Der Terminus Neostalinismus wurde bereits Ende der 1940er Jahre geprägt und in den 1950er und 1960er Jahren dazu verwendet, die Politik sowjetischer, chinesischer und osteuropäischer Parteidiktaturen zu beschreiben.
Im allgemeinen Sprachgebrauch umschreibt der Begriff Neostalinismus die Rehabilitierung Stalins in der Erinnerungskultur des heutigen Russland. Stalin wird dabei nicht als gewalttätiger Diktator eines autoritären Regimes gesehen, sondern vielmehr als effektiver Verwalter, fürsorglicher Vater und insbesondere Sieger über den Hitler-Faschismus. Eine besonders prägnante Definition des Neostalinismus lieferte in einer am 20.12.2009 ausgestrahlten Fernsehsendung Wladimir Kwatschkow1, Oberst a. D. des militärischen Nachrichtendienstes (GRU – Glawnoe Raswediwatelnoe Uprawlenie): „Stalinismus heute – das ist russisch-orthodoxer Sozialismus!“2
Im weitesten Sinne handelt es sich beim Neostalinismus um eine hybride Ideologie, die rationale und irrationale Komponenten der Stalin-Verehrung umfasst und sowohl von Regierungskritikern (roter und brauner Couleur) als auch von den Kultur- und Medieneliten, die dem Kreml nahe stehen, instrumentalisiert wird.
Nach 1990 wurden neostalinistische Standpunkte vor allem von rechts- und linksradikalen politischen Splittergruppen artikuliert und damit ein ideologisches Gegenkonzept zur (aus ihrer Sicht) gescheiterten liberal-demokratischen Entwicklung Russlands entworfen. Bemerkenswerterweise sind vergleichbare neostalinistische Geschichts- und Kulturmodelle erst während der Präsidentschaft Dimitri Medwedews (2008 – 2012) in der breiten Öffentlichkeit und in staatseigenen Medien salonfähig geworden. Dieser Rückgriff auf die totalitaristische Vergangenheit erfüllte in gesellschaftlicher Hinsicht gleich mehrere wichtige Funktionen. Zum einen erhielt der Personen- bzw. Führerkult als Idee „charismatischer Herrschaft“ im öffentlichen Diskurs wieder einen wichtigen Stellenwert, wobei er sich stets auf den Ministerpräsidenten Wladimir Putin als das eigentliche Staatsoberhaupt im Tandem bezog. Revisionistische Geschichtsentwürfe und populistische Rhetorik hielten mehr und mehr Einzug ins öffentliche Bewusstsein, vor allem im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg (Großer Vaterländischer Krieg) und Russlands Status als Siegermacht.
Ferner zielt der Neostalinismus auf die (Re-)Sakralisierung der sowjetischen Erfahrung.3 Seit etwa 2008 tauchen immer mehr Stalin-Ikonen in der russischen Informations- und Kultursphäre auf, die, obwohl von der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht anerkannt, auf eine Verstetigung des Stalin-Kults in der Volksfrömmigkeit, der Popkultur und mitunter in esoterischen Kreisen verweisen.
Neostalinismus erweist sich somit als ein erstaunlich funktionelles geschichtskulturelles Konstrukt der Herrschaftslegitimation, das Putins autoritären Machtanspruch festigt, antiliberale und sowjetnostalgische Ressentiments in staatstragender Weise kanalisiert und darüber hinaus oft eine geradezu heilsgeschichtliche Geltung beansprucht.
1.Wladimir Kwatschkow gilt als einer der zentralen Akteure der russischen rechtsradikalen Szene. 2013 wurde er wegen Terrorismus und geplantem Staatsstreich zu 13 Jahren Haft verurteilt.
2.Kaminskij, Konstantin (2012): Stalin 2.0. Stalin-Kult in russischen Medien des 21. Jahrhunderts, S. 183, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 16 (1), Eichstätt, S. 165-187
3.Die Welt: Der heilige Josef Wissarionowitsch