Winston Churchill wird ein Satz zugeschrieben, den im heutigen Russland wieder viele zitieren: Stalin, so der damalige britische Premierminister, habe das Land mit dem Pflug übernommen und mit der Atombombe hinterlassen. Als Wladimir Putin vor 20 Jahren an die Macht kam, war er ein weitgehend unbeschriebenes Blatt: Kaum jemand in Russland wusste etwas über den neuen Mann im Kreml. Vielerorts herrschte aber gleichzeitig Optimismus: Nach den katastrophalen 1990er Jahren, so der Tenor, könne es nur besser werden.
Obwohl der Präsident nach zwei Jahrzehnten weit davon entfernt scheint, von der Macht abzulassen, ziehen nun viele in Russland eine Bilanz seiner Politik. Was hat Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen? Und wie steht es um das heutige Russland?
In einem Parforceritt durch die neueste Geschichte Russlands geht auch der Journalist Juri Saprykin diesen Fragen für Vedomosti nach.
Die dramatischen Ereignisse im Russland der späten 1990er Jahre – der Krieg zwischen Oligarchen und Regierung, der krisengebeutelte August 1998, das Wechselspiel um die Ministerpräsidenten, der Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs, Jelzins Rücktritt und die Wahl seines Nachfolgers – waren eingerahmt von der Veröffentlichung zweier Filme von Alexej Balabanow um ein und denselben Protagonisten. Der Zweiteiler Brat [dt. Der Bruder] hat, wie es heute scheint, den Nerv der gesellschaftlichen Erwartungen wie nichts anderes getroffen, er formulierte die Forderung an die zukünftige Regierung und sagte in vielem die Logik ihrer Entwicklung voraus.
„In der Wahrheit liegt die Kraft“
Die nationale Idee, an deren Entwicklung in Jelzins Auftrag ganze Intellektuellenstäbe geschuftet hatten, wurde von Danil Bagrow in ein paar wenigen lakonischen Sätzen auf den Punkt gebracht. Brat-1 formulierte die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden. Brat-2 fing das Gefühl der nationalen Demütigung ein, die aus der Niederlage im Kalten Krieg und dem Auseinanderbrechen der gewohnten Lebensordnung folgte. Die mittlerweile abgegriffene Phrase „in der Wahrheit liegt die Kraft“ las sich 1999 nicht als Verweis auf eine geheimnisvolle russische Seele, sondern als Appell an einfache ethische Grundregeln, als Hoffnung auf ein Leben, in dem nicht alles von Geld oder roher Gewalt bestimmt wird, in dem es ein Oben und ein Unten gibt, Schwarz und Weiß. Die rasant wachsende Zustimmung für Putin Ende 1999 war die Hoffnung auf einen Leader, der zwischen Gut und Böse unterscheiden und das Böse abwehren kann. Wer die Wahrheit hat, hat die Kraft.
Notwendiger Preis für die Erlösung aus dem Notstand
Das Publikum, dem Charme von Sergej Bodrow jr. gänzlich erlegen, verzeiht seinem Helden die unlauteren Methoden. Genau so verschloss die Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre die Augen vor der Tatsache, dass die Wiederherstellung der Spielregeln in Wirtschaft und Medien mit einer gewaltsamen Einverleibung des Privateigentums einherging und die Spezialeinsätze gegen Terroristen mit exorbitanten zivilen Opferzahlen. Das wahllose Geballer im Film und die ausufernden Gewaltmethoden in der russischen Politik lassen sich auf die außergewöhnlichen Umstände schieben: Die Menschen sahen darin den notwendigen Preis für die erhoffte Erlösung aus dem Notstand und die Wiederherstellung der Normalität.
Der Staat unter Putins erster Amtszeit zwang niemandem seine Ideologie auf, mischte sich nicht ins Privatleben ein; er schuf die Bedingungen für Wirtschaftswachstum und neue Konsummöglichkeiten, und selbst die Serie von Katastrophen und Tragödien Anfang der 2000er Jahre (Kursk, Nord-Ost, Beslan) vermochte nicht das Vertrauen zu erschüttern, dass das Leben sich in die richtige Richtung bewegt. Wir fliegen nach Hause.
