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„Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder“

Jekaterina ist 50 Jahre alt und Mutter von sechs Kindern. Bis zum 24. Februar 2022 hat Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt. So wie bei den meisten Menschen in Russland, die gelernt haben, die Politik dem Kreml zu überlassen. Jekaterina studierte Psychologie und Pädagogik und kümmerte sich um ihre Kinder. Doch mit dem offenen Überfall auf die Ukraine änderte sich ihr Bild von der Welt grundlegend. Seitdem veranstaltet sie regelmäßig Protestaktionen. Auch wenn sie nicht viel bewirken – als gläubige Christin will sie nicht schweigen. Sogar in ihrer Gemeinde hat sie einige Gleichgesinnte gefunden. Nadezhda Beliakova und Kirill Emelianov haben Jekaterina für das Portal Christen gegen den Krieg interviewt – und zu ihrem Schutz auch ihren Namen geändert.

Источник Christiane protiw woiny

Blumen am Solowezki-Stein niederzulegen, ist eine der wenigen Möglichkeiten, seine Haltung zum aktuellen Regime auszudrücken. Der Findling steht vor der Zentrale des Geheimdienstes in Moskau und erinnert an die Opfer des Totalitarismus / Foto © shaltnotkill.info

Christen gegen den Krieg: Wann sind Sie erstmals öffentlich aktiv geworden? 

Ich bin nie politisch aktiv gewesen. Ich habe studiert, dann habe ich gearbeitet. Nach zehn Jahren Ehe, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein Kind zu bekommen, kam unser erstes Kind zur Welt. Drei Jahre später kam das zweite. Und dann im Abstand von jeweils einem Jahr zwei weitere, schließlich die Zwillinge … Ich war rundum mit der Familie beschäftigt und habe bis zum 24. Februar 2022 gedacht, dass alles in dieser Welt ohne mich entschieden wird. Ich war ehrlich der Ansicht, dass wir im 21. Jahrhundert leben und die Menschen human sind. Dass man sich mit Worten streiten, sich missverstehen kann, und dennoch niemals diese Grenze überschreitet, nämlich einen Angriff auf einen Nachbarstaat zu unternehmen. Und ich hatte gehofft, dass in der Politik die dort Verantwortlichen entscheiden und ich einfach gute Kinder großziehe, für unsere Zukunft. Jetzt erscheint mir das fast lächerlich, so zu reden. Aber bis zum Mittag des 24. Februar konnte ich nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist! Ich versuchte allen – vor allem mir selbst – einzureden, dass das manipulierte Videos sind, dass das Fake ist und einfach nicht wahr sein kann … Es war niederschmetternd für mich, für meine Weltsicht. Ich konnte einfach nicht glauben, das so etwas möglich ist. Ich setzte mich an den Computer und schaute nach … Ich fand die Orte, die beschossen wurden. Und ich fand Videos von dort vor dem Angriff. Ich verglich sie mit den aktuellen Bildern … und mir wurde schließlich klar: Die Videos waren keine Montage.

Und schon am Abend des 24. Februar nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Protestaktion teil. Obwohl wir (die Protestierenden) recht schnell eingesammelt und in einen Gefangenentransporter gesteckt wurden, waren wir absolut glücklich. Wir waren überzeugt, dass sich nach uns das gesamte riesige Land erheben würde, dass dieser Irrsinn, der Krieg, beendet wird. Unser Transporter war bis zum Anschlag gefüllt – und er war bei Weitem nicht der einzige. Doch alle waren gehobener Stimmung und überzeugt, dass uns viele andere folgen würden. Während wir zum Polizeirevier fuhren, sangen wir Lieder, scherzten und freuten uns, dass wir zusammen sind und nicht allein.

Wie lang hielt diese Euphorie an?

Ja, Euphorie ist wohl das richtige Wort. Weil einfach niemand damals begriff, was vor sich geht. Von da an ging ich jeden Tag zu den Protesten, die immer um sieben Uhr abends stattfanden. In Telegram-Kanälen wurden ständig wechselnde Routen vorgeschlagen, damit die Polizeistreifen es nicht schaffen, rechtzeitig vor Ort zu sein.

Die einen haben Briefe gegen den Krieg geschrieben oder unterschrieben, andere trugen Antikriegssymbole – weiße Tauben oder Buttons. Warum wollten Sie sich ausgerechnet an Straßenaktionen beteiligen?

