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Polit-Thriller à la russe

Kaum bekleidet und teilweise in Latex mit SM-Anmutung, drangen im vergangenen Jahr selbsternannte „Sex-Jägerinnen“ ins Moskauer Wahlkampfbüro des Oppositionellen Alexej Nawalny ein. Eine lächerliche Geschichte, begleitet vom Sender Life, die man normalerweise gar nicht erwähnen würde. Doch über sie wurde Nawalnys Team vom Fond für Korruptionsbekämpfung (FBK) auf Nastya Rybka aufmerksam, die an der Aktion beteiligt war. Auf Rybkas öffentlich einsehbaren Instagram-Kanal erregten einige öffentlich einsehbare Fotos und Videos die Aufmerksamkeit der FBK-Mitarbeiter: Diese zeigen das Escort-Girl zusammen mit dem Oligarchen Oleg Deripaska auf dessen Yacht – in einem Video ist neben Deripaska auch der russische Vize-Premier Sergej Prichodko zu sehen, der laut Nawalny „wenig bekannt, aber sehr einflussreich ist”.

Am 8. Februar 2018 veröffentlichte Nawalny schließlich ein Enthüllungs-Video, das inzwischen mehr als 4 Millionen Aufrufe verzeichnet. Darin stellt Nawalny das auf dem Instagram-Kanal dokumentierte Treffen als ein fehlendes Puzzlestück im Rätselraten um russische Einflussnahme auf den US-amerikanischen Wahlkampf dar: Trumps Ex-Berater Paul Manafort und Deripaska waren geschäftlich verbunden. Im Instagram-Video von Nastya Rybka, die ursprünglich aus Belarus stammt, ist dabei auch eine Audiopassage, in der man jemanden sagen hört: „Wir haben schlechte Beziehungen zu Amerika. Warum? Dafür ist die Freundin von Sergej Eduardowitsch verantwortlich, Nuland heißt sie.” Nawalny ordnet die Stimme Deripaska zu, Sergej Eduardowitsch sind Vor- und Vatersname von Vize-Premier Prichodko, Victoria Nuland war unter Obama im US-Außenministerin zuständig für Europa und Eurasien.

Laut FBK-Recherchen fand das Treffen von Prichodko und Deripaska im August 2016 statt. Wie Nawalny ausführt, ist dies auch deswegen bemerkenswert, weil laut US-amerikanischen Medienberichten Trumps Ex-Berater Paul Manafort dem Oligarchen im Vormonat private Briefings zum Wahlkampf angeboten hatte. Prichodko ist demnach der missing link von Deripaska zu Putin.

Nicht mal zwei Tage nach der Veröffentlichung verbot ein Gericht in Ust-Labinsk, der Geburtsstadt Deripaskas im Süden Russlands, Nawalnys Film. Kurz darauf nahm die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor das Video und den Blogeintrag ins Register verbotener Internetseiten auf.

Bei so viel Aufsehen und Lärm um einen Film hat sich Oleg Kaschin auf Republic Gedanken über unterschiedliche Wahrnehmungsmuster gemacht – und stellt viele beunruhigende Fragen.

Source Republic

https://youtu.be/RQZr2NgKPiU

Nawalnys Recherchen über Sergej Prichodko auf der Yacht von Oleg Deripaska – das ist ein absolut westlicher Plot, europäisch oder amerikanisch. Da braucht es ein Happy-End: Der Staatsbeamte muss zurücktreten, der Milliardär meldet Konkurs an, der Oppositionelle kommt an die Macht. Das Russland von heute unterscheidet sich allerdings sehr vom Westen, wie man ihn aus dem Kino kennt.

Will man den Plot vom Staatsbeamten und dem Milliardär für unsere Lebenswirklichkeit adaptieren, dann müsste er ganz anders ablaufen. Bestechung heißt in unserer Tradition, dass man einem Amtsträger Geld bar in die Hand drückt; dann tauchen von irgendwoher Fahnder auf und durchleuchten das Geld und die Hand mit UV-Lampen. Das ist Bestechung, aber wenn jemand jemanden auf eine Yacht einlädt – für sowas wird man bei uns nicht verklagt.

Wessen Ruf kratzt das an?

Die Amoral im vorliegenden Plot ist auch keine wirkliche Amoral. Nun ja, ein Escort-Girl. Aber wessen Ruf kratzt das an? Die russische Vorstellung von Reichtum beinhaltet, dass ein reicher Mensch von allem viel hat, auch Frauen, er kann’s sich halt leisten. Bei staatlichen Amtsträgern ist das formal schwieriger, aber nur formal. Über praktisch jeden mehr oder weniger bekannten Staatsdiener weiß man, dass für sein Privatleben gilt, was in den sozialen Netzwerken als „es ist kompliziert“ bezeichnet wird: Es gibt eine vor langer Zeit verlassene Ehefrau, außerdem irgendein Mädchen, mit dem er überall hingeht, ohne es auch nur ein bisschen peinlich zu finden, und dann ist da noch, bildlich gesprochen, die Komitee-eigene Banja, die sie alle von Zeit zu Zeit besuchen, ebenfalls ohne es peinlich zu finden.

