Das Haus der Regierung entstand 1931 am Ufer der Moskwa. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor an der Universität Berkeley, erzählt in seinem gleichnamigen Buch die Geschichte des Sowjetkommunismus anhand des Gebäudes und seiner Bewohner. 2018 ist es auf dem deutschen, 2019 auch auf dem russischen Markt erschienen.
Jahrzehntelang hat Slezkine dafür in Archiven recherchiert, entsprechend unterteilt der US-amerikanische Historiker, der 1982 aus der Sowjetunion emigrierte, sein Buch in drei unterschiedliche Stränge: einen biografischen, einen historischen und einen analytischen.
Im Interview mit Maxim Trudoljubow für Colta.ru spricht Yuri Slezkine über das besondere Gebäude und seine Bewohner und darüber, weshalb er den Kommunismus als Sekte begreift.
Maxim Trudoljubow: Die Baustelle ist eine gute Metapher. Die Bolschewiki machten sich an den Bau dessen, was sie Sozialismus nannten, ohne einen Bauplan zu haben. Aber für das Haus der Regierung gab es einen Bauplan – übrigens eines der wenigen Wohnhäuser, die damals überhaupt gebaut wurden.
Yuri Slezkine: Dieses Gebäude ist in der Tat eine Metapher. Das Haus der Regierung wurde gleichzeitig mit der Sowjetunion erbaut und, wenn man so will, gleichzeitig mit dem Stalinismus – in den Jahren des ersten Fünfjahresplans. Die Bewohner errichteten eine neue Wirtschaft, einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten.
Die Bewohner errichteten einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten
Man redete zwar ständig von Städten und Wohnraum, und es wurde viel darüber geschrieben, wie die Wohnkommunen aussehen sollten. Gebaut wurde allerdings wenig, der Staat hatte andere Sorgen – die Industrialisierung, die Kollektivierung. Baustellen gab es viele, vor allem aber industrielle und metaphorische. Das Haus der Regierung war eines der wenigen Wohnprojekte.
Als ich [Ihr Buch Das Haus der Regierung – dek] zu lesen begann, dachte ich, es würde um das Haus und seine Bewohner gehen. Aber es stellte sich heraus, dass die Protagonisten noch etwas anderes als der Wohnort verbindet. Die zentrale Metapher des Buchs (oder ist es keine Metapher?) ist die Sekte. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ich hatte nicht die Absicht, über eine Sekte zu schreiben. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke. Ich war erstaunt, wie oft das Wort Glaube vorkam, wie diese Menschen dachten und worauf sie hofften. Mich verblüffte die Ähnlichkeit dessen, was sie sagten, mit dem, was ich aus ganz anderer Literatur kannte. Ich fing an, Bücher über Millenarismus, Apokalyptik und ähnliche Phänomene zu lesen.
Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke
Eigentlich wollte ich das Haus der Regierung „bauen“, seine Bewohner dort „einziehen“ lassen, zuschauen, wie sie darin leben, um dann Zeuge ihrer Verhaftung und Hinrichtung zu werden. Aber am Ende hatte ich ein Buch, das viel größer war, in seinem Umfang und auch in jeder anderen Hinsicht.
Das bolschewistische Sektentum ist für mich keine Metapher. Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Bolschewiki und religiösen Sektenanhängern. Ich verwende das Wort Religion nicht, weil es das Bild nur verstellen würde. Ich behaupte, dass die Bolschewiki Sektenanhänger waren, ohne Anführungszeichen.
Welche Art von Sektenanhängern?
Der apokalyptische Millenarismus ist der Glaube daran, dass die Welt, die voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist, noch zu Lebzeiten der jetzigen (oder spätestens nachfolgenden) Generation in einem katastrophalen Gewaltausbruch ihr Ende finden wird.
