Seit Juli 2014 ist in Russland ein Gesetz in Kraft, nach dem Ordnungsverstöße gegen das Demonstrationsrecht als Straftat geahndet werden können. Nun ist das neue Gesetz zum ersten Mal angewendet worden: Für vier Protestaktionen im Laufe des vergangenen Jahres muss der Aktivist Ildar Dadin für drei Jahre ins Lager. Damit fällt die Strafe sogar höher aus, als vom Staatsanwalt gefordert. Beobachter sehen darin eine Warnung davor, sich im politischen Protest zu engagieren.
Der politische Aktivist Ildar Dadin ist vom Basmanny-Gericht in Moskau wegen wiederholten Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht zu drei Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt worden. Er ist damit die erste Person in Russland, deren Verurteilung mit dem neuen Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs begründet wurde. Dieser Artikel stellt den wiederholten Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen unter Strafe. Der Staatsanwalt hatte nur zwei Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug beantragt – also ein weniger strenges Strafmaß, als es Richterin Natalja Dudar letztlich verhängte. Dadin lehnte es ab, sich schuldig zu bekennen.
Ildar Dadin wurde die Teilnahme an vier Aktionen im Jahr 2014 angelastet, wobei nach Auskunft seiner Anwältin Xenija Kostromina für drei dieser Fälle bereits rechtskräftige Gerichtsentscheidungen erfolgt waren; im vierten Fall war das Verwaltungsverfahren im Hinblick auf die Eröffnung eines Strafverfahrens eingestellt worden. Dem Aktivisten wird die Beteiligung an Protestaktionen am 6. und 23. August, am 13. September sowie am 5. Dezember 2014 angelastet. Bei der letzten Aktion hatten acht Aktivisten mit einem Transparent „Gestern Kiew – morgen Moskau“ die Straße blockiert, Fackeln angezündet und sich in Richtung Lubjanka bewegt. Dadin war am 15. Januar auf dem Manegenplatz festgenommen worden. Er erhielt 15 Tage Arrest. Am 30. Januar wurde er im Gerichtstermin dem Ermittlungsrichter überstellt, wo die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit verhandelt wurde. Am 3. Februar wurde Dadin unter Hausarrest gestellt. Der Ermittlungsrichter hatte Untersuchungshaft gefordert, mit dem Hinweis darauf, dass Dadin am Kiewer Maidan beteiligt gewesen sei. Zuvor waren Verfahren nach Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs auch gegen die Aktivisten Wladimir Ionow, Mark Galperin und Irina Kalmykowa eröffnet worden. Sie alle hatten sich an anderen oppositionellen Aktionen beteiligt.
Die Verschärfung des Demonstrationsrechts nahm nach den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 ihren Anfang. Einen Monat später wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Strafen für Ordnungverstöße bei der Durchführung von Demonstrationen drastisch erhöhte. Im Juli 2014 traten dann die Änderungen im Strafgesetzbuch in Kraft. Vorgeschlagen hatten diese Gesetzesänderungen die Staatsduma-Abgeordneten Igor Sotow (von der Partei Gerechtes Russland) sowie Andrej Krassow und Alexander Sidjakin (beide von der Partei Einiges Russland). Sidjakin sagte, die Änderungen seien notwendig, um zu verhindern, dass sich die ukrainischen Ereignisse in Russland wiederholen. Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches sieht bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Bestraft wird der wiederholte Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen. Dazu müssen innerhalb von 180 Tagen mehr als zwei Ordnungswidrigkeiten nach Artikel 20.2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten erfolgt sein.
Zu dem Urteil erklärt Sidjakin: „Es widerspricht meiner Überzeugung als Jurist, das Urteil zu kommentieren, ohne alle Seiten des Verfahrens zu kennen. Das Strafmaß hat vier Funktionen: Schutz, Wiedergutmachung, Prävention und Bestrafung. Die Verteidigung wird wohl Berufung einlegen, und das Gericht wird alle ihre Argumente prüfen“, erklärt Sidjakin. Der Präsident habe in seiner letzten Ansprache gesagt, dass für kleinere Vergehen trotz allem administrative und keine strafrechtlichen Sanktionen in Betracht kommen müssten, bemerkt der Abgeordnete Rafael Mardanschin (Einiges Russland), Mitglied des Strafrechts-Ausschusses der Duma. „Aber die Ansprache liegt noch nicht lange zurück und die Anstrengungen zur Humanisierung haben gerade erst begonnen“.
Der Menschenrechtsaktivist Pawel Tschikow sagt, dass dies das erste Urteil nach dem neuen politischen Artikel des Strafgesetzbuches sei und dass es kurz vor Beginn des Wahljahres Angst verbreiten solle: „Ein Urteil, das nicht mit Freiheitsentzug verbunden ist, hätte eine Amnestie bedeutet. Und auch bei der Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis wäre er freigekommen, weil er sich schon fast ein Jahr unter Hausarrest befindet. Ein solches Urteil signalisiert, dass von den Richtern in Bezug auf diesen und andere Artikel keinerlei Erbarmen und Nachsicht zu erwarten sind.“ Laut Tschikow wird bereits am Dienstag bekanntgegeben, welches Strafmaß der Staatsanwalt für Ionow beantragt: „Ionow könnte wegen seines fortgeschrittenen Alters verschont bleiben. Kalmykowa hat sich bereits schuldig bekannt. Aber Galperin muss sich leider auf eine echte Haftstrafe gefasst machen.“
Es werden Präzedenzfälle geschaffen, um ein Signal an alle zu senden, die bereit sind, sich in der Protestbewegung zu engagieren – so der Politologe Konstantin Kalatschew. „Vor dem Hintergrund der sozialen Krise wird der politische Protest zu einer gefährlichen Sache.“ Der Politologe hält solche Methoden jedoch für sinnlos, weil „man den Menschen den politischen Protest nicht aberziehen kann. Sie wissen, worauf sie sich einlassen und sind bereit, das Risiko einzugehen.“