Die Geschichte der Ausgrenzung, Enteignung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden kennt viele wichtige Daten und Ereignisse: Boykotte jüdischer Geschäfte ab 1933, Berufsverbote, die diskriminierenden Nürnberger Rassegesetze 1935 oder Gewalttaten wie die Reichspogromnacht 1938. Sie betrafen zunächst die deutschen Juden, ab 1938 auch die Juden Österreichs und des Sudetenlandes. Mit Kriegsbeginn vergrößerte sich jedoch sprunghaft die Gruppe derer, die von der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten betroffen war. Allein in Polen gerieten etwa 1,8 Millionen Juden unter deutsche Besatzung. Ab Herbst 1939 wurden dort hunderte Ghettos eingerichtet und bis Ende des Jahres fielen etwa 7000 polnische Juden deutscher Gewalt zum Opfer.
Zu den wichtigen Daten zählt auch der 22. Juni 1941. Denn erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann die massenhafte und systematische Ermordung der Juden Europas, aus Terror wurde Genozid. Besonders auf den Gebieten der heutigen Ukraine und Belarus sowie der heutigen baltischen Staaten sowie Moldaus und Rumäniens ermordeten mobile Tötungskommandos innerhalb weniger Wochen und Monate Hunderttausende Juden. Hinter den vorrückenden Truppen drangen sie auch auf das Gebiet des heutigen Russlands vor, wo sie ebenfalls zahlreiche Massenmorde an Juden begingen. Insgesamt fanden auf den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion bis 1944 etwa 2,6 Millionen Juden den Tod.
Erst ab Ende 1941 bzw. im Laufe des Jahres 1942 wurden im besetzten Polen jene Vernichtungslager errichtet, in die schließlich Millionen Juden aus Polen und ganz Europa deportiert und ermordet wurden und die bis heute zu den zentralen Erinnerungsorten des Holocaust zählen.
Der russische Jurist und Publizist Lew Simkin hat unter anderem Monographien zu Friedrich Jeckeln, dem Vernichtungslager Sobibor und zur juristischen Aufarbeitung des Holocausts vorgelegt. In einem Kommentar für gazeta.ru geht er anhand der Aussagen der Täter der Frage nach, warum gerade der 22. Juni 1941 den Übergang zu unvorstellbaren Massakern an den Juden markiert.
An dem Tag, als die deutsche Armee und in deren Gefolge die Mörderbrigaden der Einsatzgruppen die sowjetische Grenze überschritten, begann das, was mit dem griechischen Wort Holocaust (dt. „vollkommen verbrannt“) bezeichnet wird. Bis zu diesem Tag waren die Juden in Europa zwar verfolgt, aus ihren Häusern verjagt und ihres Besitzes beraubt worden, aber sie wurden nicht umgebracht, zumindest nicht in diesen Dimensionen.
Die Phase des offenen Massenmordes begann in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.
„Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“
Einer derjenigen, die von nun an in bisher ungekanntem Maße mordeten, war SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, der am 23. Juni 1941 seinen Dienst als Höherer SS- und Polizeiführer Russland-Süd antrat. Jeckeln wurde vor 75 Jahren von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt und gehängt. Die Unterlagen zu seinem Verfahren habe ich vor mir. Ich konnte sie im Zentralarchiv des FSB einsehen.
„Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“, berichtet Jeckeln bei der Gerichtsverhandlung. „Mit Erlass der Nürnberger Gesetze wurde dieser Kampf rechtlich untermauert. Da hatte man noch nicht vor, die Juden umzubringen. Sie sollten aber ins Ausland umgesiedelt werden, insbesondere nach Palästina“.
Es ist möglich, dass in den ersten Jahren des Dritten Reiches niemand in der NS-Bewegung, auch der „Führer“ nicht, eine feste Vorstellung hatte, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte.
Nun gehört aber neben Mein Kampf auch der Brief an den Soldaten Gemlich zu den Quellen des Nationalsozialismus, geschrieben vom „Bildungsoffizier“ Adolf Hitler am 16. September 1919. Dort heißt es: „Das letzte Ziel [des Antisemitismus] muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Sein Weg zu diesem „letzten Ziel“ war allerdings ein recht langer.
