Vor 30 Jahren kamen am 10. März 1991 eine halbe Million Menschen zu einer Demonstration auf dem Maneshnaja Ploschtschad, mitten in Moskau und nah am Kreml. Michail Schneider, einer der damaligen Organisatoren, erinnert sich:
Die Demonstration am 10. März 1991 fand im Vorfeld des Referendums statt, bei dem es um „die Aufrechterhaltung der UdSSR in neuem Format“ ging. Niemand hatte eine so rechte Vorstellung davon, was eine „erneuerte Union“ sein sollte. Uns war klar, dass es sich schlicht um ein weiteres Zauberkunststück der sowjetischen Propaganda handelte. Abgesehen davon war offensichtlich, dass die Sowjetunion tatsächlich schon auseinanderfiel. Wir glaubten nicht daran, dass die kommunistische Führung eine echte Reform der Sowjetunion anzubieten hatte. Deswegen rief das Demokratische Russland die Bürger auf, mit „Nein“ zu stimmen. Demokratisches Russland war in dieser Zeit eine sehr einflussreiche politische Kraft, man musste ernsthaft mit uns rechnen.
Einer der Versammlungsorte [der Demonstranten am 10. März] war auf dem Oktjabrskaja Ploschtschad. Von dort zogen wir als Kolonne zum Maneshnaja Ploschtschad. Es waren ungefähr 150.000 bis 200.000 Menschen, wobei sich auf dem Weg noch Menschen dazugesellten. Vorn liefen die Redner, die auf die Bühne mussten, und die Organisatoren – an der Organisation von Demonstrationen waren damals gut und gern fünf bis sieben Leute beteiligt.
Wir wurden damals aus zehn oder zwanzig Metern Entfernung von Fernsehkameras gefilmt. Das waren Journalisten der staatlichen Sender, die unsere Aktionen kritisch verfolgten. Ihr grundsätzlicher Vorbehalt bestand darin, dass die Opposition kein positives Programm zu bieten hätte. Das ähnelt in Vielem der Situation heute, doch damals wurde noch nicht dermaßen gelogen.
Meine Rolle als Organisator bestand darin, die Kolonne sicher zum Versammlungsort zu geleiten. Wir achteten darauf, das die hinteren Reihen nicht in die Reihen davor drängten und regulierten das Tempo.
Aber Gedränge gab es nicht, die Menschen waren sehr diszipliniert und achteten aufeinander. Das war Selbstorganisation auf sehr hohem Niveau. Auf dem Weg riefen sie Parolen zur Unterstützung Jelzins und forderten den Rücktritt Gorbatschows.
Am 10. März traten Vertreter des Demokratischen Russland vors Publikum. Und man bekam auf der Tribüne vor den zigtausend Menschen das Gefühl, dass das alles gut gehen wird und bald die lichte Zukunft anbricht.
Am 10. März kamen tatsächlich viele – unterschiedlichen Angaben zufolge 200.000 bis 500.000 Menschen. Doch ich würde nicht sagen, dass das die größte Demonstration war. In dieser Zeit kamen zu allen Demos des Demokratischen Russland mehrere Hunderttausend. Auf dem Maneshnaja Ploschtschad fanden höchstens 250.000 Platz. Wenn der voll war, füllten die Menschen die Twerskaja Uliza. Dort standen Lautsprecher, die Reden schallten über die ganze Straße. Auch auf dem Ploschtschad Revoluzii standen Menschen und einige auch am Ochotny Rjad.
Enorm bewegt hat mich, als ich sah, dass die viele Arbeit, die Menschen zur Teilnahme an den Aktionen aufzurufen, Früchte trug. Damals benutzten wir für die Organisation einer großen Aktion Telefonketten und Flugblätter. In dieser Zeit bildeten die Organisatoren eine Art Pyramide: In jedem Stadtteil gab es einen verantwortlichen „Telefonleiter“, der die Informationen an andere Aktivisten weitergab, die dann wiederum die Infos weiterverteilten. Zuweilen half Echo Moskwy, die eng mit dem Mossowjet zusammenarbeiteten, mit eigenen Aufrufen.
Damals hatten wir alle die Vorstellung, wir würden bald leben wie im Westen. Doch die Vorstellung der Menschen von der Zukunft war völlig naiv: Die meisten dachten, es würde genügen, das kommunistische Regime zu stürzen und die Marktwirtschaft einzuführen. Und so würde die Bevölkerung buchstäblich in ein paar Jahren im Wohlstand leben.
Das Land erlebte damals eine Revolution. Sie hatte 1985 mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär des ZK der KPdSU begonnen und verlief in mehreren Etappen. Ihren Höhepunkt hatte sie bei den Ereignissen am 19. bis 22. August 1991 erreicht.
In dieser Zeit herrschte ein Geist absoluter Freiheit. Man konnte sagen, was man dachte, ohne die Angst, vom KGB verhaftet oder in die Klapse eingewiesen zu werden. Die Menschen lasen, was sie wollten, schrieben, was sie wollten, gingen mit Plakaten auf die Straße. Arbeiter und Kumpel, die unzufrieden waren, streikten. Niemand drangsalierte oder verhaftete sie deswegen – heutzutage ist das schwer vorstellbar.
Innerhalb der letzten 30 Jahre gab es monströse Veränderungen. Von diesem Geist ist nichts mehr übrig. Heute ist jeder politische Kampf scharf begrenzt.
Autor: Alexej Schumkin/Meduza
Übersetzung: dekoder-Redaktion