Ich trage seit dem 24. Februar Antikriegssymbole. Das ist sozusagen meine Erfindung, die „wandelnde Mahnwache“. Am Rucksack habe ich eindeutige Symbole befestigt, die nicht misszuverstehen sind: Bändchen, Buttons, Friedenszeichen. Gerade baumelt da auch eine Nawalny-Ente. Und ein Button mit dem durchgestrichenen Wort FREIHEIT. Es gab auch noch gewagtere: das durchgestrichene Wort „Krieg“. Wegen dieses Zeichens wurde ich dann auch festgenommen und der Diskreditierung der Streitkräfte Russlands beschuldigt. Dann noch die Aufschrift „Ich bin für Frieden“. Mit der bin eine ganze Weile rumgelaufen. Doch schließlich haben sie mich festgenommen und mir noch eine „Diskreditierung“ aufgebrummt. Mit diesen Zeichen und Symbolen bin ich auf den Roten Platz gegangen, auf den Manegenplatz, über die Twerskaja, in den Sarjadje-Park. Und ich sah, dass die Leute auf die Symbole reagieren. Einige kamen näher und gaben mir mit ihrer Mimik oder mit Gesten zu verstehen, dass sie das gut finden und unterstützen. Insgesamt gab es sehr viele positive Reaktionen. Und ich trage diese Symbole bis heute.

Kann man Sie als christliche Aktivistin bezeichnen? Kann man sagen, dass Ihre Haltung auf Ihren christlichen Überzeugungen beruht? 

Ja, unbedingt. Eine der Mahnwachen fand vor der Christ-Erlöser-Kathedrale statt, mit dem Plakat: „Gewöhnt euch nicht an den Krieg!“. Ich bin mit diesem Plakat eigens zur Kathedrale gekommen, weil es mir sehr wichtig war zu versuchen, wenigstens einige ein bisschen wachzurütteln, damit sie, wenn sie die Kathedrale besuchen, ins Nachdenken kommen.

Kam jemand auf Sie zu? Gab es Reaktionen?

Ich habe dort eigentlich nur acht Minuten gestanden. Sie haben mich recht schnell festgenommen. Aber wissen Sie, in diesen acht Minuten gab es doch einige Kontakte. Obwohl die Leute Angst hatten, zu mir zu kommen. Sie zeigten Ihre Solidarität aus der Distanz. Zwei auf einem E-Scooter – ein junger Kerl und seine Freundin – hielten an, machten das Victory-Zeichen, lächelten und winkten. Die Leute, die in die Kathedrale gingen, hielten inne, kamen aber leider nicht zu mir her. Darauf hatte ich da auch schon nicht mehr gehofft. Ich wollte nur, dass irgendwer vielleicht doch ins Grübeln kommt, dass wenigstens ein Samen gesät wird.

Und was denkt man in Ihrer Gemeinde, in Ihrer Kirche über Ihre Aktionen? Gehen Sie immer in dieselbe Kirche, oder in unterschiedliche? 

Wir gehen mit der ganzen Familie seit 17 Jahren in dieselbe Kirche. Ich fing an, dort hinzugehen, als ich schwanger war. Die Kirche war damals gerade erst gebaut worden, nicht weit von unserem Haus. Nach dem 24. Februar habe ich in der Sonntagsschule sofort allen freudig berichtet, dass ich bei der Mahnwache war und festgenommen wurde. Und was war ich schockiert darüber, wie negativ  das aufgenommen wurde! Die Lehrer und der Direktor der Sonntagsschule zeigten ganz deutlich ihre kategorische Ablehnung.

Wie haben sie denn argumentiert? Gab es eine inhaltliche Diskussion? 

Ich weiß nicht, ob man das eine Diskussion nennen kann? Sie reden nur von „acht Jahren im Donbass“, von gekreuzigten Jungen … Und so geht es bis heute weiter; leider hat sich in diesen zweieinhalb Jahren nichts geändert. Gleichzeitig hat sich in der Gemeinde eine Gruppe gebildet, wobei sich die Leute erst gewissermaßen „abgetastet“ und sich dann zusammengefunden haben. Das ist eine Gruppe von Kirchgängern, die kategorisch gegen den Krieg sind. Wir treffen uns und beten zusammen. Wir lieben unsere Gemeindemitglieder, unsere Gemeindepriester. Wir sind traurig und beten für sie; wir hoffen, dass ihnen die Augen geöffnet werden.

Ist das eine große Gruppe?