Manche bezeichnen solche Bewegungen als religiös, andere nicht – das hängt ganz davon ab, welche Religionsdefinition man ansetzt. Für mich spielt das keine Rolle. Als mir beim Lesen der Dokumente bewusst wurde, dass die Bolschewiki – ganz egal, welche Definition man benutzt – apokalyptische Millenaristen waren, begann ich sie im Vergleich zu anderen, ähnlichen Bewegungen zu betrachten. Cargo-Kulte, das frühe Christentum, der frühe Islam, die Münsteraner Wiedertäufer, die Roten Khmer, der Taiping-Aufstand – all das sind millenaristische Bewegungen. Die Anhänger- oder Opferzahlen miteinander zu vergleichen ist uninteressant. Wichtiger ist der Kern der Sache.
Lenin nannte sie eine ,Partei neuen Typs’, aber er hätte sie auch ,Sekte gewöhnlichen Typs’ nennen können
Für die Bolschewiki selbst war ihre Partei keine Partei, wie Politiker und Soziologen sie definieren. Es war keine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Machtergreifung im Rahmen eines bestehenden politischen Systems abzielte. Es war vielmehr eine Organisation, die auf den Sturz des bestehenden politischen Systems im Kontext der Zerstörung der gesamten Alten Welt hinarbeitete – einer Welt der Ungerechtigkeit und unauflösbaren Widersprüche. Lenin nannte sie eine „Partei neuen Typs“, aber er hätte sie auch „Sekte gewöhnlichen Typs“ nennen können.
Ihre Protagonisten machen keinen Halt vor Grausamkeit, aber sie leiden auch und weinen immerzu. Lenins Tod lässt Tränenströme losbrechen, die Ermordung Kirows löst eine Schockstarre aus. Warum? Waren sie so unglaublich emotional?
Ich denke, das hat mit ihren Vorstellungen zu tun, mit der Prophetie, an die sie glaubten, mit der Intensität der Erwartungen, der Opferbereitschaft, die ursprünglich zum Bolschewismus gehörte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es am Anfang des Buches um sehr junge Menschen geht. Um emotionale, ehrfürchtige junge Männer und Frauen, die von fieberhaften apokalyptischen Stimmungen beseelt sind.
Sie lebten in konspirativen Wohnungen, in Gefängnissen, in der Verbannung. In ihrem Weltgefühl waren Sehnsucht, Verzweiflung und die inbrünstige Hoffnung auf das Kommen des „rechten Tages“ vereint. Und dann geschah etwas, das in der Geschichte solcher Bewegungen unglaublich selten ist: Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch. Genau, wie es einmal ein anderer Millenarist prophezeit hatte: „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater das Kind, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie zu Tode bringen“ (Matthäus 10,21).
Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch
Die Briefe aus den Tagen des Bürgerkrieges zeugen von einem beeindruckend intensiven Erleben. Extreme Erfahrungen bringen extreme Emotionen. Alle Millenaristen ereilt früher oder später das, was die amerikanische Geschichte als die „große Enttäuschung“ kennt: Die Zeit vergeht, aber die Prophezeiung tritt nicht ein.
Für die Bolschewiki war diese Erfahrung besonders schmerzhaft, weil sie die „Schlacht von Armageddon“ bereits gewonnen hatten. Aber kaum war sie gewonnen, da wurden die Positionen auf dem X. Parteitag auch schon aufgegeben, der charismatische Anführer starb, und in den Häusern der Sowjets wurde nur irgendwelches Zeug gemacht. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) war ihre große Enttäuschung. Das wird deutlich, wenn man die Parteiliteratur der 1920er Jahre liest oder sich ansieht, wie diese Menschen lebten, wie sie weinten, wie sie sich in Sanatorien behandeln ließen.
Kommt das Gefühl der „belagerten Festung“ erst in den 1920er, 1930er Jahren auf? Oder war das ein allgemeiner Wesenszug?
Es war ein Wesenszug. Es ist nicht so, dass ich – nur weil ich einmal beschlossen habe, dass die Bolschewiki eine Sekte sind – ihnen alles zuschreibe, was ich über Sekten weiß. Es zeigte sich einfach, dass vieles von dem, was ich über sie herausfand, mit dem übereinstimmt, was wir über Sekten wissen.
