War die Friedlichkeit der Proteste von 2020, die im Sommer vor vier Jahren begannen, ein Fehler? Wie unterscheiden sich die kulturhistorischen Prägungen in Belarus, Russland und in der Ukraine? Was sind die tragischsten Ereignisse in der belarussischen Geschichte? Warum konnte sich die belarussische Nation trotz aller Unkenrufe doch formieren?
In einem Gespräch mit dem Online-Medium Gazeta.by nimmt der belarussische Journalist Alexander Klaskowski den Leser mit auf eine fulminante Tour durch die wechselhafte Historie seines Landes.
Bahdana Paulouskaja: Viele Wissenschaftler, mit denen wir im Kontext unseres Projektes sprechen konnten, merkten an, dass wohl keine Nation in ihrer Entwicklung so viele Hürden überwinden musste wie die belarussische. Und dennoch gibt es die Belarussen. Wie haben wir überlebt?
Alexander Klaskowski: In gewisser Weise ist das einfach ein Wunder und ein Glücksfall, denn viele Völker sind verschwunden, ohne Nationen zu werden. Ich denke, dass den Belarussen ein bestimmter Charakterzug nützlich war, nämlich ihre Anpassungsfähigkeit. Die rauen Lebensbedingungen und viele feindliche Angriffe ließen die Fähigkeit entstehen, jedem Widerstand zum Trotz zu überleben.
Zudem würde ich die Besonderheiten der belarussischen Natur anführen: Wälder und Sümpfe. Der Wald bot Rettung, er ernährte und schützte, wenn die Fremden kamen und die Siedlungen niederbrannten. Und wenn es keinen Wald in der Nähe gab, galt das Prinzip „versteck dich in den Kartoffeln“. Doch das bedeutet nicht, dass die Belarussen Angsthasen sind. Ich bestreite dieses Stereotyp, das einige verbreiten. Wir haben viele Helden in unserer Geschichte. Bei uns gab es das Rittertum, unser Adel hatte ruhmreiche Kampftradition, und selbst in der Sowjetarmee schätzte man die Belarussen als gute Soldaten.
Wir überlebten auch, weil es in unserer Geschichte immer wieder Menschen gab, die den Belarussen halfen, sich als Nation zu verstehen. Diese Menschen wurden vernichtet, doch unser Land brachte immer neue, strahlende Persönlichkeiten hervor, Intellektuelle und Aktivisten. Dazu gehörten Kastus Kalinouski, Winzent Dunin-Marzinkewitsch, die Luzkewitsch-Brüder, Branislau Taraschkewitsch, Janka Kupala und Jakub Kolas, ebenso die Gründer der BNR und die Begründer der BNF. Auch Sjanon Pasnjak ist zu erwähnen. Heute stehen einige seiner Äußerungen in der Kritik, und viele meinen, seine politische Zeit sei längst vorbei, doch er bleibt in jedem Fall eine einzigartige Persönlichkeit.
Am Ende von Gorbatschows Perestroika war die BNF sehr aktiv. Denken wir nur an die berühmte Sitzung der Unabhängigkeit im August 1991, in der sich die kleine, aber gut organisierte und politisch erfahrene Oppositionsfraktion der BNF durchsetzte, dass die Unabhängigkeitserklärung den Status eines Verfassungsgesetzes erhielt. Etwas später wurden die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen zu Staatssymbolen.
Welche negativen Charakterzüge haben wir Belarussen? Was steht uns im Weg?
Ich begegne der Frage nach einem nationalen Charakter grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. Da gibt es viele Vorurteile und Stereotype. Ich habe auch schon temperamentvolle Esten und phlegmatische Ukrainer getroffen. Schon zu Sowjetzeiten und auch heute noch heißt es, die Belarussen zeichne ihre Gastfreundlichkeit aus. Aber sind die Georgier etwa nicht gastfreundlich? Auch den Tschuktschen sagt man Gastlichkeit nach. Das ist also alles durchaus fragwürdig. Oder es wird dieses negative Stereotyp kultiviert, dass die Belarussen mehr als andere untereinander streiten. Als wären Menschen aus anderen Ländern auf Social Media höflicher. Überhaupt haben einige Belarussen diese Angewohnheit, irgendwelche negativen Eigenschaften des Nationalcharakters zu finden oder sich auszudenken und dann sich darüber zu beschweren. Das lehne ich ab. Ich sehe wenig Sinn darin, sich als Nation schlechtzumachen. Wir müssen unsere Vorzüge und Stärken hervorheben, um uns so zu motivieren und Menschen, die heute in einer sehr schwierigen Situation sind, optimistisch zu stimmen – ob in Belarus oder im Ausland, im erzwungenen Exil.
Dann beschreiben Sie doch bitte unsere positiven Eigenschaften.
Als positiv betrachte ich die Besonnenheit, die vernünftige Vorsicht und die Gesetzestreue, die man uns Belarussen nachsagt. Wobei aus Werten oft auch Schwächen werden können. Besonnenheit kann zu Trägheit und Unentschlossenheit werden, daher rührt diese belarussische Redensart „Vielleicht gehört das ja so?”. Und Gesetzestreue wird von den heutigen Machthabern oft ausgenutzt, denen es, wie wir wissen, selbst „manchmal nicht nach Gesetz zumute ist“ (Lukaschenka).
