Wladimir Putin gibt der ukrainischen Regierung die Schuld am blutigen Terroranschlag in der Crocus City Hall. Bei einer Videokonferenz mit Regierungsmitgliedern und Leitern der Sicherheitsbehörden sagte er am Montag: „Wer profitiert davon? Diese Übeltat kann bloß ein Glied sein in einer ganzen Kette von Versuchen derer, die seit 2014 mittels des Kiewer Neonazi-Regimes gegen unser Land kämpfen.“ Putin sagt zwar, dass die Täter radikale Islamisten waren, doch die Hintermänner sieht er in Kyjiw und Washington: „Es geht darum, Panik in unserer Gesellschaft zu schüren und gleichzeitig dem eigenen Volk zu zeigen, dass für das Kiewer Regime noch nicht alles verloren ist.“
Auch russische Staatsmedien wiederholen diese These der „ukrainischen Spur“ – ebenfalls ohne dafür Beweise zu präsentieren. Terrorismusforscher wie Peter Neumann vom Londoner King’s College halten eine solche Version für absurd und sehen gewichtige Indizien für eine Urheberschaft der Tat bei der Terrororganisation Islamischer Staat.
Auch Ruslan Lewijew hält die These der „ukrainischen Spur“ für unsinnig. Lewijew ist Gründer des unabhängigen Investigativ-Netzwerks Conflict Intelligence Team (CIT), das sich seit 2014 mit seinen Open-Source-Recherchen zu den russischen Kriegseinsätzen in der Ukraine und in Syrien einen Namen gemacht hat. Im Interview mit Republic spricht Lewijew darüber, warum Putin die Warnungen der US-Geheimdienste über einen bevorstehenden Terroranschlag ignoriert hat und warum der Islamische Staat insbesondere seit Russlands Beteiligung im Syrienkrieg durchaus Motive hat, Anschläge in Russland zu verüben.
Putin bespricht den Terroranschlag in der Crocus City Hall mit dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation / Foto © Imago, Zuma Wire
Farida Kurbangalejewa, Republic: Putin hat vor wenigen Tagen vor führenden FSB-Generälen erklärt, bei den Warnungen über in Russland geplante Terroranschläge handle es sich um Täuschungsmanöver westlicher Staaten. Haben Sie eine Erklärung für dieses Verhalten?
Ruslan Lewijew: Er versucht, jede Nachricht für die Propaganda in Russland zu nutzen. Denn wir befinden uns ja angeblich in einer Art Krieg mit dem Westen, das haben hochrangige Staatsbeamte oft verlautbaren lassen. Und Amerika immer mal mit etwas in Zusammenhang zu bringen, ist für Putin ja ganz nett. In den vielen Jahren beim KGB und dann auf dem höchsten Posten in Russland waren Menschen um ihn versammelt, die ihm das liefern, was er sehen und hören will: Dass die westlichen Geheimdienste listige Taktiken verfolgen. Ich glaube, dass er bereits selbst an die Welt glaubt, die er geschaffen hat, eine absolute Fantasiewelt, die aus seiner Propaganda und seinen Lügen besteht. Das heißt, dass er die Realität nicht so wahrnimmt, wie sie ist.
Welche Vorwürfe erhebt der IS-Khorasan (ISPK) gegen Russland? Ich habe mir vor unserem Gespräch eine Auflistung ihrer Terroranschläge angesehen – hauptsächlich fanden die in Afghanistan und Pakistan statt. Warum jetzt plötzlich in Russland?
Leider ist das ein Punkt, bei der ein Großteil der russischen Gesellschaft nicht aufgepasst hat. Wir [CIT – dek] analysieren Russlands Vorgehen in Syrien seit 2015. Dabei wurde auch deutlich, wie die russische Gesellschaft, einschließlich der unabhängigen Medien dieses Thema ignoriert haben.
Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen
Die Russen haben regelmäßig Stellungen von IS-Kämpfern und von Al-Qaida attackiert. Aber vor allem haben sie die Freie Syrische Armee angegriffen. Also die Soldaten, die gegen Bashar al-Assads Regime kämpften. Dabei haben die russischen Soldaten ihre Waffen wahllos eingesetzt. Das ist auch jetzt der Fall, wenn die russische Armee ukrainische Städte bombardiert. Und da die syrischen oppositionellen Gruppen nicht über Luftabwehrsysteme verfügen, konnte sie dort noch freier die Städte überfliegen und Bomben abwerfen.
Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen. Menschen werden in Stücke gerissen und sterben, darunter auch Kinder. Dann kommt der Zivilschutz – die Weißhelme, die in Russland als Unterstützer der Terroristen bezeichnet werden. Sie versuchen, Menschen aus den Trümmern zu retten, und die russische Luftwaffe wirft erneut Bomben auf sie. Auch die Retter kommen ums Leben.
Wir haben schon damals gesagt, dass diese Aktionen weitreichende Folgen für Russland haben werden. Dass die Terror-Gruppen anfangs „Tod für Amerika“ skandierten und dazu aufriefen, den imperialistischen Westen und all diese Ungläubigen zu bekämpfen. Aber seitdem die Russische Föderation [in Syrien – dek] eingegriffen hat, hat sich ihr Fokus sofort auf Russland verlagert. Jetzt heißt es „Tod für Russland für das, was es den Muslimen antut“.
Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland verübt werden
Die Menschen in Russland haben es damals überhaupt nicht mitbekommen, aber die muslimische Welt hat sich das gut gemerkt und sie wird sich noch über Generationen hinweg daran erinnern. Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland und gegen Russen verübt werden. Ich bin mir absolut sicher: Selbst wenn das Putin-Regime in den nächsten Jahren fällt und ein demokratischer Präsident an die Macht kommt – die Terroranschläge in Russland werden trotzdem weitergehen. Weil sich für die Terroristen dadurch nichts ändert. „Es sind doch dieselben Russen, die Muslime bombardiert haben. Und überhaupt: Es sind Ungläubige, also muss man weiterhin Terroranschläge verüben“. Das ist für sie die Hauptsache.
Seitdem Putin an der Macht ist, hat es viele Terroranschläge gegeben, besonders viele gab es aber vor 2014. Denn dann begann der Krieg in Syrien, und viele Anhänger des radikalen Islam gingen dorthin, um zu kämpfen. In der Folge wurde es in Russland relativ ruhig. Müssen wir damit rechnen, dass jetzt die Zeiten zurückkommen, in denen es regelmäßig Bombenanschläge gibt? Wie am Flughafen Domodedowo im Jahr 2011 oder in Wolgograd im Jahr 2013?
Tatsächlich gab es weiterhin kleinere Terroranschläge: Zum Beispiel 2016, als eine Kinderfrau in Moskau einem Dreijährigen den Kopf abschlug und dann mit dem abgetrennten Kopf durch die Straßen lief und rief: „Das ist für das, was ihr in Syrien tut.“ Im selben Jahr ermordete ein Terrorist den russischen Botschafter in der Türkei: Er schoss ihm in den Rücken und rief ebenfalls, dies sei für das, was Russland in Syrien tue. Es gab weitere Terroranschläge, zum Beispiel in den Regionen des Nordkaukasus, die ebenfalls unbemerkt blieben, weil die Medien ihre Schwerpunkte anderswo legten.
Es sieht tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück
Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Offensichtlich haben viele Menschen, die sich zu radikalen Strömungen des Islam bekennen, versucht, nach Syrien zu gehen, weil in diesem Krieg die wichtigste Schlacht geschlagen wurde. Vor diesem Hintergrund ging die Zahl großer Terroranschläge in Russland zurück. Und jetzt sieht es tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück.
Tatsächlich ist Russland hier kein Sonderfall. Erst vor ein oder zwei Monaten sollen Anschläge in Deutschland vereitelt worden sein. Das zeigt, dass Terroristen jetzt auf der ganzen Welt aktiv sind. Aber natürlich haben sie Russland ganz besonders im Visier.
Umso mehr als der IS-Ableger Khorasan vor allem in Afghanistan aktiv ist. Dort tritt er als erbitterter Gegner der herrschenden Taliban auf. Deren wichtigster Verbündeter wiederum ist Russland. Das Problem ist, dass die Taliban ebenfalls ein repressives Regime errichtet haben. Viele Kämpfer der Taliban und von Al-Qaida laufen zum Khorasan über, weil sie der Ansicht sind, dass die Taliban die Scharia falsch auslegen. In der Folge planen sie dann neue Terroranschläge gegen Russland.
Welche Folgen wird dieser Anschlag haben?
Zunächst wird es natürlich Druck auf die Migranten [in Russland] geben: Razzien in ihren Unterkünften, Kontrollen in der Metro und im öffentlichen Nahverkehr. Vielleicht werden sie auch an der Grenze strenger kontrolliert. Und natürlich werden die repressiven Gesetze jetzt verschärft umgesetzt: Überwachung, Kontrolle von Medien und Messengern. Das sind die Maßnahmen, mit denen man jetzt zuerst rechnen muss.