Der Terror ist zurück in Russland: Am Abend des 22. März 2024 dringen bewaffnete Männer in den Konzertsaal Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau und töten mindestens 137 Menschen. Es ist das blutigste Attentat seit den Terrorattacken der 2000er Jahre wie etwa den Geiselnahmen im Dubrowka-Theater 2002 oder in der Schule von Beslan 2004.
Zu der Tat hat sich die Terrororganisation Islamischer Staat bekannt. Gleichzeitig deuten Kreml und Staatsmedien auf eine angebliche Spur in die Ukraine, jedoch ohne dafür Beweise zu liefern. In russischsprachigen Sozialen Medien spekulieren außerdem viele User, ob nicht sogar der Inlandsgeheimdienst FSB dahinter steckt, und sehen eine Parallele zu den Explosionen von Wohnhäusern 1999.
Am Sonntag, zwei Tage nach dem Anschlag, wurden vier der mutmaßlichen Täter dem Moskauer Basmanny-Gericht vorgeführt. Alle trugen offensichtliche Spuren von Misshandlung und Folter: Blutergüsse, Schürfwunden, eine geschwollene Wange, einer der Beschuldigten wurde gar im Rollstuhl in den Gerichtssaal gebracht, ein anderer hat einen Verband über dem Ohr. Zuvor kursierten auf Telegram Aufnahmen, wonach einem der mutmaßlichen Täter bei einem Verhör ein Ohr abgeschnitten und ihm in den Mund geschoben wurde. Eine andere Aufnahme soll einen Beschuldigten zeigen, der mit heruntergelassener Hose auf dem Boden liegt und mit Strom an den Genitalien gefoltert wird. Von einem CNN-Journalisten auf die Folterspuren der Beschuldigten angesprochen, sagte Kremlsprecher Dimitri Peskow: „Ich lasse diese Frage unbeantwortet.“
Was so eine zur Schau gestellte Brutalität bedeutet und was sie über den russischen Staat verrät, fragt der Politologe Kirill Rogow in einem Kurzkommentar auf Facebook. Kirill Rogow ist Direktor des Portals Re:Russia und Gastwissenschaftler am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.
Einer der Beschuldigten wurde dem Haftrichter am Sonntag im Rollstuhl und mit sichtbaren Blessuren vorgeführt / Foto © Imago, SNA
Zu den verbreiteten Mythen über Putin gehört, dass er Judo betrieb und dort eine Technik gelernt habe, bei der man den Angriff des Gegners dazu nutzt, die Energie seines Angriffs gegen ihn anzuwenden. Dieser Quatsch wurde hunderte Male wiederholt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass da wenig Wahres dran ist. Dabei hat Putin wirklich eine ganz spezielle Art, auf Krisen zu reagieren, das ist tatsächlich sein Markenzeichen. Und das ist es wert, dass man sich das mal genauer anschaut.
Die Technik besteht in Folgendem: Wenn eine Krise deine Schwäche aufdeckt, muss die Wut des Vergeltungsschlags auf den losgelassen werden, der sich in Reichweite befindet. Das ist in der Regel nicht der, der für deine Schwäche verantwortlich ist. Doch das spielt keine Rolle. Denn vor allem die Heftigkeit und Wirksamkeit des Schlages sollen den Eindruck deiner Schwäche aufheben, der durch die zuvor erlittene Niederlage entstanden ist. Das ist der Sinn dieser Technik.
Die Wucht des Vergeltungsschlags soll nicht den Gegner beeindrucken, sondern den Zuschauer
Wenn du einen Schlag einstecken musstest, schlage einfach den, dem du in diesem Moment eine verpassen kannst. Und werde wieder Sieger. Dass der Zorn in die völlig falsche Richtung losgeht, ist egal. Die Leute merken das nicht. Sie werden dich als Gewinner sehen und nicht als Verlierer. Das bedeutet: Die Wucht des Vergeltungsschlags soll nicht den Gegner beeindrucken und erschrecken, sondern den Zuschauer.
So auch nach dem Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater und der gescheiterten Befreiungsoperation, bei der durch die Inkompetenz der Sicherheitskräfte viele Kinder ums Leben kamen. Putin ging damals plötzlich auf die Leitung des Senders NTW los und beschuldigte sie, die Befreiungsaktion gestört zu haben. Dasselbe geschah nach dem Terroranschlag in Beslan, bei dem mehr als 330 Menschen ums Leben kamen und Putin daraufhin die Gouverneurswahlen in Russland abschaffte.
Wir werden noch erfahren, wer zur Vergeltung ins Visier genommen wird nach der Demütigung Putins, der gewarnt wurde und den Schlag trotzdem nicht abgewehrt hat. Teilweise ist die Logik des Vergeltungsschlags jedoch bereits jetzt erkennbar.
Putins hauptsächliche Reaktion sind tägliche Episoden von öffentlichem Sadismus
Putins hauptsächliche Reaktion auf diesen schrecklichen Terroranschlag sind sich Tag für Tag wiederholende Episoden von öffentlichem Sadismus gegenüber denjenigen, die als Verdächtige im Zusammenhang mit dem Terroranschlag festgenommen wurden. Im Prinzip stammt die gesamte Bildsprache dieser Episoden von den islamistischen Terroristen selbst – das Aufschlitzen von Kehlen und Enthauptungen vor laufender Kamera, die Zurschaustellung von Menschen, die bis an die Grenzen des Erträglichen gefoltert werden. All dies hat die doppelte Funktion, den Terror so darzustellen, wie er ist: als Mechanismus der Einschüchterung, und die Schaffung der Geschlossenheit im Hass. Die von der Präsidialadministration angeregte Errichtung von „spontanen Gedenkorten“ in russischen Städten (wie nach der Ermordung Nawalnys), ergänzt nur das Programm des kollektiven Hasses. Der Terror ist eine Manifestation des Hasses. Terror und Hass bilden das Gegenstück zum Gesetz, sie heben es auf, indem sie etwas über das Gesetz stellen.
Dieser öffentliche Terror wendet sich gleichermaßen gegen sein Objekt [die Terroristen – dek], wie auch gegen diejenigen, die die Unumstößlichkeit des offiziellen Narrativs in Zweifel ziehen. Der Terror richtet sich gegen die russischen Bürger, weil er den Hass als Antwort normal werden lässt. Auch auf ihre Fragen und ihr Nichteinverständnis. Auch in Bezug auf den Terroranschlag.
Denn nach allem, was wir in den letzten Tagen erfahren haben, befremdet Folgendes am meisten: Wenn ihr diese Leute schon so schnell gefasst habt und die so naiv und ungeschickt waren, um richtig vom Tatort zu fliehen – wie kommt es dann, dass ihr den Terroranschlag nicht verhindern konntet? Es liegt doch auf der Hand, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Aber die Bilder vom demonstrativen Sadismus sind dazu da, diese Frage emotional zu verwischen.
Und ihr sprecht von Judo. Ich verstehe nicht, was das mit Judo zu tun hat.