In den ersten Jahren hatte niemand in der NS-Bewegung eine feste Vorstellung davon, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte
Es muss wohl kaum jemandem erklärt werden, dass sich hinter dem Euphemismus „Endlösung“ die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas verbarg. Allerdings weiß niemand, ob dieser Begriff von Beginn an eben diese Bedeutung hatte, und ob er im Dritten Reich jene große Verbreitung fand, die heute gemeinhin angenommen wird. In historischen Dokumenten begegnet man ihm nur äußerst selten.
In den 1980er Jahren hatte der „Nazijäger“ Simon Wiesenthal Hitlers ehemaligen Minister Albert Speer gefragt, wann dieser das erste Mal diesen Begriff gehört hat. Speer antwortete, dass es erst nach dem Krieg gewesen sei – weder Hitler noch Himmler hätten ihn verwendet.
Hatte es denn überhaupt einen Beschluss über die Vernichtung der Juden gegeben?
Niemand hat jemals einen schriftlichen Befehl zur Ermordung jedes einzelnen Juden gesehen. Keiner der wichtigsten Helfer Hitlers hat in den Verhören nach dem Krieg einen solchen Befehl erwähnt. Einige Historiker gehen davon aus, dass es ihn nicht gegeben hat. Aber in welchem Sinne nicht gegeben? In schriftlicher Form? Oder hat es ihn überhaupt nicht gegeben?
Der britische Holocaust-Forscher Martin Dean hat mir gegenüber argumentiert, es habe keine einheitliche „Endlösung“ gegeben, die Entscheidung sei schrittweise getroffen worden, zwischen Frühjahr 1941 und Sommer 1942, und sie sei schrittweise umgesetzt worden: Die Juden wurden in verschiedenen Phasen über die gesamte Dauer des Krieges ermordet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die „Endlösung“ anfänglich eine Andeutung Hitlers war, die von jenen verstanden wurde, an die sie gerichtet war. Schließlich waren sie alle – und Himmler an erster Stelle – moralisch bereit; alles Weitere hing allein von ihrer Initiative ab.
Die Vernichtung aller sowjetischen Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion
All dem könnte man soweit zustimmen, wäre da nicht Folgendes: Die Vernichtung der sowjetischen Juden, und zwar aller Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann praktisch sofort mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion. Dies wird allerdings für gewöhnlich damit erklärt, dass nach Hitlers Ansicht den sowjetischen Juden der Kommunismus eigen war, weswegen die Juden in der UdSSR als Kommunisten ermordet wurden. Dem war jedoch nicht ganz so – vielmehr keineswegs so.
Allgemein wird angenommen, dass die sowjetischen Juden aufgrund des „Kommissarbefehls“ ermordet wurden, der am 6. Juni 1941 von Generalfeldmarschall Keitel unterzeichnet wurde und die Anweisung enthielt, „politische Kommissare [...] nach durchgeführter Absonderung zu erledigen“. Doch von Juden ist in dem Befehl keine Rede. Diese tauchen erst in einer Weisung Reinhard Heydrichs auf, dem Leiter des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA), die er am 2. Juli 1941 bezüglich der Umsetzung des Kommissarbefehls an die Höheren SS und Polizeiführer richtete: „Zu exekutieren sind […] Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente […].“
Zunächst versuchte Jeckeln auf dem Papier, seine Opfer unter diese Kategorien zu fassen. Und später wunderte sich niemand, dass sämtliche Juden zu den „Kommissaren“ gezählt wurden, auch Frauen und Kinder. Der erste Massenmord geschah im August 1941 in der Stadt Kamjanez-Podilsky, wo auf Befehl von Jeckeln im Laufe von drei Tagen 23.600 Menschen ermordet wurden. Allein, weil sie als Juden geboren worden waren. Das Massaker von Babyn Jar folgte einen Monat später.
„Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.”
Aus dem Verhör von Jeckeln:
Frage: „Aus welchem Grund wurden Bürger jüdischer Nationalität umgebracht?”
Antwort: „Laut Propaganda mussten die Juden erschossen werden, weil sie nicht produktiv arbeiten konnten und wie ein Parasit im deutschen Volkskörper lebten.“
In seiner Antwort an den Staatsanwalt folgte Jeckeln somit Himmler, der Juden als „Parasiten“ bezeichnet hatte, die „zu vernichten sind“.
