Der Tod der Journalistin Irina Slawina hat viele Kolleginnen und Kollegen der unabhängigen und liberalen Medienszene in Russland tief erschüttert: Am Freitagnachmittag setzte sie sich in Nishni Nowgorod selbst in Brand. Sie tat dies auf einer Bank vor dem Innenministerium der Oblast, zuvor hatte sie auf Facebook den Satz gepostet: „Ich bitte darum, der Russischen Föderation die Schuld an meinem Tod zu geben.“ Slawina hatte das Onlinemedium KozaPress gegründet, sie betrieb es weitgehend alleine und selbstständig. Kollegen bezeichneten sie als unerschrocken. Die Behörden hatten schon lange Druck auf Slawina ausgeübt. Mehrfach musste sie Strafe zahlen, einmal wegen eines Facebookposts, in dem sie eine neu angebrachte Stalin-Erinnerungstafel kritisiert hatte. Der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor stehen mehrere Paragraphen zur Verfügung, die, willkürlich und selektiv angewandt, Druck auf Medien ausüben können – und als drohendes Damoklesschwert für Selbstzensur sorgen. Derzeit war Slawina in einem Verfahren um die in Russland als „unerwünscht“ eingestufte Organisation Otkrytaja Rossija als Zeugin geführt. Dies hatte den Behörden ausgereicht, um eine frühmorgendliche Hausdurchsuchung bei ihr durchzuführen, bei der etwa ihr Laptop und auch der ihrer Tochter beschlagnahmt wurden.
Irina Slawina konnte diesen Druck nicht mehr aushalten. Die Betroffenheit war groß: Warum brachte sie sich um, dazu noch auf diese Weise, fragten bestürzt auch viele liberale, kritische Journalistinnen und Journalisten. Kirill Martynow fragt in der Novaya Gazeta zurück: Was stimmt eigentlich mit uns nicht, dass wir diesen Terror für normal halten?
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Wenn wir die Ereignisse in unserem Land analysieren, bemühen wir im Herbst 2020 routiniert den Begriff „politischer Terror“. Unter diesem Terminus versteht man die Einschüchterung politischer Opponenten mittels physischer Gewalt, und davon gibt's mehr als genug. Wenn Menschen für die Teilnahme an friedlichen Demonstrationen in Haft sitzen, dann ist das politischer Terror. Die Polizei packt einen Menschen und sperrt ihn in einen Käfig, weil er andere Ideen und Gedanken hat. Jeder, der in einer russischen Großstadt lebt und nicht gelernt hat, den Blick abzuwenden, hat gesehen, wie Aktivisten bei Pikets festgenommen werden. Während der Staat so handelt, widmet er sich offiziell der Bekämpfung von Terroristen. Wahrscheinlich sieht er in ihnen Konkurrenten.
Hausdurchsuchungen bei der Opposition sind zum Normalfall geworden, Nachrichten darüber uninteressant. Wenn um sechs Uhr morgens die Wohnungstüren von Staatsbürgern mit Vorschlaghämmern zertrümmert werden – dann ist das ganz normal. Der Terror hat sich nicht nur etabliert, er wurde auch im gesellschaftlichen Bewusstsein zur Normalität. Niemanden wunderte es, dass Nawalny möglicherweise vergiftet wurde dafür, dass „der Typ sich nah an der Grenze bewegte“ – aber ganz Russland bewegt sich dort. Für Journalismus winken einem in unserem Land bestenfalls zermürbende Klagen und Strafen, mit etwas weniger Glück strafrechtliche Verfolgung oder andere „Aktionen der direkten Einschüchterung“.
Über Slawina wird jetzt viel diskutiert: Was stimmte mit ihr nicht? Warum hat sie diesen kopflosen Schritt getan? Ich glaube, ich habe dazu eine Hypothese. Mit der Journalistin aus Nishni Nowgorod war alles in Ordnung. Abnormal sind in diesem Fall alle anderen – jene, die stillschweigend oder ohne besonderen Widerstand hingenommen haben, dass alle zivilgesellschaftlichen Institutionen in Russland zerstört werden und das Land in Richtung Polizeistaat, Willkür und Gewalt abdriftet.
Slawina brannte schon bevor sie sich selbst anzündete
Slawinas Tochter ging am Tag nach der Tragödie mit einem Plakat auf die Straße: „Während meine Mama lebend brannte, habt ihr geschwiegen.“ Denn Slawina brannte schon, bevor sie sich selbst anzündete – und die anderen haben geschwiegen.
