Wenn Dienstältere systematisch junge Soldaten schikanieren, teilweise sogar quälen oder misshandeln, so hat das in Russland einen Namen: Dedowschtschina. Die Dedowschtschina geht zurück bis in die Zarenzeit, doch bis heute legt sich über die konkreten Fälle meist ein Mantel des Schweigens, Betroffene bleiben den Schikanen hilflos ausgeliefert. Das Verteidigungsministerium spricht von einem erfolgreichen Kampf gegen die Dedowschtschina, seit die Wehrpflicht 2008 auf ein Jahr verkürzt wurde.
Wie verbreitet ist die Dedowschtschina in der russischen Armee heute? Für Meduza hat Jewgeni Antonow Zahlen zusammengetragen und mit Menschenrechtlern und Betroffenen gesprochen.
Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung / Foto © Pawel Golowkin/Kommersant
Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus
Mit diesen Worten zerrte eines Tages im Dezember 2014 der kleine pummelige Ainur, seit sieben Monaten Wehrdienstleistender in einem Verband bei Nowosibirsk, den frisch einberufenen Georgi in den Trockner – einen Raum zum Trocknen der Soldatenuniformen. „Bist wohl ein Oberschlaumeier und hast was über Kasachstan zu melden?“
Eine halbe Stunde zuvor hatte Georgi gesagt, Kasachstan sei ein Land mit niedrigem Lebensstandard. Mit Ainur, der Kasachstan als seine zweite Heimat bezeichnet, kamen noch zwei weitere Mitsoldaten in den Raum. Sie verdrehten Georgis Arme so, dass er sie nicht mehr rühren konnte. Ainur baute sich vor ihm auf, und, kaum war die Tür zugefallen, da verpasste er dem Neuling „eine Kopfnuss, oder vielleicht war's auch eine Ohrfeige“, erinnert sich Georgi heute. In seinem Ohr klingelte es. Dann schlug Ainur ihm ein paar Mal in den Magen, in die Nierengegend, packte ihn an den Haaren und sagte, so würde das jetzt jeden Tag ablaufen, wenn er nicht vor versammelter Mannschaft erklärte, dass Kasachstan ein großartiges Land sei.
Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert
Als Georgis neue Armeekameraden den Trockner verließen, befahlen sie ihm, sich bald zu verziehen und der Führung nichts davon zu sagen, „sonst passiert noch was“. Ainur fügte mit einem Lächeln hinzu, er könnte ihn auch „aufschlitzen“. Aufstehen und das Zimmer verlassen konnte Georgi erst nach einigen Minuten – er hatte starke Schmerzen am ganzen Körper, obwohl er „nicht einmal blaue Flecken hatte“.
Die Einheit, in die der junge Mann aus Barnaul im November 2014 kam, war den Erfahrungsberichten im Internet zufolge relativ ruhig. Weil er die Schule schlecht abgeschlossen hatte, hatte Georgi beschlossen, zur Armee zu gehen – wegen der erleichterten Zugangsvoraussetzungen an der Hochschule. Und nachdem er in den Sozialen Netzwerken gelesen hatte, dass in den meisten sibirischen Einheiten „alle Gesetze befolgt“ würden, die Angst vor der neuen Erfahrung legte sich, obwohl eine mögliche Dedowschtschina ihn durchaus nervös machte.
„Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert“, erinnert er sich. „Aber als es dann passierte, war mir klar, dass ich leben will. Also beschloss ich durchzuhalten.“
Am nächsten Tag, vor der Bettruhe, erklärte Georgi vor aller Augen, Kasachstan sei das beste Land der Welt. Seine Kameraden nahmen es auf, als wäre das völlig normal: Wie sich herausstellte, war er nicht der erste, der zu solch einer Erklärung gezwungen wurde.
Viele halten eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben
Im April 2002 erklärte Wladimir Putin in seiner Botschaft an die föderale Versammlung die Verkürzung der Wehrdienstzeit zu einem seiner Hauptziele. Umfragen zufolge hielten die Bürger eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben der Regierung; die meisten Befragten gaben an, dass sie auf eine Ausmerzung der Dedowschtschina hofften.
Im Juni 2006 unterzeichnete Putin ein Gesetz, das die Dauer der Wehrpflicht von ehemals zwei Jahren auf ein Jahr reduzierte. Der damalige Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow erklärte, diese Maßnahme diene dazu, ernsthaft gegen regelwidriges Verhalten in der Armee vorzugehen und die Kasten der Dedy und Duchi auszumerzen: Großväter, wie die Altgedienten bezeichnet werden, und Geister – Soldaten, die gerade erst einberufen worden sind.