Das heißt: Wenn man den Plot für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert, dann müsste man ihn dahingehend ändern, dass der Milliardär den Staatsbeamten nicht mit einem Ausflug auf einer Yacht besticht (wie das überhaupt klingt! Mit einem Ausflug bestochen! Mit frischer Luft bestochen!), sondern mit Bargeld, außerdem muss der Moment der Übergabe per Video gefilmt und das Geld mit Spezialfarbe behandelt worden sein.

Auch der Sex-Strang des Plots muss außerhalb etablierter Normen angesiedelt sein. Ideal wäre, wenn der Staatsbeamte gleich mit dem Milliardär schläft – Homosexualität ist bei uns zwar nicht ausgerottet, aber dennoch nicht gern gesehen – und wenn es schon nicht miteinander geht, dann muss man auf die Yacht irgendwelche Jünglinge einladen, am besten minderjährige. Dann kann man von einem Skandal sprechen.

Alle möglichen Zufälle

Nawalny zu verdächtigen, für den Kreml, den FSB oder für Putin persönlich zu arbeiten – das ist mies. Wenn eine statistisch signifikante Zahl von Bürgern an Zufall und Unvoreingenommenheit der Ermittlungen glaubt, wird es ganz von selbst eine Tatsache, und Verschwörungstheorie bleibt Verschwörungstheorie. Im russischen Plot gibt es keine Verschwörungstheorien, hier kann es generell alle möglichen Zufälle geben, denn der Glaube an den Zufall ist eine konstituierende Eigenschaft der Gesellschaft, die man keinesfalls ignorieren darf.

Sollen sich doch die paranoiden Zeitgenossen den Kopf zerbrechen, wer hier wen beauftragt hat. Prichodko Deripaska, Deripaska Prichodko oder Setschin alle beide. Wenn die Menschen glauben, dass niemand niemanden beauftragt hat, dann ist das auch so – in solchen Fällen ist der Glaube wichtiger als der Verdacht.

Eine echte Weltsensation

Wichtig ist auch, dass für einen Teil des Publikums ein westlicher Plot gar nicht adaptiert werden muss, weil es ein westliches Publikum ist und ihm all die Plot-Linien mit Staatsbeamten, Milliardären und Oppositionellen durchaus vertraut sind.  Für dieses Publikum ist die Verbindung von Deripaska mit Prichodko das fehlende Glied in der Kette zwischen Donald Trump und Wladimir Putin (Paul Manafort, der Chef von Trumps Wahlkampfteam, hat für Deripaska gearbeitet, und ohne die Yacht war die Kette genau bei Deripaska abgerissen) – und das ist eine echte Weltsensation, die übrigens auch Moskau neue Möglichkeiten eröffnet, die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf zu rechtfertigen. Bei Bedarf kann man alles auf Prichodko abwälzen und ihn in Rente schicken und so zur Entspannung der internationalen Missstimmungen beitragen. Obwohl letzteres eher in der Phantastik anzusiedeln ist.

Das Verhalten des Escort-Girls, die auf der Yacht ein Video für Instagram gedreht hat, ist das unverständlichste an allem. Ihre öffentlichen Aktivitäten begannen ein halbes Jahr, bevor Nawalny sich für sie zu interessieren begann. Wer hat dem Mädchen ihre Sicherheit garantiert? Warum wurde ihr nicht gleich am Anfang ihrer Medienaktivität Einhalt geboten? Warum ist sie ins Wahlkampfbüro von Nawalny eingedrungen? Wenn sie die Situation in ihren Videobotschaften ins Absurde treibt, möchte sie Nawalny dann in die Hände spielen oder sein Drehbuch kaputtmachen?

Der Plot gerät aus den Fugen

Antworten darauf gibt es nicht, und dass sie fehlen, das ist eine entscheidende Tatsache, durch die der ganze Plot fast aus den Fugen gerät, völlig unabhängig davon, ob er für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert ist oder nicht.

In ihrem Video lädt das Mädchen alle Protagonisten der Geschichte zu Pust goworjat (dt. „Lasst sie reden“) ein – einer apolitischen Show, die sich sämtlichen Boulevardthemen widmet. Das klingt unheilvoll, denn weder aktive Oligarchen und erst recht keine amtierenden Vize-Premiers nehmen an solchen Sendungen teil.

Um sie dahin zu bringen, müsste man sie ihrer derzeitigen Macht und ihres derzeitigen Status entledigen. Eine derartige Einladung klingt wie eine Drohung für die beiden, aber wer droht ihnen da? Das Mädchen wohl kaum und auch nicht Nawalny. Wieder diese verfluchte Unsicherheit.

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„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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