Nein, sie ist ganz klein, vier Leute. Aber wenn man die Kinder mitzählt, sind es sehr viel mehr. Eine Frau hat fünf Kinder, eine andere drei und noch eine zwei. Es sind nämlich alles Mütter. Und es war ein interessanter Prozess, wie wir einander „abtasteten“. Wir haben uns nicht sofort einander offenbart, wir waren uns nicht sofort im Klaren, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Nachdem ich mir an der extrem negativen Haltung der Lehrer der Sonntagsschule die Finger verbrannt hatte, hatte ich Angst bekommen, dass mich auch andere enttäuschen würden. Deswegen tastete ich mich da ganz behutsam vor. Sehr vorsichtig. Und schließlich stellte sich heraus: Es gibt sie! Es gibt doch Leute, die den Krieg ebenfalls kategorisch ablehnen. Besonders deutlich wurde das beim ersten Osterfest nach Kriegsbeginn, als ich sah, wie die Leute ihre Kulitsche gestaltet hatten: Bei einigen war die Dekoration gelb-blau und einige Eier waren ebenfalls in dieser Weise gefärbt. Was für eine Freude! Ich habe es nicht geschafft, irgendwie zu reagieren. Ich hätte so gern mit diesen Leuten gesprochen. Aber ich wusste ja nicht, von wem welcher Kulitsch oder welcher Eierkorb kam! Jedes Mal, wenn du in blau und gelb geschmückte Oster-Gaben siehst, wird dir klar, dass du nicht allein bist. Ich kann kaum beschreiben, wie wichtig dieses Gefühl ist!
 

Symbole für und gegen Krieg: Das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band ist seit 2014 Erkennungszeichen russischer Militaristen. Die gelbe Badeente war ironisches Symbol in Alexej Nawalnys Wahlkampf 2018 / Foto © Shaltnotkill.info

Zurück zu Ihren Protestaktivitäten. Sind Sie jedes Mal, wenn Sie auf Demonstrationen oder zu Mahnwachen auf die Straße gingen, festgenommen worden? 

Nein, natürlich nicht. Es haben ja viele protestiert, die konnten unmöglich alle eingesammelt werden. Meine zweite Festnahme war am 6. März. Und am 13. März wurde ich zum ersten Mal mit Hilfe von Sfera in der Metro festgenommen. Da wurde klar, dass ich bereits auf irgendwelchen Listen stehe, von Personen, die regelmäßig an Protesten teilnehmen. Bis zum 21. September 2022 sind gegen mich acht Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eröffnet worden. Darüber hinaus wurde ich drei Mal aufgrund von Sfera in der Metro festgenommen.

Was passierte mit Ihnen nach den Festnahmen in der Metro? Gab es Verhöre, Anzeigen? Ließ man Sie einfach gehen?

Unterschiedlich. Einmal ließen sie mich einfach gehen. Ein anderes Mal brachten sie mich aufs Revier und bedrängten mich lange mit Fragen. Sie wollten meine Fingerabdrücke nehmen und mich moralisch unter Druck zu setzen. Das dritte Mal hielten sie mich vier Stunden fest, zwei in der Metro und zwei auf dem Revier.

Und was war währenddessen mit Ihren Kindern?

Die Kinder sind meine verwundbare Stelle, und die Polizei weiß das genau! Gerade da können sie ihren Druck ansetzen. Jedes Mal, wenn ich [zu Protesten] aufgebrochen bin, hatte ich alles bis ins Detail durchgeplant. Jedes Mal waren mein Mann und die Oma (meine Mutter) zu Hause. Und im Kühlschrank standen Töpfe mit Essen. Die Schuluniformen der Kinder waren gebügelt und die Zimmer perfekt aufgeräumt. Sie drohten mehrfach mit dem Jugendamt und einer Pflegschaft. Ich habe alles so eingerichtet, dass sie [die Leute vom Jugendamt], wenn sie doch auftauchen sollten, ein ideales Zuhause vorfinden würden: ideale Kinder, die Hausaufgaben gemacht, der Kühlschrank gut gefüllt … Deshalb war ich, wenn beim Verhör das Thema auf meine Kinder kam und die Drohungen mit Entzug des Sorgerechts losgingen, gut vorbereitet: Kommen Sie nur, Sie werden erwartet! Von der Oma, meinem Mann, den Kindern … Das heißt, ich habe jede Mahnwache vorher intensiv zu Hause vorbereitet. Einmal war es so, dass einer unserer Freunde zu uns kam. Er hatte zufällig bei OWD-Info meinen Namen gelesen und dann meinen Mann angerufen, weil er wissen wollte, ob das stimmt. Er blieb dann bei den Kindern, während mein Mann zu mir aufs Revier fuhr. Unser Freund half der Oma dann, die Kinder ins Bett zu bringen, kam mit dem Auto zum Revier und wartete mit meinem Mann bis Mitternacht, bis mich die Polizei frei ließ.

Ihre Verwandten unterstützen Sie also. Teilen sie Ihre Einstellung zum Krieg? 