Putin als Geisel der Weltsicht
Allmählich entwickelte die Regierung ihren eigenen Stil, ihre eigenen Manieren – und dieser Verhaltenskodex war dem von Danila Bagrow verdächtig ähnlich. Was im Film als groteskes Detail daherkommt, ein Produkt der Ironie des Regisseurs, ließ sich am einfachsten umsetzen: der Antiamerikanismus, der Gossenslang, die Sowjetnostalgie, die vetternwirtschaftliche Solidarität – das alles ging in die Alltagspraxis der Staatsmacht über, während die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die endgültige Rückkehr zum normalen Leben in noch weitere Ferne rückten. Das politische Regime, das sich unter Putin formierte und seine Legitimität weitgehend aus dem Versprechen zog, es werde „keine Rückkehr in die wilden 1990er“ geben, wurde de facto zur Geisel der Weltsicht und der Methoden jener 90er Jahre, wo Wohlstand von der Nähe zum Thron abhing, Gesetze per Handsteuerung umgesetzt wurden und die Kraft letzten Endes immer in Geld bemessen wurde.
Der gegen Banditen kämpfende Danila schafft es nicht, sich im friedlichen Leben zurechtzufinden – und genauso beginnt auch die neue Staatsmacht, nachdem sie die Krisenzeiten der 2000er Jahre überlebt hat, die Krisen selbst zu generieren. Die Yukos-Affäre, Einschüchterungsaktionen durch kremltreue Halbstarke, der Druck auf die Presse, die Ermordung Anna Politkowskajas – das war sicher nicht das, was die Gesellschaft im Sinn hatte, als sie sich einen starken und gerechten Leader erhoffte, aber die Staatsmacht hatte bereits begonnen, nach ihrer eigenen Logik zu leben, in der sie die zunehmenden Spannungen mit sportlichen Siegeszügen und einer aggressiven außenpolitischen Rhetorik ausbügelt.
Für die am Westen orientierte Schicht wurde der Staat ein Dienstleister
Das Bedürfnis nach Stabilität in ihrer zutiefst kleinbürgerlichen Variante – der Regeneration des täglichen Lebens – wurde in den 2000er Jahren von unten erfüllt, durch einen Konsum-, Tourismus- und Gastronomieboom. Die Großstadtbevölkerung gewöhnte sich an den Gedanken, dass „man gut leben muss“, und begegnete auch der Regierung mit derselben Konsumentenhaltung: Für die am westlichsten orientierte Schicht wurde der Staat nur einer von vielen Dienstleistern, und er sollte effektiv arbeiten, zusätzliche Annehmlichkeiten schaffen und für die öffentliche Kontrolle transparent sein.
Die Modernisierungsrhetorik der Medwedew-Epoche stützte diese Erwartungen, während sie ihre Erfüllung weiter auf eine undefinierte Zukunft verschob. In der Praxis sahen sich die Bürger zunehmend mit korrumpierten Beamten, polizeilicher Willkür und Gerichten konfrontiert, die manuell gesteuert werden. Die per Handsteuerung entschiedene Machtfrage signalisiert deutlich, dass dieses Lebenskonstrukt unverändert bleiben und die in die Zukunft verschobene „Normalisierung“ endgültig von der Tagesordnung gestrichen wird. Über der unter Putin aufgewachsenen Mittelschicht liegt eine Wolke der Hoffnungslosigkeit, im russischen Facebook diskutiert man die Möglichkeiten der äußeren oder inneren Emigration. Der Anfall der kollektiven Depression entlud sich in den aufflammenden Protesten im Winter 2011/12, woraufhin Stabilität und Gerechtigkeit endgültig zu rhetorischen Figuren verkamen, die nur dazu da sind, beim Direkten Draht des Präsidenten mantraartig wiederholt zu werden.
In den Protesten 2011/12 entlud sich eine kollektive Depression
Seit 2012 versucht der Staat nicht mehr, eine in der Luft umherflirrende nationale Idee einzufangen oder einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Forderung nachzukommen. Er formuliert erstmals in seiner postsowjetischen Geschichte eine eigene offizielle Quasi-Ideologie, die das Fundament der nationalen Identität bilden soll. Russland sei ein besonderes Land. Seine Basis sei eine starke Führung, der Patriotismus, die Ehrfurcht vor der Religion und traditionellen Familienwerten. Es ist (und war schon immer) umzingelt von Feinden, die ihm seine Naturreichtümer und moralische Erhabenheit neiden. Außerdem habe Russland den Faschismus besiegt und würde das im Notfall wiederholen. Diese Ideologie wird durch eine Reihe von Propagandakampagnen untermauert, die die Gesellschaft gegen eine herbeikonstruierte äußere Gefahr mobilisieren, etwa Aktionskünstler und -künstlerinnen, die den orthodoxen Glauben verhöhnen, homosexuelle Propaganda, die an den Grundfesten der intakten Familie rüttelt, oder Ausländer, die russische Kinder außer Landes bringen.
Dieser Mobilisierungsimpuls kulminiert in einem neuen „Krieg gegen den Faschismus“, der 2014 auf den Fernsehbildschirmen entfacht wurde, wobei seine wichtigste territoriale Eroberung und die begleitende nationale Euphorie nicht das Ergebnis waren, sondern der Geschichte vorausgingen.