Bald darauf hörte das Verteidigungsministerium auf, Namenslisten von Wehrdienstleistenden zu veröffentlichen, die während der Dienstausübung zu Tode gekommen sind (diese Aufgabe obliegt seitdem der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft). Der letzte Bericht bezieht sich auf die Zahlen des Jahres 2008 und spricht von 471 verstorbenen Wehrdienstleistenden (das sind deutlich weniger als früher: 1996 belief sich die Zahl der außerkriegerischen Verluste der Armee auf über 1500 Menschen, 2005 waren es noch über 1000).
Gleich mehrere Menschenrechtsorganisationen sind sich sicher: Das Fehlen einer Statistik bedeutet nicht die plötzliche Abwesenheit der Dedowschtschina. Georgis Geschichte ist bei weitem nicht die einzige, nicht einmal im Jahr 2014.
Er hatte seine Eltern mehrfach um Geld gebeten, ohne zu verraten, wofür
In der Nacht zum 17. Februar desselben Jahres wurde in einer Einheit bei Chabarowsk der Rekrut Alexej Snakin gefunden, an einem Gürtel erhängt. Während seiner Dienstzeit hatte er seine Eltern mehrfach gebeten, ihm Geld zu schicken, ohne ihnen verraten zu wollen, wofür. Ein Jahr später wurde Major Nikolaj Tschabanow angeklagt, den Rekruten erpresst und ihm gegenüber Gewalt angewendet zu haben. Tschabanow wurde wegen Missbrauchs seiner dienstlichen Kompetenzen zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Im Februar 2016 gelang es Juristen der Menschenrechtsorganisation Prawo Materi, die Anklage umzuwandeln: Das Gericht verurteilte Tschabanow nach demselben Paragraphen zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie.
Als Todesursache wurde akute Gastritis angegeben
Am 14. März 2014 tagsüber kam in der Einheit Jurga im Gebiet Kemerowo der Rekrut Sergej Laptew auf seinem Gefechtsposten ums Leben. Als Todesursache wurden zunächst Herzstillstand und akute Gastritis angegeben – ungeachtet der Erklärungen der Eltern, ihr Sohn habe nie etwas am Magen oder am Herzen gehabt. Sie fochten das Gutachten vor Gericht an, woraufhin es eine erneute Untersuchung gab, bei der die Ärzte einen Durchbruch der Magenwand, eine stumpfe Bauchverletzung und hohen Blutverlust feststellten.
Man verurteilte Iwan Kulagin, einen Dienstkameraden Laptews, zu fünf Jahren Haft nach Paragraph 335 Strafgesetzbuch, der regelwidriges Verhältnisse unter Armeeangehörigen unter Strafe stellt.
Die Liste von Fällen wie diesem ließe sich fortsetzen, und sie enden bei weitem nicht alle mit einer Verurteilung. Die existierende Statistik berücksichtigt nur Strafverfahren, die aufgrund eben dieses Paragraphen 335 eingeleitet wurden: 2014 waren es 939 Fälle, 2015 waren es 901.
Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland gibt
Laut Menschenrechtlern von Organisationen wie Prawo Materi oder Grashdanin i Armija, die mit dem Problem der Gewalt innerhalb der Streitkräfte arbeiten, gibt es im Grunde keine genauen Erhebungen zur derzeitigen Situation beim Militär.
„Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland überhaupt gibt“, bestätigt auch Georgi und berichtet, dass die Soldaten nicht wirklich wissen, an wen sie sich im Falle einer Unrechtssituation wenden sollen. „Das ist, als würdest du in einem Metallkasten sitzen, der kleine Schlitze hat, aber du kommst da nicht durch. Ich persönlich wusste nicht, zu wem ich gehen sollte, als ich geschlagen wurde. Also bin ich zu niemandem gegangen.“
In jener Einheit in Sibirien verbrachte der junge Mann ein halbes Jahr. In dieser Zeit wurde er vier Mal brutal zusammengeschlagen und musste regelmäßig für Ainur und seine Kumpel Schuhe putzen. Georgi ist der Meinung, Schuld an seinem Leidensweg sei die Illusion gewesen, in Russland gäbe es keine Dedowschtschina: „Wenn ich gewusst hätte, was [in der Armee] los ist, hätte ich eine Möglichkeit gefunden, nicht hinzugehen, oder ich hätte mich wenigstens moralisch vorbereitet. Vielleicht hätte ich einen Selbstverteidigungskurs gemacht.“
Arseni Lewinson, [Jurist bei Grashdanin i Armija – dek], sagt, es komme nicht selten vor, dass Todesfälle vom Militärgericht zu Suiziden oder Unfällen erklärt werden.
