Nach 145 Tagen und 20 Kilogramm Gewichtsverlust beendete der ukrainische Regisseur Oleg Senzow letzten Samstag seinen Hungerstreik. Damit entgeht er der angekündigten Zwangsernährung.
Die Fraktion der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament nominierte ihn gestern für den Sacharow-Preis, auch EU-Menschenrechtspreis genannt. In den Augen der EU-Abgeordneten und vieler russischer Oppositioneller hat Senzow viel erreicht. Durch seinen Streik bekam er eine massive internationale Unterstützung, auch viele Menschen in Russland protestierten für ihn. Sein Hungerstreik erinnerte viele an das Schicksal sowjetischer Dissidenten sowie an die Unnachgiebigkeit der sowjetischen Herrscher.
In einem offenen Brief erklärte Senzow am 5. Oktober das Ende seines Streiks. dekoder bringt die Übersetzung des Briefs sowie Ausschnitte aus staatsnahen und unabhängigen russischen Medien.
Novaya Gazeta: Senzows Brief
Vergangenen Freitag kündigte Oleg Senzow in einem handschriftlichen Brief das unfreiwillige Ende seines Hungerstreiks an. Die Novaya Gazeta hat den Brief veröffentlicht.
Aufgrund meines kritischen Gesundheitszustands und wegen pathologischer Veränderungen der inneren Organe ist geplant, in nächster Zeit mit meiner Zwangsernährung zu beginnen. Meine Meinung zählt an dieser Stelle nicht. Ich sei angeblich nicht mehr imstande, meinen Gesundheitszustand und die ihm drohende Gefahr adäquat einzuschätzen.
Die Zwangsernährung wird im Rahmen von intensivmedizinischen Maßnahmen zur Rettung des Lebens des Patienten durchgeführt. Unter diesen Umständen bin ich gezwungen, meinen Hungerstreik am morgigen Tag, dem 6. Oktober 2018, zu beenden.
145 Tage Kampf, 20 Kilogramm Gewichtsverlust, plus ein angeknackster Organismus, aber das Ziel ist nicht erreicht. Ich danke allen, die mich unterstützt haben und entschuldige mich bei denen, die ich enttäuscht habe …
Ruhm der Ukraine!
Oleg Senzow, 5.10.18
В связи с критическим состоянием моего здоровья, а также начавшимися патологическими изменениями во внутренних органах, в самое ближайшее время ко мне запланировано применение принудительного питания. Мое мнение при этом уже не учитывается. Якобы я уже не в состоянии адекватно оценивать уровень здоровья и опасности ему грозящей. Насильственное кормление будет проводиться в рамках реанимационных мероприятий по спасению жизни пациента. В данных условиях я вынужден прекратить свою голодовку с завтрашнего дня, то есть с 6.10.18.
145 дней борьбы, минус 20 кг веса, плюс надорванный организм, но цель так и не достигнута. Я благодарен всем, кто поддерживал меня, и прошу прощения у тех, кого я подвел…
Слава Украине!
Олег Сенцов. 5.10.18
erschienen am 5. Oktober 2018
Moskowski Komsomolez: Kritik aus der Ukraine
Das Massenblatt Moskowski Komsomolez befragt gleich zwei „ukrainische Politologen“ und suggeriert damit womöglich, dass auch Ukrainer kritisch gegenüber Senzow sein können.
Rostislaw Ischtschenko ist einer von ihnen, seit der Ukraine-Krise lebt er in Russland und tritt hier oft als Experte in staatsnahen Medien auf.
Führt man sich vor Augen, dass er sogar diese rein formale Aktion beendet hat, dann glaubt er nicht daran, dass sich an seiner Situation etwas ändern wird. Zumindest sitzt er nicht lebenslänglich ein, früher oder später kommt Senzow raus. Außerdem kann er mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen, wenn er sich denn entsprechend verhält. Er muss seine Schuld eingestehen und dafür büßen. Aber mit dieser Tat hat der Regisseur gezeigt, dass er seine Situation nicht ändern will.
erschienen am 5. Oktober 2018
Iswestija: Ergebnis peinlich genauer Arbeit
In der staatsnahen Iswestija stellt der stellvertretende Direktor des FSIN Waleri Maximenko den beendeten Hungerstreik als Verdienst seiner Behörde dar.
Sollte die Verweigerung der Nahrungsaufnahme weitergehen, würde aus Senzow womöglich nicht einmal nur Gemüse, sondern gar eine Pflanze. Die Androhung von Zwangsernährung – wie kann man denn bitteschön den Beginn der Behandlung eines Kranken als Bedrohung bezeichnen? In der aktuellen Situation wurde Senzow gesagt, dass man um sein Leben und seine Gesundheit kämpfen und nicht zulassen werde, dass er stirbt. Der Rest blieb ihm freigestellt. [...]
Für uns ist nicht wichtig, nach welchem Paragraphen und für welches Verbrechen ein Gefangener seine Strafe verbüßt. Wir kümmern uns um eines jeden Leben und Gesundheit. Unsere Aufgabe ist, dass der Mensch nach Ablauf seiner Haftzeit und Besserungsmaßnahmen gesund zu seinen Angehörigen zurückkehren kann.
Eсли бы отказ от еды продолжился, то Сенцов мог стать не просто «овощем», а даже «растением». А угрозы принудительного питания — ну как можно называть угрозой введение в курс лечения больного? В данном случае Сенцову сказали, что за его жизнь и здоровье будут бороться и умереть не дадут. Остальное было на его усмотрение. [...]
Нам неважно, по какой статье и за какое преступление отбывает наказание заключенный. Мы одинаково заботимся о жизни и здоровье каждого. Наша задача, чтобы после отбывания срока и исправления человек вернулся к своим родным и близким здоровым.
erschienen am 8. Oktober 2018
Colta: Grabesschweigen
Auf dem unabhängigen Portal Colta schreibt Maria Kuwschinowa darüber, warum es so schwierig ist, die richtigen Worte zum Ende des Hungerstreiks zu finden.
Freude, dass „er sich fürs Leben entschieden hat”, will nicht aufkommen, weil Senzow unter Androhung von Zwangsernährung nichts entschieden hat. Ärger, dass „er aufgegeben hat”, ist auch fehl am Platz, weil die Dauer und Intensität des Kampfes, die Menge der daran beteiligten Menschen, der Schaden, der dem Organismus zugefügt wurde, und auch die an die Oberfläche getretenen Fragen bezüglich Krim und Donbass es nicht erlauben, den Hungerstreik schlagartig zu entwerten.
Радость — «он выбрал жизнь» — не годится, потому что под угрозой принудительного кормления Сенцов ничего не выбирал. Досада — «он сдался» — не годится тоже, потому что продолжительность и интенсивность борьбы, количество вовлеченных в нее людей, урон, нанесенный организму, а также поднятые на поверхность вопросы о Крыме и Донбассе не позволяют одномоментно обесценить голодовку.
erschienen am 8. Oktober 2018
dekoder-Redaktion