In Russland sind Filme sehr beliebt, die vom Kampf für Gerechtigkeit erzählen. Vor drei Jahren war das Publikum ganz begeistert von dem US-amerikanischen Spielfilm Three Billboards Outside Ebbing, Missouri. Irina Slawina hat sich viele Jahre lang dem Journalismus zum Schutz von Menschen- und Bürgerrechten verschrieben und hat mit ihren Publikationen quasi hunderte Billboards in Nishni Nowgorod aufgestellt. Ihre letzte Publikation war der demonstrative, entsetzliche, politische Selbstmord.
Wir hören so oft den Satz, wem die Ordnung im gegenwärtigen Russland nicht passe, der solle doch auswandern, seinem Land den Rücken zukehren und es jenen überlassen, die es ausrauben und zerstören. Meistens wird dieser Satz brutaler formuliert: Passt dir was nicht? Dann verpiss dich! Slawina passte vieles nicht, doch wo hätte sie hinsollen und wozu.
Pjotr Pawlenski ist nach Vorwürfen sexueller Gewalt aus Russland geflohen und sucht Asyl in Frankreich. Sandra Frimmel beschreibt die Arbeiten des Performancekünstlers aus St. Petersburg, der in seinen politischen Aktionen plakative Bilder für staatliche Repressionen und die Apathie der Bevölkerung schafft.
Anna Politkowskaja war die wohl bekannteste und couragierteste Journalistin und Menschenrechtsaktivistin im Russland der Putin-Ära. Am 7. Oktober 2006 wurde sie Opfer eines Auftragsmordes, dessen Hintergründe bis heute ungeklärt sind. Am 30. August wäre sie 66 Jahre alt geworden.
Eine Reihe von Prozessen und Untersuchungen versetzt unabhängige Medien derzeit in Alarmstimmung. Vor allem der Vorwurf gegen den Ex-Journalisten Iwan Safronow wiegt schwer. Die Projekt-Redaktion kommentiert.
Iwan Golunow ist frei! Ist der Kreml etwa vor dem massiven Protest eingeknickt? Die Gerüchteküche brodelt nach der Freilassung, Katerina Gordejewa fragte schon zuvor nach den Gründen für eine Solidaritätswelle, die in Russlands Geschichte ihresgleichen sucht.
Kurz vor der Präsidentschaftswahl, bei der Wladimir Putin erstmals zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt wurde, veröffentlichte er im Februar 2000 einen „Wählerbrief“. In diesem Text skizzierte er sein Programm und rief die „Diktatur des Gesetzes“ aus: Demokratie sei eine Diktatur des Gesetzes und nicht die Diktatur derjenigen, die amtshalber dieses Gesetz verfechten.1 Seitdem ist die Formel „im Rahmen des Gesetzes“ (russ. w Ramkach Sakona) anscheinend zum Lieblingsausdruck Wladimir Putins geworden: Wichtigste Pflicht des Präsidenten sei es, im Rahmen des Gesetzes zu handeln, Rechtsschutzorgane und Gerichte müssen im Rahmen des Gesetzes agieren, die Durchführung von Wahlkampagnen seien ebenso nur im Rahmen des Gesetzes möglich. Auch die Opposition dürfe frei protestieren – im Rahmen des Gesetzes.
Auch wenn man viele offene Fragen (die Legalität des Gesetzgebers, die Repressivität der Gesetze, ihre Konformität mit der Verfassung, die Unabhängigkeit der Gerichte et cetera) beiseite lässt, der Ausdruck w Ramkach Sakona bleibt spannend: Denn Sakon (dt. „Gesetz“) wird in der russischen Kultur als ein vorgegebener Rahmen oder als eine Grenze verstanden, die man passieren kann. Sakon teilt zwar das Handeln in „erlaubt“ und „nicht erlaubt“, aber die Frage, ob es „gerecht“ oder „ungerecht“, „richtig” oder „falsch“ ist, beantwortet jeder für sich.
Das Wort Sa-kon, wie auch das heutige Wort kon-ez (dt. „Ende“) oder is-koni (dt. „anfänglich“) leitet sich vom Wortstamm kon, der sowohl Ende als auch Anfang bedeuten kann, ab.2 Im Wörterbuch von Wladimir Dal wird Sakon definiert als „Schranke, die der Freiheit des Willens und des Handelns gesetzt wird“3. Der Wille und das Handeln hören aber mit dieser Grenze nicht auf, denn Sakon, so schreibt der Philologe und Kulturwissenschaftler Juri Stepanow, ist „keine höchste Kategorie, der alles, was innerhalb einer Sphäre liegt, untergeordnet ist“. Sakon spiegelt also kein Rechtssystem und hat mit Gerechtigkeit erstmal nichts zu tun. Dem Sakon setzt man das Gute, das Gewissen und die Gerechtigkeit entgegen, und dies tun sowohl die „normalen Bürger“ als auch die Machthaber.
