierten Nationalitäten- zu einem Staatsbürgerbegriff angestoßen werden. Ein großer Teil der russischsprachigen Sozialwissenschaft sah darin den Übergang vom deutschen zum französischen Modell: Das ehemals deutsche Verständnis der Nation, das als ethnisch konnotiert gilt, sollte zu dem französischen Verständnis der État-nation (Staatsnation) übergehen, das alle Bürger Frankreichs – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft – zu Franzosen vereint.
Es war die Grundidee der Jelzin-Regierung, damit eine neue „Staatsidee“ zu definieren und alle Ethnien in einer Staatsnation zusammenzubringen. Auch Putin setzte diese Idee weitgehend fort, bis Kondopoga.
„Es reicht, den Kaukasus zu füttern“
Verschiedene oppositionelle Kräfte kritisierten Putin damals wegen des Jelzinschen Russländer-Programms. Auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte lautstark „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“ und begrüßte die sogenannten Russischen Märsche, auf denen rechtsextreme Parolen und „Tod dem Regime“ skandiert wurde.8 Die in Umfragen ermittelten völkisch-nationalistischen Stimmungen in der Gesellschaft waren zu stark, um sie zu ignorieren, also nahmen die Machthaber sukzessiv und versatzstückweise ethno-nationalistische Forderungen in ihr rhetorisches Programm auf und neutralisierten sie damit zum Teil.
So verlangten Rechtsextreme die verfassungsmäßige Anerkennung von Russen als einziger „staatskonstituierender Ethnie“,9 auch der LDPR-Vorsitzende Wladimir Shirinowski unterstützte diese Forderung. Obwohl dieses Ansinnen auch 2018 nicht in der Verfassung steht, wurde es von Putin bereits einige Male als erfüllt dargestellt, zum ersten Mal ausdrücklich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2012. Damals definierte er in einem programmatischen Text das russische Volk als „staatskonstituierend“ und schrieb: „Die große Mission der Russen lautet: Die Zivilisation vereinen und verbinden. Über Sprache, Kultur und nach Fjodor Dostojewski über ,weltumfassende Aufgeschlossenheit‘ werden russische Armenier, russische Aserbaidschaner, russische Deutsche, russische Tataren verbunden.“10
Mit solchen Aussagen markierte Putin für viele Nationalismusforscher den Übergang vom anvisierten Modell der russländischen Staatsnation zu der sogenannten national-imperialen Position.11
Weniger Hetze in den Medien
Parallel zu dieser Entwicklung gab es in staatsnahen Medien seit Kondopoga immer weniger Hetze gegen Arbeitsmigranten, und 2012/13 konstatierte Lewada ein Ausbleiben von ethnophoben Inhalten in russischen Massenmedien.12 Vermutlich weil die Meinungsforscher sehr oft „einfach die Abendnachrichten nehmen und am nächsten Morgen die Menschen befragen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“, kam es 2014 zu einem rapiden Abfall der Ethnophobie-Werte.
Einige russische Soziologen liefern eine andere (beziehungsweise ergänzende) Erklärung: Das von den staatsnahen Medien forcierte Feindbild Westen diene zum einen dazu, von innenpolitischen Problemen abzulenken und stelle zum anderen automatisch das empfundene Bild der „Überfremdung“ in den Schatten. Hintergrund sei das Prinzip des sogenannten konstituierenden Anderen: Eine „kollektive Identität“ formiere sich durch Distinktion, Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen. Mit dem Umschwenken auf eine antiwestliche Linie fand also eine Art Ersatz-Distinktion statt, so die Erklärung.13
Der Westen als Ersatz-Feindbild
In der Ethnophobie-Infografik ist dieses Phänomen zweimal sichtbar: 2014 sind die antiwestlichen Stimmungen parallel zur Einführung westlicher Sanktionen hoch geschnellt, und das Ethnophobie-Niveau ist ebenso rapide gefallen. Im Sommer 2018 sind die antiwestlichen Stimmungen dagegen gesunken, während die ethnophoben anstiegen. Mit wissenschaftlichen Mitteln ist ein solcher Mechanismus der Ersatz-Distinktion allerdings nicht nachvollziehbar: Weder ist der Begriff „kollektive Identität“ eingrenzbar, noch kann man erklären, warum diese (vermeintliche) Identität zwangsläufig durch Distinktion gebildet werden muss.
Schließlich liefern einige russische Soziologen eine Erklärung für den Wiederanstieg der Werte im Jahr 2018: Ethnophobe Stimmungen wachsen dann, wenn Menschen mit ihrer wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind und/oder mit einschneidenden sozialen Reformen konfrontiert werden. Da das Realeinkommen in Russland nun seit vier Jahren in Folge sinkt und weil die anberaumte Rentenreform gravierende Einschnitte im Alltagsleben vieler Russen ahnen lässt, würden die Existenzängste auf andere projiziert.14
Text: Anton Himmelspach
erschienen am 18.09.2018