Die Absonderung von der Außenwelt ist eines der Merkmale des frühen Bolschewismus. Und eine Sekte ist, in welcher Definition auch immer, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich von der feindlichen, sündigen, dem Untergang geweihten Welt lossagt. Die Bolschewiki haben viel darüber geschrieben, was es für sie bedeutete, ein Teil dieser heiligen Bruderschaft zu sein und welch ein Abgrund sie von dem kleinbürgerlichen „Sumpf“ trennt. Das Haus der Regierung war ihre belagerte Festung.
Das heißt, sie fühlten sich auch innerhalb des Landes umzingelt?
Das Haus an der Uferstraße war eine riesige Festung. Bei seiner Eröffnung war im Land gerade die Kollektivierung im Gange. Die Bewohner wussten und wussten gleichzeitig nicht, wie sie genau abläuft. Sie erließen Dekrete und stellten Pläne auf, aber sie diskutierten nicht, welchen Preis sie dafür zahlten. Sie sprachen nicht mit ihren Haushälterinnen darüber, was mit deren Familien passiert war.
Es war in dem Sinne eine belagerte Festung, als sie von sowjetischen Menschen umgeben waren, die gar keine waren. Die Sowjetunion war eine belagerte Festung innerhalb einer bourgeoisen Welt, das Haus der Regierung war eine belagerte Festung innerhalb der Sowjetunion, und jede einzelne Wohnung eine innerhalb des Hauses. Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert.
Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert
Wir sehen, wie sehr sie darunter litten, dass das Leben von allen Seiten an sie herandrängte. Die Kinder wuchsen heran, auf den Tischen breiteten sich Tischdeckchen aus, an den Fenstern Vorhänge; Eltern, Verwandte kamen zu Besuch. Kleine Familien gab es da kaum, die allermeisten hatten eine Großfamilie. Der Schwiegervater – ein ehemaliger Rabbi – kam, die Schwiegermutter betete flüsternd, die Haushälterin vom Land taufte heimlich die Kinder.
Der rechtgläubige Bolschewik wurde überwuchert von Sachen und armen Verwandten. Denen, die Zeit zum Nachdenken hatten, war bewusst, dass sie Tag für Tag und Stunde für Stunde ihren Glauben verrieten. Und wenn man sie holen kam, wussten sie deshalb auch, dass sie in gewisser Weise schuldig waren.
Stalin bleibt in Ihrem Buch fast außen vor. War er für [die Bolschewiki] der „Großinquisitor“, eine Dostojewski-Figur, die verstanden hat, dass man nicht auf die „Wiederkunft“ warten darf, sondern ein System errichten muss?
Über Stalin habe ich nichts Neues zu sagen. Und er lebte ja auch nicht im Haus an der Uferstraße. Das ist gut, weil man in historischen Romanen den König normalerweise nicht zur Hauptfigur macht. Im Unterschied zu jemandem, der einen historischen Roman schreibt, konnte ich nichts erfinden, es kam mir also sehr gelegen, dass Stalin auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und es ist auch nicht so wichtig, was er dachte. Ich glaube, dass er ein wahrer Bolschewik war, ein gläubiger Mann. Aber gleichzeitig ein pragmatisches Staatsoberhaupt. Sie waren alle zugleich Gläubige und Staatsbeamte.
Welches Erbe hinterließ die erste Generation von Bauherren der UdSSR? Ist es der nachfolgenden Generation gelungen, dem System Routine zu verleihen?
Der Bau war nicht besonders solide. Wir wissen, wie die Sowjetunion zu Ende ging. Sie ist nie wirklich zur Routine geworden. Das Christentum existiert als Zivilisation schon seit 2000 Jahren. Die Kommunisten sind ausgestorben. Die Entwicklungskader meiner Figuren sind gestorben, und mit ihnen auch der Staat, den sie aufgebaut haben. Das heißt, etwas ist ihnen schon gelungen, und das ist nicht wenig. Sie sind die einzige millenaristische Sekte, die es geschafft hat, die Herrschaft in Babylon an sich zu reißen.
Das Christentum wurde erst vier Jahrhunderte nach dem Tod seines Propheten die offizielle Religion des Römischen Reiches, als kaum noch jemand den baldigen Weltuntergang herbeigesehnt hat. Die Bolschewiki blieben auch nach ihrer Machtergreifung inbrünstig gläubige Millenaristen. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber es währte eben nicht lange.