Gesetz versus Gerechtigkeit
Ein Fall, der in den 2000er Jahren für viel Aufruhr sorgte, war das Gerichtsverfahren gegen Michail Chodorkowski: Im Mai 2005 wurde der ehemalige YUKOS-Chef wegen Steuerhinterziehung und Privatisierungsbetrug zu neun Jahren Haft verurteilt. In einem zweiten Verfahren (wegen Unterschlagung und Geldwäsche) kamen noch sechs weitere Jahre hinzu. Auf die Frage, ob es gerecht sei, dass Chodorkowski im Gefängnis ist, antwortete Wladimir Putin beim Direkten Draht 2010 mit einem Zitat aus einem sowjetischen Film: „Ein Dieb gehört ins Gefängnis“.4 Abgesehen von der rhetorischen Plausibilität, machte sich Putin mit diesem Zitat angreifbar: Mit eben diesem Satz erklärt ein Ermittler im gleichen Film, warum er einem Dieb das angeblich gestohlene Portemonnaie heimlich selbst untergeschoben und ihn dann quasi auf frischer Tat ertappt hatte. Ein Dieb gehört ins Gefängnis – das ist gerecht. Wie er dort aber hineingerät, das ist eine andere Frage.
So glaubte ein Jahr vor dem Urteil (2004) über Chodorkowski fast die Hälfte der Gesellschaft, das Gericht werde ihm gegenüber keine Gerechtigkeit walten lassen und weder objektiv noch unbefangen sein5. 2013 meinte mehr als ein Drittel, dass er „auf Bestellung von oben“ verurteilt wurde.6 Es gab jedoch so gut wie keine Proteste: Auch wenn es im Fall Chodorkowski keinen gerechten Prozess gab, so schien vielen die Tatsache, dass er im Gefängnis ist, gerecht zu sein. Schließlich gehörte er zu einer Gruppe von Oligarchen, die in den „wilden“ 1990er Jahren ihre Vermögen ungerechterweise erworben hatten.7 Das gab Chodorkowski selbst zu: Der Kauf von YUKOS 1996 sei nicht gerecht gewesen. Aber legal. „Ich habe [YUKOS], wie alle anderen, nach damaligen Gesetzen gekauft“,8 kommentierte er die Situation nach seiner Begnadigung, die im Dezember 2013 erfolgte.
Der Knoten aus den unterschiedlichen Fäden von Recht und Gerechtigkeit ist in diesem Fall extrem verwickelt: Eine gesetzeskonforme, aber als ungerecht empfundene Tat (der Kauf von YUKOS) wird durch eine unrechtmäßige und politisch motivierte staatliche Reaktion (die Verhaftung Chodorkowskis) kompensiert, die in den Augen der Bevölkerung die Gerechtigkeit wiederherstellt. Multipliziert mit einer Menge anderer Faktoren, die reine Spekulation sind (der Staat wolle YUKOS enteignen, Chodorkowski finanziere die Opposition und bereite einen Umsturz vor et cetera), wird klar, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung des Falles unmöglich ist, die konkreten Gesetze, die nicht eingehalten wurden, ernst zu nehmen.
Rechtlicher Pluralismus
Das ohnehin komplexe System ist in der Tat noch komplexer, weil in Russland offensichtlich ein rechtlicher Pluralismus herrscht. Neben den staatlichen Gesetzen gelten in der wirtschaftlichen und auch in der politischen Praxis gleichzeitig die sogenannten ponjatija: ein System von Normen und Regeln, denen alle Mitglieder einer Gemeinschaft zu folgen haben. Russische Ponjatija, auch worowskoi sakon (dt. „Diebesgesetz“) genannt, sind in der kriminellen Subkultur verwurzelt. Auch wenn kriminelle Autoritäten – als Diebe vor dem Gesetz oder auch als sakonniki bezeichnet – heute nicht mehr aktiver und dominanter Teil der russischen Gesellschaft sind, anders als noch in den sogenannten „wilden“ 1990ern: Die Ponjatija sind geblieben und wirken weit über die kriminelle Welt hinaus.9 Praktiken wie der otshim (dt. in etwa „Abpressen“ oder „Enteignung“) eines Unternehmens, sanos (von sanesti, dt. „etwas vorbeibringen“) und otkat (dt. etwa „zurückschaffen“, im Sinne einer Gegenleistung für Korruption) sind ein Echo dieses Pluralismus.