Doch, wie Stanislaw Lem in seinen Provokationen treffend schrieb: „Himmler hat [...] gelogen, [...] denn Parasiten vernichtet man nicht mit der Absicht, ihnen Qualen zuzufügen.” […] „Die nach Geschlechtern getrennten Juden wären in spätestens vierzig Jahren ausgestorben, wenn man dabei in Rechnung stellt, wie rasch die Ghettobevölkerung vor Hunger, Krankheiten und durch die infolge der Zwangsarbeit bedingte Entkräftung zusammenschmolz. […] – es sprachen also keine anderen Faktoren für die blutige Lösung außer dem Willen zum Mord.”
Frage Staatsanwalt: „Sie waren natürlich in Bezug auf die Juden der gleichen Ansicht?”
Antwort Jeckeln: „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.” Hannah Arendt bezeichnete in ihrem 1945 erschienenen Artikel Organisierte Schuld die Deutschen als ein Volk, „in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, effektiv verwischt worden ist [...].”
Und trotzdem heuchelte Jeckeln, als er auf die Frage des Staatsanwalts antwortete. Er teilte nicht einfach nur diese kannibalischen „Ansicht“.
Der Führer habe sich geäußert, die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen.
Verteidigung (Anwalt Milowidow). Frage an den Zeugen Blaschek:
„Als Jeckeln von den Plänen zur Vernichtung der Juden sprach, was meinen Sie als Zeuge – war das der persönliche Plan von Jeckeln oder Programm jener Partei, in der der Angeklagte Mitglied war?“
Antwort: „Wir hatten kaum eine persönliche Meinung. Jeckeln war aber einer derjenigen, die Meinung machten. Unter diesen Meinungsmachern war es sehr schwer, eine eigene Meinung zu haben. Das betrifft nicht nur mich, sondern im Grunde das ganze deutsche Volk.“
Milowidow: Ich habe keine weiteren Fragen.“
Für mich bleibt aber noch die Frage: Gab es nun einen Beschluss zur Vernichtung der Juden oder nicht? Ich habe in den Archivunterlagen über SS-Gruppenführer Bruno Streckenbach, der zu Beginn des Krieges als Chef des Amtes I des Reichsicherheitshauptamtes einen der höchsten Posten in der SS-Hierarchie innehatte und der zum Ende des Krieges in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, einen neuen Beleg für die Existenz eines Beschlusses entdeckt. Anders als Jeckeln ist er nicht hingerichtet worden. Als ihm der Prozess gemacht wurde, galt bereits der Erlass des Präsidiums der Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. Mai 1947 „Über die Abschaffung der Todesstrafe“. Streckenbach kehrte 1955 zusammen mit den anderen deutschen Kriegsgefangenen wohlbehalten nach Deutschland zurück.
In Streckenbachs Ausführungen, die er im Laufe der Vorermittlungen gemacht hat , habe ich folgende Passage gefunden: „Mit Beginn des Russlandfeldzugs erreichten die Maßnahmen gegen Juden ein neues Stadium. Es erging der Befehl zur breitangelegten Liqudierung der Juden. Mir ist nicht ganz klar, von wem die Initiative ausging. Einem Bericht von Heydrich zufolge hatte sich der Führer auf einer der Besprechungen dazu geäußert und erklärt, er habe die Absicht, die Judenfrage in Europa endgültig zu lösen, und die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen. Dieser Befehl wurde zwar geheim gehalten, war aber dennoch bald allseits bekannt und sorgte für große Aufregung, weil es viele gab, die damit nicht einverstanden waren“.
Dass viele nicht einverstanden gewesen seien, ist ein rhetorisches Mittel der Übertreibung, das sich durch den Ort erklären lässt, an dem die Aussage niedergeschrieben wurde, nämlich im Gefängnis der Lubjanka. Alles Übrige entspricht wohl der Wahrheit. Bis zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, die allgemein mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbunden ist, war es noch weit. Zu jener Zeit war aber bereits die erste Million der sechs Millionen Opfer des Holocaust ermordet worden.