Die Figur Michail Kassjanow polarisiert: den einen gilt er als typischer Vertreter der mit den Oligarchen verbandelten Machtelite, den anderen als konsequenter Putin-Kritiker und möglicher Teil der politischen Zukunft Russlands. In jedem Fall ist er heute einer der liberalen Politiker mit der größten Erfahrung in Regierungsverantwortung.
Mit einem Abschluss als Ingenieur trat Kassjanow 1983 zunächst in die sowjetische Behörde für Wirtschaftsplanung Gosplan ein. Nach dem Zerfall der UdSSR machte er Karriere im russischen Wirtschafts- und Finanzministerium. Hier erreichte er in Verhandlungen mit Gläubigern des russischen Staates eine erhebliche Reduktion der Auslandsverschuldung. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname „Mischa zwei Prozent“, der ihm in russischen Medien noch immer anhängt: Für Insiderinformationen über die russischen Staatsschulden, so das Gerücht, habe er regelmäßig Provisionen aus den dadurch entstandenen Gewinnen seiner Geschäftspartner kassiert.1
Vom Regierungschef zum Herausforderer Putins
Im Jahr 1999 stieg Kassjanow zum Finanzminister auf, unter Präsident Putin saß er ab Mai 2000 dem ersten Kabinett mit den liberalen Ministern German Gref und Alexej Kudrin vor. Als Premierminister setzte Kassjanow viele marktwirtschaftliche Reformen um, unter anderem die neoliberale Rentenreform (vgl. Rentensystem). Die Inflation ging erheblich zurück und Russland erlebte einen Wirtschaftsboom (vgl. Stabilisierung). Wenngleich Kassjanow nie ganz unumstritten war2, avancierte er als erfolgreicher Regierungschef zum ernsthaften Herausforderer für Präsident Putin.
Nach Meinung vieler Beobachter fiel Kassjanow durch seine Kritik an der Verhaftung Michail Chodorkowskis im Jahr 2003 bei Putin in Ungnade. Er wurde 2004 entlassen und ging in die Opposition. Nach der Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur 2006 geriet er unter Druck: Seine Wahl zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei Russlands wurde durch einen vom Kreml organisierten parallelen Parteitag verhindert, die russische Justiz verfolgte ihn wegen einer zwielichtigen Privatisierung zweier Sommerhäuser3, und seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2008 wurde abgelehnt, offiziell aus formalen Gründen.
Im Fokus der Öffentlichkeit
Seit 2006 war er – zeitweilig zusammen mit den liberalen Oppositionspolitikern Boris Nemzow und Wladimir Ryschkow – im Vorstand der Republikanischen Partei Russlands. 2012 fusionierte diese mit der Partei der Volksfreiheit zur RPR-PARNAS, der Kassjanow bis heute vorsteht. Er unterhält gute Kontakte in den Westen und unterstützt die Sanktionen der EU gegen Russland im Kontext des Ukraine-Konflikts.4 Nach dem Mord an Boris Nemzow übergab er dem US-Kongress eine Liste mit acht russischen Journalisten, die ihm zufolge an der „Jagd“ auf Nemzow beteiligt gewesen seien und auf die Magnitski-Liste gesetzt werden sollten.
Im Frühjahr 2016 geriet Kassjanow erneut in den Fokus der Öffentlichkeit: Ramsan Kadyrow, der bekannt ist für seine verbalen Attacken gegen Menschenrechtler und liberale Politiker, veröffentlichte ein Video, das Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigt. Kurz darauf bewarfen Unbekannte in einem Moskauer Restaurant Kassjanow mit einer Torte. Schließlich wurde im April ein heimlich mitgeschnittenes Video lanciert, das Kassjanow mit seiner Parteikollegin Natalja Pelewina bei sexuellen Handlungen zeigt. Pelewina erklärte daraufhin ihren Austritt aus dem Führungsgremium der Partei. Es ist nicht auszuschließen, dass der „Skandal“ im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im September 2016 stand: Kompromittierende Informationen über Kandidaten zu verbreiten ist ein beliebtes Mittel der sogenannten Polittechnologie.
Zusammenfassend kann Kassjanow ein hohes symbolisches Potential zugeschrieben werden. Während er in Russland – außerhalb des kleinen liberalen Spektrums – als korrupter Vertreter einer vom Westen unterstützten ehemaligen Machtelite gilt, ist er als Putinkritiker mit fließendem Englisch ein gern gesehener Gast in anglophonen Diskussionsrunden, wo er den liberalen und modernisierungswilligen, jedoch zurzeit marginalisierten Teil Russlands repräsentiert.5