Ein anderes Beispiel für den rechtlichen Pluralismus ist auch die Schattenwirtschaft, zu der in Russland schätzungsweise über 30 Millionen Menschen gehören. Die Betreiber der sogenannten Garagenwirtschaft etwa tun alles dafür, um sich vom Staat fernzuhalten. Sie lassen sich nicht von staatlichen Gesetzen, sondern vielmehr von einem System informeller Regeln und Normen leiten und bilden dabei auch eigene Verwaltungs- oder sogar Gerichtsorgane. Die Garashniki haben kein schlechtes Gewissen, weil sie dabei gegen das Gesetz verstoßen. Genauso wenig wie Lehrer, die Nachhilfe anbieten und die Einnahmen nicht versteuern, oder Bauern, die keinerlei Kontrolle unterstehen und eigene Netzwerke für den Verkauf ihrer Waren nutzen. Wenn der Staat als ungerecht wahrgenommen wird, dann ist es für viele ein legitimer Akt, diesem Staat Steuern vorzuenthalten und den eigenen gerecht erarbeiteten Lohn zu schützen.
Achtet eure Verfassung!
Das schwierige Verhältnis zum Gesetz in der russischen Kultur wird von Kulturwissenschaftlern zum einen mit einer unterentwickelten rechtlichen Begrifflichkeit erklärt, und zum anderen damit, dass die Bevölkerung grundlegende Gesetze nicht kennt. Viele Gesetzestexte sind für die Menschen auch nicht zugänglich, weil sie nur als geheime Ukasy existieren. Aber auch wenn die Texte veröffentlicht werden, werden diese und selbst die russische Verfassung nur selten gelesen: Laut einer Umfrage haben fast 40 Prozent der Gesellschaft nie die Verfassung gelesen, weitere 50 Prozent können sich kaum erinnern, was darin steht.10 Die Menschenrechtsbewegung hat in Russland daher neben aufklärerischer Tätigkeit eine wichtige Aufgabe: die Menschen vor Gericht im Rahmen der bestehenden Gesetze zu schützen. Eine weitere Aufgabe besteht darin, die Regierung dazu zu bewegen, diese bestehenden Gesetze auch einzuhalten: Im Ranking der Rechtsstaatlichkeit von The World Justice Project besetzte Russland 2017-18 Rang 89 von 113. Der berühmte Aufruf aus den 1960er Jahren, der Entstehungszeit der Menschenrechtsbewegung, gilt also immer noch: „Achtet die Verfassung!“
Verurteilte als Unglückliche
Als eine spezielle Variante des lateinischen Sprichwortes dura lex, sed lex (dt. „Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz“) kursiert in Russland der Spruch „Die Härte russischer Gesetze wird dadurch gemildert, dass man sie nicht einhalten muss“. Er wird dem Dichter Pjotr Wjasemski zugeschrieben und gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Schatzkästchen russischer Volksweisheiten. Die repressiven Gesetze, die nicht nur das Erbe voriger Epochen, sondern durchaus auch Verfehlungen der Gegenwart sind, können gar nicht flächendeckend wirken: Das sogenannte Jarowaja-Gesetz setzt beispielsweise die Sperrung aller Online-Anbieter voraus, die sich weigern, dem Geheimdienst FSB ihre Dechiffrier-Schlüssel zur Verfügung zu stellen: Der Messenger-Dienst Telegram etwa tat dies nicht, funktioniert in Russland aber mit Einschränkungen weiterhin. Für die Teilnahme an einer nicht genehmigten Protestaktion droht per Gesetz eine 15-tägige Haft, solche Proteste finden aber immer wieder auch unbehelligt statt.11 Leonid Wolkow, der Kampagnenchef von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, schätzt die Wahrscheinlichkeit einer Strafe in diesem Zusammenhang auf etwa ein Prozent ein.12
Auch außerhalb des politischen Lebens ist die Bereitschaft, „von außen, von jenseits der Gesetzesgrenze zu gucken“ recht hoch. Fast jeder bewegt sich zeitweise außerhalb des Gesetzes und jeder kann zugleich stillschweigend ein Gesetzesbrecher sein. Man fühlt sich vom Staat betrogen und dazu gezwungen, keine Steuern zu zahlen oder zu klauen; es gibt zu viele Gesetze, die sich auch gegenseitig widersprechen, sodass man unweigerlich gegen eins dieser Gesetze verstößt. Nach dieser Logik kann praktisch jeder bestraft werden. Und jeder, der bestraft wird, hat Pech und verdient Mitleid.