Hätten die Demonstrierenden 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben
Oder nehmen wir dieses Bild aus dem Jahr 2020, das im Netz und in den Medien viral ging, als protestierende Belarussen ihre Schuhe auszogen, bevor sie auf eine Parkbank stiegen. Es gab viel Kritik daran, besonders von Ukrainern, die meinten, wir sollten die OMON lieber mit Molotow-Cocktails angreifen. Aus meiner Sicht ist es nicht korrekt, den Belarussen vorzuwerfen, sie hätten im Jahr 2020 nicht entschlossen genug gehandelt. Während der Maidan-Aufstände in der Ukraine herrschten völlig andere Bedingungen als während der Proteste in Belarus. Die Ukrainer hatten es nicht mit einer so brutalen Diktatur zu tun, es gab finanzielle Mittel, um die Straßenaktionen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, denn einige Oligarchen setzten sich dafür ein, es gab starke unabhängige Medien, eine Opposition im Parlament, eine Spaltung der Eliten und vieles mehr.
Hätten die Teilnehmenden dieses spontanen, friedlichen Aufstandes in Belarus 2020 Steine genommen und die OMON mit Steinen beworfen, hätten sie das Regime auch nicht überwältigt, sondern nur noch härtere Reaktionen erlebt. Auch so haben sehr viele stark gelitten. Hätten die Demonstrierenden im August 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben. Dort standen Schützenpanzer mit großkalibrigen Maschinengewehren bereit. Lukaschenka sagte später selbst, dass er nicht gezögert hätte, „die Armee zu aktivieren“, also die Protestierenden zu erschießen. Diese Proteste hatten also praktisch gar keine Chance.
Wie lässt es sich erklären, dass wir uns so von unseren Nachbarn unterscheiden, mit denen wir doch eigentlich eine gemeinsame Geschichte teilen, vom Großfürstentum Litauen über die Rzeczpospolita hin zum Russischen Reich und der UdSSR?
Bei den Russen gab es die Periode des mongolisch-tatarischen Jochs, das auch in der Mentalität seine Spuren hinterlassen hat. Die belarussischen Gebiete wurden davon kaum tangiert, auch wurden sie vom Westen kaum von den Deutschen Ordensrittern heimgesucht, auch dank des Widerstands und einiger herausragender Siege. Während im Großfürstentum Moskau der Despotismus herrschte, galten bei uns die für die damalige Zeit fortschrittlichen Gesetze des Großfürstentums Litauen, unsere Städte erhielten das Magdeburger Stadtrecht. Mit anderen Worten, bei uns wurde damals schon die Achtung der Person, des Eigentums und des Rechts kultiviert. Heute macht dies den Unterschied zwischen Russen und Belarussen aus.
Die Ukrainer hingegen sind eher ein südländisches Volk. Manchmal hört man, die Ukrainer seien die Italiener Osteuropas, die Belarussen wiederum die Deutschen Osteuropas. Das ist in meinen Augen ein treffender Vergleich. Die Ukrainer sind durchaus temperamentvoller, sie haben die Traditionen der freien Kosaken und der Rebellion, und das bedingt auch Besonderheiten in ihrer Geschichte und Gegenwart – wie sie beispielsweise im Jahr 2022, als ihnen eine Niederlage innerhalb von drei Tagen prophezeit wurde, den russischen Invasoren absolut unerwartet einen Schlag ins Gesicht versetzten. Wir dagegen haben mit den Litauern recht viel gemeinsam, auch wenn uns unsere slawische Herkunft von ihnen trennt.
Gibt es ein besonders tragisches Ereignis in unserer Geschichte, das sich Ihrer Ansicht nach stärker als andere in der belarussischen Mentalität niedergeschlagen hat und dessen Nachwirkungen wir bis heute spüren?
Die belarussische Geschichte ist insgesamt tragisch. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Genpool der Nation dezimiert, weshalb ich immer wieder sage: Es ist ein Wunder, dass die Belarussen überlebt haben, dass sie bestehen und weiterhin wunderbare, große Persönlichkeiten hervorbringen. Hier kann man auf die Kriege mit den Moskowitern eingehen, als die Hälfte der Bevölkerung umkam. Das war eine riesige Tragödie. Aber diese Ereignisse liegen sehr lange zurück, die heutigen Belarussen wissen nur aus Büchern davon.
