Im Donbass gibt es im Moment die schwersten Kämpfe seit Langem zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. In Awdijiwka harren zehntausende Einwohner ohne Strom und Heizung aus, auf beiden Seiten der Frontlinie gibt es Tote. Neue Tote in einem Konflikt, der nach UN-Angaben bislang knapp 10.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Waffen haben trotz des 2015 vereinbarten Minsker Friedensabkommens nie geschwiegen.
In einigen russischen Medien wird derzeit über die konkrete Gemengelage vor Ort spekuliert, während andere analysieren, wie sich die Haltung des neuen US-Präsidenten Trump künftig auswirken könnte. Auf dem unabhängigen Online-Portal Republic fragt Journalist Oleg Kaschin dagegen nur am Rande nach möglichen Interessen oder Stellungskämpfen, sondern fokussiert auf Gefühle und Befindlichkeiten innerhalb der russischen Gesellschaft.
Kaschin selbst polarisierte mitunter mit Aussprüchen wie dem, dass die Ukraine von Russland keinen Kniefall erwarten könne, gilt jedoch als scharfsinniger Kritiker des Kreml und der russischen Ukraine-Politik.
In seinem Kommentar nun fragt Kaschin: Ist das, was im Donbass geschieht, eigentlich jemals in den Köpfen angekommen?
Beschuss von Awdijiwka und Donezk – das klingt wie eine Nachricht aus dem vorletzten Winter, die wie durch ein Missverständnis in den Informationsstrom von 2017 geraten ist. Dimitri Peskows Wortschöpfung „eigenmächtige Kampfeinheiten“, denen die Schuld an der Eskalation zugeschrieben wird, ist dermaßen schwammig, dass man darunter fassen kann, wen man will – sowohl prorussische Separatisten als auch ukrainische Freiwilligenbataillone, die unabhängig handeln, oder aber auch die ukrainische Armee (in dem Sinne, dass die Ukraine ein eigenmächtiger Staat ist und seine Kampfeinheiten entsprechend auch eigenmächtig sind). Die unvorsichtige Äußerung eines ukrainischen Generals, die ukrainischen Streitkräfte würden „Schritt für Schritt“ vordringen, hatte Peskow ebenfalls aufgeschnappt: Seht, die Ukrainer haben selbst zugegeben, dass sie angreifen, also sind sie der Aggressor. Und ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem eine anonyme Quelle aus deutschen Regierungskreisen davon spricht, die ukrainische Seite sei an einer Zuspitzung interessiert, wird in der offiziellen russischen Presse schon den dritten Tag munter zitiert.
Interessant ist eine Beobachtung der russischen Life-Journalistin Anastasija Kaschewarowa. Sie schreibt, Drehteams staatlicher russischer Fernsehsender aus Moskau seien schon frühzeitig nach Donezk geschickt worden – und zieht den naiven Schluss, dass die russischen Geheimdienste offensichtlich wussten, die Ukrainer würden einen Angriff beginnen. Aber genauso gut kann man die Entsendung von Journalisten in den Donbass als Beweis dafür nehmen, dass man in Moskau schon frühzeitig über einen bevorstehenden Angriff der Separatisten im Bilde war – schließlich sind solche Informationen für Russland einfacher zugänglich als die Pläne der ukrainischen Armee.
Geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg
Noch vor kurzem wurde dem Donbass gern ein ähnliches Schicksal wie Transnistrien vorausgesagt. Vorerst jedoch erinnert er eher an Bergkarabach. Denn die beiden Seiten stehen dem derzeitigen politischen Schwebezustand und umstrittenen Status nicht gleichgültig gegenüber, wie es dagegen in Moldawien der Fall ist. Stattdessen kommt es bei jeder erstbesten Gelegenheit zu Gefechten, unter ständiger Gefahr eines großen Krieges. Aber auch der Vergleich mit Bergkarabach hinkt ein wenig: In dem südkaukasischen Konflikt sind beide Seiten zumindest in einem, wenn auch ausgedachten, Geist erzogen, nämlich im Geist einer fanatischen Verbundenheit mit der für beide Länder heiligen Erde.
Im Donbass dagegen klingt schon allein das Wort Koksochim (so heißt die beschossene Fabrik in Awdijiwka, von der die Wärmeversorgung der Stadt abhängt) dermaßen finster, dass bei seinem Klang nicht einmal das Herz des glühendsten Patrioten höher schlagen wird. Tote Erde, bevölkert von lebenden Menschen – so müsste man den Donbass im Moment wohl korrekterweise nennen.
Nach nicht einmal drei Jahren herrscht hier Krieg in seiner reinsten Form, jeglicher Verzierungen entledigt: ohne ergreifende Losungen, eingängige Parolen, weltweite Aufmerksamkeit und ohne klaren Schlusspunkt, auf den ein garantierter Frieden folgt.
Das alles ist in den Jahren 2014 und 2015 verlorengegangen und geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg.
Es ist schwer zu sagen, ob Donald Trump sich darüber im Klaren ist oder ob er überhaupt Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen – zwischen Migrantenbekämpfung und Mauerbau an der mexikanischen Grenze. Doch liegt es auf der Hand, dass es dabei gerade um ihn geht: Jede Salve bei Awdijiwka ist an den neuen amerikanischen Präsidenten adressiert, selbst wenn er das gar nicht im Blick hat.