Meine Mutter steht felsenfest hinter Putin. Nach dem Tod meines Vaters haben wir sie zu uns genommen. Sie hat außer mir niemand mehr. Um die ohnehin angespannte Lage nicht noch weiter zuzuspitzen, reden wir nicht über Themen rund um den Krieg. Wenn ich in die Küche komme, schaltet sie das Radio einfach aus.

Ihre Kinder hören wahrscheinlich auch Radio? Oder gibt es eine Abmachung, dass das Radio nur ohne Kinder läuft?

Die Kinder sind ganz auf meiner Seite. Wenn sie in die Küche kommen, schalten sie sofort auf den Kinderkanal um. „Wenn wir in die Küche gehen“, erzählen sie mir, „sagen wir: Oma, Oma, es gibt jetzt ein super interessantes Märchen auf dem Kinderkanal. Wir schalten jetzt um, OK?“ Und sie schalten um, obwohl doch klar ist, dass sie längst aus dem Alter raus sind, in dem sie den Kinderkanal gehört haben. Einerseits kämpfen sie für reine Luft „in einer Wohnung“ [im Original eine Anspielung auf „Sozialismus in einem Land“ – dek]. Andererseits vermeiden alle Streit. Manchmal fragen sie: „Mama, wie kann Oma das alles nur glauben?“. Sie lieben ihre Oma, sie tut ihnen leid, sie finden, dass sie getäuscht wurde. Dass unsere gute, liebe Oma einfach getäuscht wurde. Und deswegen wollen sie nicht, dass sie weiterhin diese Lügen hört. Es war übrigens ihre Idee, diese Tricks mit dem Radio zu veranstalten. Ich habe sie zu nichts aufgefordert. Und dafür haben sie meine Hochachtung, dass sie einen wirklich sehr menschlichen Weg gefunden haben, der Lüge entgegenzutreten.

Ihr Mann ist solidarisch mit Ihnen?

Mein Mann ist einer von den „Uneindeutigen“. Wissen Sie, einer von denen, die oft sagen: „Krieg ist natürlich etwas Schlechtes, das ist schrecklich, aber alles ist nicht so eindeutig …“ Einerseits sieht er meine kategorische Haltung und meine Unbeugsamkeit, und er versucht, das zu akzeptieren. Andererseits, wenn wir dann doch mal darüber reden, dann gerät er wieder in die eingefahrene Spur, nach dem Motto: „Ja, Krieg ist schon schlecht, aber dir ist ja wohl klar, dass wir provoziert wurden. Es stimmt zwar, dass wir angefangen haben. Aber andernfalls hätten sie uns doch angegriffen …“ Er ist gegen die Luftangriffe, gegen eine Konfrontation; er ist für Verhandlungen. Ich dagegen bin für einen vollständigen Sieg der anderen Seite! Manchmal scheint mir, dass er eher auf der anderen Seite steht. Für ihn ist die NATO ein Feind, Amerika ist ein Feind … Putin hat er aber nie gemocht. Na immerhin.

Hat dieser Krieg die Haltung Ihrer Familie zu Putin verändert? 

Das kann man eigentlich nicht sagen: Mein Mann hat ihn nie gemocht, meine Mutter hingegen fand ihn immer gut.

Haben Sie sich vor dem Krieg an Protestbewegungen beteiligt? Etwa an Nawalnys Bewegung gegen Korruption, oder haben Sie vielleicht an Protesten im Zusammenhang mit der Ermordung Nemzows teilgenommen?

Es ist mir peinlich …, peinlich, das zu sagen, aber ich … ich habe mich ausschließlich um die Kinder gekümmert.

Warum ist Ihnen das peinlich?

Ich schäme mich vor mir selbst, weil ich nichts gesehen, nichts gemerkt habe. Schließlich hat der Krieg ja nicht aus dem Nichts begonnen. Und jetzt fragen mich viele, wo ich denn eigentlich früher war? Früher habe ich in einer Idealwelt gelebt.

Haben Sie keine Angst, hinter Gittern zu landen? Sie haben in Gefangenentransportern gesessen, wurden auf dem Polizeirevier festgehalten. Haben Sie keine Angst vor dem russischen Gefängnis? 