Laut einer Statistik von Prawo Materi wurden 2016 42 Prozent aller Todesfälle als Suizid gewertet, 24 Prozent als Unfall (von allen Fällen, die der Organisation aufgrund von Berichten von Angehörigen der Verstorbenen bekannt sind). Viele Straftaten schaffen es nicht in die Statistik, weil die Opfer sie nicht melden, fügt Lewinson hinzu. So ist es meistens bei Prügelattacken, die nicht tödlich enden – die Mehrheit der Einberufenen, so der Menschenrechtler, „hat Angst und schweigt“.
Jewgeni wurde 2010 in die Armee einberufen, im Gebiet Pskow. Der Dienst war ruhig, aber die Führung forderte eiserne Disziplin, erinnert er sich. „Wenn sich jemand gehen ließ, seine Uniform nicht sauber hielt, die Befehle der Führung nicht sofort befolgte, musste die gesamte Kompanie hundert Liegestütze machen. Natürlich hat der Schuldige, wenn so was passierte, sofort Prügel bekommen“, erzählt Jewgeni. „Niemand will für jemand anderen herhalten. Die Führung wusste das und nutzte das aus.“
Jewgeni selbst hat sich nie als Opfer gesehen, obwohl er unmittelbar nach dem Beginn seines Wehrdienstes drei Mal zusammengeschlagen wurde. Ein paar Monate später machte er selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden. „Wir waren immer ganz vorsichtig, sanft“, erläutert der ehemalige Soldat, der mit Meduza nur sprechen will, wenn er anonym bleibt.
Ein paar Monate später machte Jewgeni selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden
„Ich finde immer noch nicht, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe. Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung. Was im Zivilleben als barbarisch gilt, kann in einer Einheit weit verbreitet sein“, sagt Jewgeni.
Er unterstreicht, dass er Gewalt gegenüber seinen Dienstkameraden nur angewendet habe, weil es nicht anders ging: „Wir wollten niemanden belehren, wenn wir zuschlugen, wir haben einfach nach den Regeln gelebt, die bestehende Ordnung weitergeführt.“ Wenn er das Wort Dedowschtschina ausspricht, schwingt beinahe so etwas wie Stolz mit.
Verschiedene Experten und Menschenrechtler erklären, der Begriff Dedowschtschina sei im Hinblick auf heutige Straftaten in der Armee – streng genommen – nicht mehr ganz korrekt: Es gehe nur noch selten um eine „Erziehung“ der neuen Rekruten; die traditionellen Kasten der Dedy, Tscherepy, Slony und Duchi können sich seit dem Übergang zum einjährigen Wehrdienst schlicht nicht schnell genug formieren. In vielen Fällen spielt es auch gar keine große Rolle, wie lange der Soldat, gegen den man Gewalt anwendet, schon im Dienst ist.
Arseni Lewinson sagt, die Regelverstöße würden heutzutage andere Formen annehmen: Es würden mehr Straftaten durch höherrangige Militärdienstleistende begangen; Fälle von Erpressung nähmen zu.
Fälle von Erpressung nehmen zu
Jewgeni erinnert sich, dass die Vorgesetzten, wenn die Soldaten sich weigerten, Geld für die Renovierung ihrer Datschen zu sammeln, ihnen die Urlaubsscheine verweigerten oder zusätzliche Dienstschichten aufbrummten, manchmal zertrümmerten sie auch ihre Handys.
Für das Jahr 2016 konnte Meduza in den Medien und anderen offenen Quellen mehrere Dutzend bekannt gewordene Fälle von Erpressung im Wehrdienst finden: Unter Androhung von Gewalt oder Mord wurden von den Rekruten Geld, technische Geräte oder Lebensmittel verlangt. Laut Berichten von Menschenrechtlern beschränkt sich die Erpressung in der Regel auf Summen von 1000 bis 5000 Rubel [umgerechnet etwa 15 bis 70 Euro – dek] pro Woche. Zunächst wird der Rekrut auf seine Zahlungsfähigkeit hin „abgetastet“: Man verlangt Geld und droht ihm mit dem Tod. Wenn er einknickt und das Geld zahlt, wird mehr gefordert.