Für den Kreml gehörten die vorherigen Phasen dieses Kriegs zu einem großen, in vielen Teilen imaginierten, internationalen Spiel, in dem gleichermaßen nonchalant mal Sewastopol, mal Aleppo auf den Tisch geworfen wurden. Donezk kam irgendwo dazwischen – auch wenn das niemand laut gesagt hat.
Der Kreml hat die Beziehungen zur Ukraine nach 2014 nie als bilateral angesehen. Das Propagandabild eines Barack Obama, der Kiew unmittelbar steuert, hat auf die eine oder andere Weise sicherlich die Vorstellung Moskaus und ganz persönlich die von Putin über das Geschehen widergespiegelt. Alles Weitere hängt vom Rahmen ab, den der Kreml sich ausdenkt: Wenn es nun keinen Obama gibt, dann gibt es auch keine Regeln, nach denen man mit ihm spielen muss. Aber was nun die neuen Regeln sind, das wird man via Trial and Error herausfinden müssen.
Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata
Diese Logik kann man übrigens gleichermaßen auch auf die ukrainische Seite anwenden: Schließlich wurde über Trumps Loyalität gegenüber Russland in den vergangenen Monaten derart viel geredet, dass wohl keine Menschenseele sie im tiefsten Herzen anzweifeln konnte. Was muss passieren, damit die Stimme des amerikanischen Präsidenten in diesem Konflikt erklingt? Keiner weiß es, aber alle glauben, dass sie erklingen wird; also muss man ausprobieren. Und egal wie unterschiedlich die Ziele und Weltanschauungen Moskaus und Kiews sein mögen, Instrumente haben beide nur wenige, und das erste dieser Instrumente ist leider die Artillerie.
Das ist der einzig mögliche Schluss aus der Verschärfung um Awdijiwka: Ja, wir haben es mit einem diplomatischen Feldexperiment zu tun. Beide Seiten tasten in einer verfahrenen Situation mit Grad-Raketenfeuer neue Grenzen des Möglichen ab. Die Neutralität der russischen Machthaber gleicht einer Parodie, wenn die einzige offizielle Positionierung ein verhaltenes Mitgefühl für die Separatisten ist, bei denen sowieso allen klar ist, wie unabhängig diese von Moskau sind (nämlich gar nicht).
Aus diplomatischer Sicht ist das wahrscheinlich wirklich die bequemste Positionierung. Aber so bequem sie auch für internationale Deals ist, so unmoralisch ist sie in Bezug auf die sterbenden und ohne Obdach dastehenden Bewohner des Donbass auf beiden Seiten der Front.
Dasselbe gilt in Bezug auf die russischen Soldaten, deren Intervention (natürlich in der für diesen Krieg traditionell anonymen Form des Nordwinds) nun sowohl in Donezk als auch in Kiew erwartet wird. Menschenleben und Zerstörungen sind belanglos, es gibt nur gewichtige internationale Interessen und die vom Kreml geliebte Geopolitik, in der ein Anruf von Trump tatsächlich wesentlich mehr wert ist als hunderte Awdijiwkas und ihre Bewohner.
Die Chronologie dieses Krieges in Donezk ist verwirrend – es ist nicht einmal klar, ob man ihn als andauernd begreifen soll, oder ob man sagen kann, dass es vor einer Woche keinen Krieg gab, und er jetzt, da in Awdijiwka geschossen wird, von Neuem begonnen hat. Streng genommen hat es diesen Krieg im Leben der russischen Gesellschaft nie gegeben – es gab das Jahr 2014 mit Fernsehgeschichten über Banderowzy und Jubel ob des Russischen Frühlings, es gab anschließend ein Umschalten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit auf andere Themen. Und nun gibt es das Awdijiwka von heute, das nur noch als belangloser Hintergrund zu den Weltnachrichten läuft.
In der Zeit, als die Ukrainer sich ihrer Selbstwahrnehmung nach auf dem Höhepunkt eines Vaterländischen Krieges befanden, scherzte in Russland die patriotische Öffentlichkeit, dass die russische Armee auf dem Schlachtfeld sogar dann gewinne, wenn sie gar nicht anwesend ist. Zwei Jahre später kommt dieser patriotische Witz wie ein Bumerang zurück: Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata, die sich auch noch Jahrzehnte später durch völlig unerwartete Probleme bemerkbar machen können.
In Russland verhält sich mittlerweile eine breite Masse gegenüber lebendigen Menschen so, als seien diese Statisten in TV-Geschichten. Es gibt eine allgemeine Bereitschaft, über den Krieg nur noch in der Sprache einer frei erfundenen Geopolitik zu sprechen, eine Gleichgültigkeit gegenüber Todesopfern und ein Desinteresse daran, ob die russische Armee sich an Konflikten beteiligt, und wenn ja, auf welcher Grundlage. All das hat die russische Gesellschaft auf jeden Fall verändert.
Bisher ist nicht klar, wer stärker traumatisiert ist – der, der bei der Beerdigung geweint hat, oder der, der den Tag der Beerdigung verbracht hat, ohne auch nur entfernt daran gedacht und sich nicht im geringsten dafür interessiert zu haben. Statt des Russischen Frühlings ist jetzt Russischer Winter. Aber wenn sein Schnee schmilzt, werden Schmutz und Blut, die unbemerkt unter ihm liegen, noch ihre Rolle spielen.