So gelten die 30 beim Bolotnaja-Prozess verurteilten Personen nicht als Verbrecher, sondern als zufällige Opfer des Regimes.13 Als Unglücklicher galt auch Chodorkowski, dessen frühzeitige Entlassung 2013 nur ein Drittel der Bevölkerung guthieß. Diese Bezeichnung der Verurteilten als „Unglückliche“ gelangte im 19. Jahrhundert sogar ins Wörterbuch der russischen Sprache.14 Die Frage nach der Schuld, beziehungsweise ob jemand gegen ein Gesetz verstoßen hat, spielte eine untergeordnete Rolle: „Nein, das Volk verneint das Verbrechen nicht und weiß, dass der Verbrecher schuldig ist. Das Volk weiß aber auch, dass es mit jedem Verbrecher die Schuld teilt“, kommentierte Fjodor Dostojewski das Phänomen.
Schuld und Sühne
Verstößt man gegen ein Gesetz, so begeht man ein prestuplenije (dt. „Verbrechen“). Wortwörtlich übersetzt: Man übertritt eine Schwelle, eine Grenze. Das Wort verwendete Dostojewski im Titel seines berühmten Romans Prestuplenije i Nakasanije, der ins Deutsche oft mit Schuld und Sühne übersetzt wird (Verbrechen und Strafe in der neuesten Übersetzung). Geleitet von einem speziellen Verständnis von Gerechtigkeit und der Überzeugung, ein Recht auf das Verbrechen zu haben, tötet der Protagonist zwei Menschen. Der größte Teil des Romans beschreibt den Weg zur Reue und bewussten Annahme der Strafe. Dostojewski meinte, dass die Erfahrung der Sünde, der Überschreitung, für einen Menschen auf dem Weg zur Freiheit wichtig sei.15 Die Frage, ob das Verbrechen als Erfahrung der Grenzüberschreitung im russischen Bewusstsein den Weg zur Freiheit ebnet, bleibt offen.
4.Mesto vstreči izmenit´ nel´zja (dt. „Der Treffpunkt kann nicht geändert werden“), 1979, Regie: Stanislav Govoruchin, Schauspiel u. a. Vladimir Vyssotskij
11.Die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen im Rahmen von Nawalnys Kampagne wurde auch damit gerechtfertigt, dass das Gesetz, dem die Registrierungspflicht zugrunde liegt, nicht verfassungskonform sei. Hier wird ein höher stehendes Recht, das zugleich als legitim betrachtet wird, dafür herangezogen, ein niedriger stehendes Recht als „ungerecht“ zu diskreditieren und seinen Bruch zu legitimieren.
13.Die im Rahmen des Bolotnaja-Prozesses verurteilten Personen werden als Usniki Bolotnoj (dt. „Eingekerkerte vom Bolotnaja-Platz“) bezeichnet, das Wort Usnik hat dabei eine sehr starke Färbung, die auf eine ungerechte Haft hinweist. Die Tradition, verurteilte Oppositionelle als Opfer oder sogar als Märtyrer wahrzunehmen, geht ins 19. Jahrhundert zurück. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zeigt, dass politische Terroristen, die hochrangige russische Politiker ermordet haben, im großen und gebildeten Teil der Gesellschaft als Heilige galten, die ihr Leben im Kampf gegen Ungerechtigkeit opferten, vgl. Siskina, L. I. (2016): Estetika smerti i etika vozmezdija: russkij političeskij terrorizm načala XX. veka v sovremennom kontekste, in: Upravlenčeskoe konsultirovanie, Nr. 5 (89), S. 212–219
14.„Als ‚Unglückliche‘ [„Nesčastnye“] bezeichnet das Volk alle nach Sibirien Verbannten überhaupt“, aus: Dal´, Vladimir: Tolkovyj slovar´ zivogo velikorusskogo jazyka, zit. nach: Stepanov, S. 599
Knapp die Hälfte der Bevölkerung erklärt in Meinungsumfragen, dass Russland eine eigene, spezielle Art von Demokratie brauche. Heiko Pleines über das Demokratieverständnis und die Zufriedenheit mit dem politischen System in Russland.
Sie kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, Regierung, Behörden, Oligarchen oder irgendeine Obrigkeit. Anton Himmelspach über die Vieldeutigkeit der russischen Wlast.
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