Natürlich habe ich Angst, aber längst nicht in dem Maße, wie ich Angst um meine Kinder habe. Es gab einen Augenblick, während einer der Festnahmen, da dachte ich, dass sie mich diesmal nicht wieder frei lassen. Das dauerte nur zwei Stunden. Aber ich dachte: Das war’s jetzt! Ich erinnere mich genau an meinen Zustand in diesen zwei Stunden, wenn man an die Kinder denkt. Als das Schloss der Zellentür eingerastet war und ich auf dem Boden lag und mit aller Kraft versuchte, Gedanken an die Kinder zu vermeiden, daran, was mit ihnen passieren wird. Weil mir ganz schrecklich zumute war: Was wird aus ihnen, wer wird ihnen bei den Schulaufgaben helfen, wer bringt sie zu den AGs, wer wird sie in ihrer Entwicklung fördern, und vor allem – wer wird sie vor der Propaganda schützen?

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Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Im zaristischen Russland waren staatliche und geistliche Macht stark miteinander verflochten. So wurden der Herrschaftsanspruch und die Legitimität des Zaren direkt von Gott abgeleitet und der neue Zar entsprechend in festlichen Gottesdiensten in sein Amt eingeführt. Administrativ war die Kirche Teil des Staatsapparats, so wurden etwa die Personenstandsakten von der Kirche geführt. Diese Privilegierung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) – auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften im multireligiösen Zarenreich – ging dabei Hand in Hand mit zahlreichen Eingriffen in innere Angelegenheiten der ROK. Maßgebliche Kreise der ROK begrüßten daher die Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 und sahen darin die Chance für eine größere Autonomie ihrer Kirche.

In der Sowjetunion versuchten die kommunistischen Machthaber zunächst, „fortschrittliche“ Geistliche, die teils für Kirchenreformen stritten, teils auch sozialistischen Ideen anhingen, gegen „reaktionäre“ Geistliche auszuspielen, bevor der Terror in den 1930er Jahren gleichermaßen Anhänger dieser sogenannten „Erneuererbewegung“ wie auch der Patriarchatskirche traf. Trotz dieser katastrophalen Erfahrungen riefen unmittelbar nach dem deutschen Überfall die wenigen überlebenden und noch in Freiheit befindlichen kirchlichen Würdenträger zur Verteidigung des – sowjetischen – Vaterlandes auf und initiierten Spendensammlungen.

Im Herbst 1943 revanchierte sich Stalin mit einer Neuausrichtung der staatlichen Kirchenpolitik, wobei auch außenpolitische Überlegungen zur Neugestaltung Europas maßgeblich waren und der ROK, wie auch anderen Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion, eine Rolle als außenpolitischer Akteur zugedacht wurde. Dies bedeutete, dass nach den massiven Angriffen und Verfolgungen die ROK nun wiederum zu einem Instrument staatlicher Politik wurde und entsprechend gesteuert werden musste.

So wurde im Herbst 1943 – nach mehrjähriger Vakanz – die Wiederwahl eines Patriarchen forciert und zugleich ein staatlicher „Rat für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche“ eingerichtet, der als Vermittler der staatlichen Kirchenpolitik galt und zugleich eine Steuerungs- und Kontrollfunktion hatte. Anders als etwa in Polen oder der DDR bot die ROK aufgrund dieser spezifischen historischen Prägungen kein schützendes Dach für etwaige oppositionelle oder dissidentische Aktivitäten. Stattdessen bewegten sich christliche Andersdenkende eher in Strukturen jenseits der ROK.

Nach dem Ende der Sowjetunion erfuhr die ROK als Träger (ethnisch-) russischer Identität sowie moralischer Werte großen Zuspruch. Dem taten auch regelmäßig auftretende Skandale wenig Abbruch, die mit der zeitgleich stark wachsenden engen Verflechtung von Staat und Kirche einhergingen. So galt etwa der seit 2009 amtierende Patriarch Kirill (Gundjajew) in den 1990er Jahren als „Tabak-Metropolit“, der mit dem Verkauf zollfrei importierter Zigaretten zu Reichtum kam.1 Außerdem gehört es zum guten Ton, dass führende Politiker des Landes öffentlichkeitswirksam die Kirche aufsuchen und eigene Gottesdienste zur Amtseinführung des Präsidenten gefeiert werden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bietet in dieser Perspektive der Tradition des russischen Zarenreichs erneut eine nützliche Ideologie, die den Staat zusammenhält.

Vor diesem Hintergrund bewerten viele Beobachter die ukrainischen Bemühungen zu einer Loslösung von der ROK auch als eine Bedrohung für das geopolitische Selbstverständnis des Kreml. Denn mit der Einschränkung der geistlichen Deutungshoheit über die Ukraine wird auch der Anspruch des Kreml auf die eigene „Interessensphäre“ in dem Land zunehmend fraglicher.


1.Neue Zürcher Zeitung: Angekratztes Image. Patriarch Kyrill hat ein Problem
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