Auch in Georgis Einheit wurde Geld erpresst: Jede Woche, erinnert sich der Ex-Soldat, haben rund 20 Leute jeweils 200 bis 300 Rubel [umgerechnet etwa 3 bis 6 Euro – dek] an Ainur und seine Jungs gezahlt. „Wenn wir nicht zahlen wollten, brachten sie uns in den Trockner und verprügelten uns“, erzählt Georgi. „Besonders die Eisenstange, die dort aus irgendeinem Grund immer stand, liebten sie: Damit schlugen sie uns in die Rippen und auf die Beine.“ Wenn jemand nicht zahlen konnte, wurde er gezwungen, Ainur und seinen Jungs die Schuhe zu putzen oder ihre Dienstschichten zu übernehmen.
Georgi erinnert sich, dass die größte Summe, die er je auf einmal gezahlt hat, rund 5000 Rubel [etwa 70 Euro – dek] waren, im April 2015, kurz bevor er in eine andere Einheit versetzt und Ainur aus dem Wehrdienst entlassen wurde. Eine verbreitete Praxis, wie die Experten erklären: Vor dem Ende ihrer Wehrdienstzeit sammeln die „Aggressoren“ noch einmal Geld ein; viele verlassen die Armee mit einer ganzen Ausrüstung an teuren technischen Geräten.
Viele Aggressoren verlassen die Armee mit einer modernen technischen Ausrüstung
„Wenn das Militär professionalisiert wird, verschwindet auch die Dedowschtschina“, sagt Veronika Martschenko von Prawo Materi.
Ein Faktor, der das Verschwinden der Dedowschtschina verhindert, ist vor allem die erwähnte Abgeschlossenheit der Armee: Für die Rekruten ist es schwer, auf die Rechtsbrüche in ihrer Einheit aufmerksam zu machen. „Du kannst auf jeder Etappe Probleme bekommen. Selbst wenn es der Rekrut bis zur Sanitätsstelle schafft oder die Schlagspuren fotografiert – sein Fall wird vom Kommandeur derselben Einheit geprüft. Man könnte vermuten, dass der den Fakt des Verstoßes verheimlichen wollen wird“, sagt Lewinson. „Ein nicht unwesentlicher Teil der Jungs, die sich an uns wenden, sind welche, die eigenmächtig da rausgefunden haben.“
Werbeagentur oder Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt?
Georgi erinnert sich, wie er einmal einem der Offiziere seiner sibirischen Einheit im Privatgespräch erzählt hat, dass sich Ainur aggressiv verhält und „transnationale Konflikte schürt“. Der Offizier versprach ihm, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, doch das Gespräch blieb ohne Folgen. Seinen Eltern hat Georgi auch nichts erzählt, nur zwei Freunden, die ebenfalls nicht wussten, was er tun könnte.
Georgi sagt, von seinen Bekannten aus der Armee habe er gehört, dass die Situation in seiner ehemaligen Einheit besser geworden sei. „Sie haben plötzlich angefangen, normale Abendkontrollen durchzuführen, vor kurzem wurden ein paar Leute wegen Schlägereien ins Strafbataillon geschickt, und die Führung hat eine strenge Disziplin eingebracht. Vielleicht gab es tatsächlich einen Befehl von oben“, berichtet er.
Er selbst konnte nach sechs Monaten endlich in eine andere Einheit wechseln, nachdem er die Führung „buchstäblich mit Gesuchen überschüttet“ hatte. Georgi wollte zum Psychologen gehen, aber als er dann „an einem normalen Ort war, ließ das nach“. Nach dem Wehrdienst schrieb er sich an der Nowosibirsker Uni ein, brach das Studium aber enttäuscht wieder ab. Jetzt arbeitet Georgi in einer Werbeagentur und denkt darüber nach, eine Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt zu gründen. „Ich trage niemandem etwas nach. Ich glaube, es ist passiert, weil es passieren musste“, räsoniert der junge Mann. „Natürlich ist das schlimm, man muss das bekämpfen. Aber um der Dedowschtschina ein Ende zu setzen, muss man wohl selbst da durchgegangen sein.“