Natürlich muss auch der Zweite Weltkrieg genannt werden. Das war ein kollektives Trauma, das bis heute spürbar ist. In meiner Kindheit und Jugend waren Gespräche über die Invasion der Hitlertruppen, über den Hunger und die Angst der Menschen vor Erschießung sehr häufige Themen unserer Eltern und Großeltern. Die Veteranen sprachen übrigens nicht so gern über den Krieg, und wenn sie doch etwas erzählten, zum Beispiel bei einem Gläschen nach der Banja, dann war da keine Romantik, kein Pathos, sondern einzig, dass es eine furchtbare, blutige Angelegenheit gewesen sei. Womit man heute in Russland und auch in Belarus hausieren geht, dieser verlogene Patriotismus mit „wir können es wiederholen“, das hat überhaupt nichts mit der wahren Erinnerung an den Krieg zu tun. Tatsächlich sind die Belarussen Pazifisten. Selbst soziologische Studien zeigen das, wenn es um die Einstellung zum Krieg in der Ukraine geht. Ich denke, das ist einer der Faktoren, der Lukaschenka und Putin davon abgehalten hat, das belarussische Militär in den Krieg hineinzuziehen.
Heute stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel
Andererseits nutzt das jetzige Regime die belarussische Hauptsache-kein-Krieg-Einstellung auch für sich aus. Lukaschenka ist bemüht, sich als weisen und allmächtigen Friedensschützer in Belarus darzustellen, obwohl sein Regime in Wahrheit als Co-Aggressor dem Kreml in seinem ungerechten Krieg gegen die Ukraine hilft. Jedoch hält das Lukaschenka nicht davon ab, mit seinem Spitz irgendwo an die litauische Grenze zu fahren und zu erzählen, wie er das blauäugige Belarus vor den NATO-Horden und den Flüchtlingen bewahrt. Bei einem Teil der Bevölkerung hat er damit Erfolg. Auch Tschernobyl gehört zu den tragischen Ereignissen.
Und nicht zuletzt das frischeste kollektive Trauma – das Jahr 2020. Auf der einen Seite dieser Aufschwung von Nationalgefühl, Politisierung, das Moment des gesellschaftlichen Erwachsenwerdens, als sich zeigte, als wir als politische Nation mit einer starken Zivilgesellschaft auftraten. Auf der anderen Seite aber die schwere Niederlage des friedlichen Aufstandes, die bei Hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen von Belarussen zu physischen und psychischen Traumata führte. Und heute, wo unser irres Regime den Grad der Repressionen und der Angst hochdreht, parallel dazu aber die Souveränität stückchenweise an Moskau abgibt, ist schon allein Lukaschenkas eine nationale Tragödie. Denn offensichtlich stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel.
Was war das wichtigste Initialereignis für die Nationsbildung?
Vielleicht mutet diese Antwort für einen Menschen mit demokratischer Grundhaltung paradox an, aber ich würde sagen: die Gründung der BSSR. Natürlich strengten die Bolschewiki dieses Projekt vor allem deshalb an, weil es vorher die BNR gegeben hatte. Aber, Hand aufs Herz, die BNR hatte keinen Erfolg, sie vermochte es nicht (und konnte es unter diesen Bedingungen wohl auch nicht schaffen), ein richtiger Staat zu werden. Sie war ein vornehmlich virtuelles Gebilde, auch wenn die historische Bedeutung dieses Momentums zweifellos enorm ist.
Die Körnchen, die Ende der 1980er Jahre gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht
Die BSSR war natürlich nicht unabhängig. Zwar war die Souveränität der Unionsrepubliken in der sowjetischen Verfassung festgeschrieben, es gab sogar das Recht auf Austritt aus der UdSSR, aber wer glaubte damals daran, dass Moskau so etwas zulassen würde? Zu Stalins und Breschnews Zeiten war das selbstverständlich undenkbar, aber infolge der Perestroika Gorbatschows begann die Sowjetunion zu zerfallen, und Belarus erlangte seine Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu beispielsweise Tatarstan und Baschkirien, die nur Autonome Sowjetrepubliken waren. In diesem Sinne erfüllte dieser sowjetische Status also doch einen Zweck.
Zweitens würde ich noch die Perestroika, den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der Unabhängigkeit gesondert herausstellen. Eben diese Phase der Wiedergeburt am Ende der 1980er und in der ersten Hälfte der 1990er war eine fantastische, einmalige Zeit. Dank der Belarussischen Volksfront (BNF), ihren engagierten Persönlichkeiten, den Anführern der nationalen Wiedergeburt, begannen Hunderttausende unserer Landsleute, sich vollkommen als Belarussen zu fühlen. Auch ich, wenn ich das so pathetisch sagen darf, bin in diesen Jahren zum bewussten Belarussen geworden. Diese politische Aktivität brach plötzlich wie ein Bach unter dem Eis hervor, es fanden Kundgebungen statt, die weiß-rot-weiße Flagge wehte über den Plätzen. Es war eine kurze, aber sehr intensive Periode.
Und im Jahr 2020 funktionierte es auf fantastische Weise erneut. Die klassische, „alte“ Opposition, wie man sie nennt, hat zwar anscheinend ihren Einfluss verloren und tat sich bei den Straßenaktionen nicht sonderlich hervor. Aber diese Körnchen, die damals gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht, und wir sahen über den Protestzügen ein Meer aus weiß-rot-weißen Fahnen.
Der zweite Teil des Gesprächs mit Alexander Klaskowski erscheint am 6. August 2024 bei dekoder.