Über den höheren Sinn der Notwendigkeit, mit Schlagstöcken auf Jugendliche einzudreschen
Die neue Ideologie ist nicht nur eine Quasi-, sie ist eine Soft-Ideologie: Sie erfordert weder aufrichtigen Glauben noch Enthusiasmus, es genügen ritualartige Loyalitätsbekundungen. Auch ihr Anwendungsradius ist begrenzt: Sie kann einem Omon-Mitarbeiter erklären, worin der höhere Sinn der Notwendigkeit besteht, mit einem Schlagstock auf einen Jugendlichen einzudreschen, sie kann als Kompensationsmechanismus für die Bewohner von Mono-Siedlungen fungieren, die ohne jede Perspektive ihr Dasein fristen – und sich vor der Hoffnungslosigkeit in das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großartigen Land retten. Aber diese Version der nationalen Identität beantwortet in keiner Weise das Bedürfnis, aus dem die heutige Staatsmacht einst geboren wurde – das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, dem Einhalten ethischer Normen, nach verständlichen und allgemeingültigen Spielregeln.
Die nationale Idee findet sich heute in populären YouTube-Serien
Die Konfrontation zwischen gesellschaftlichen Kräften einerseits – die von der Staatsmacht fordern, sie solle sich ändern (oder veränderbar werden) – und der Staatsmacht andererseits – die weder das eine noch das andere zu tun gedenkt – könnte sich noch lange hinziehen und selbst zu einer nationalen Besonderheit Russlands werden. Es ist jedoch interessanter, sich etwas anderes anzuschauen: nämlich jene Formen von Patriotismus und nationaler Identität, die heute von unten entstehen, unabhängig vom Staat, und die die Gesellschaft in Zukunft einen könnten.
Die Neuformulierung der nationalen Idee, die sich in den 1990ern in Brat konzentrierte, findet sich heute verstreut in populären YouTube-Serien und -Shows, in den Aufnahmen der neuen Generation von Hip-Hop-Musikern und in den Arbeiten von Street Art-Künstlern. Da ist ein lokaler Patriotismus – ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht zu einer staatlichen Abstraktion, sondern zu einem konkreten Ort, den man mit Sorgfalt, Respekt und Aufmerksamkeit behandeln muss. Das macht sich im Erstarken der Heimatkunde und der Neubewertung des regionalen historischen Erbes bemerkbar, aber auch im boomenden Inlandstourismus, dem Trend zur Landwirtschaft und regionalen Produkten und so weiter.
Das Leben in Russland rockt
Da ist die Ästhetisierung des Alltags in der russischen Provinz, eine Aufwertung ihrer noch so unansehnlichen Erscheinungsformen, seien es Plattenbauten oder Trainingsanzüge als die Uniform der Außenbezirke. Da ist eine völlig andere Sicht auf die 1990er Jahre – nicht als das „wilde“ Jahrzehnt oder die „Zeit der Freiheit“, sondern als die tragische und heldenhafte Epoche, der wir alle entstammen. Da ist die allmählich erworbene Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zum gemeinsamen gesellschaftsrelevanten Handeln, dem Zusammenschluss mit Nachbarn, Arbeitskollegen und Gleichgesinnten für ein gemeinsames Ziel, sei es, um gegen die Abholzung des Parks vor der Haustür zu kämpfen oder um einem Waisenhaus in der Nachbarschaft oder einem unschuldig verhafteten Kommilitonen zu helfen. Da ist der neue Umgang mit den Tragödien der Vergangenheit, eine neue Art der Erinnerungskultur, in der nicht nur Kriegshelden der kollektiven Erinnerung und Ehre würdig sind, sondern auch die Opfer eines verbrecherischen Regimes oder einfache Bürger, die dessen Inkompetenz mit ihrem Leben bezahlen mussten. Da ist nicht zuletzt die Überwindung des nationalen Minderwertigkeitskomplexes, der der älteren Generationen eigen ist, hin zu einem nüchtern-gelassenen Gefühl, dass die „Russen schon okay“ sind (wie es im Videoprojekt von Jelisaweta Ossetinskaja heißt) und das Leben in Russland trotz allem „rockt“ (wie es [Juri] Dud auf seinem Instagram-Account formuliert).
Und da ist dieser Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – einer Gesellschaft, die bereit ist, ihre Geschichte und Identität anzunehmen und zu reflektieren, ohne darauf zu warten, dass diese Prinzipien oktroyiert werden, die bereit ist, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, ohne darauf zu warten, dass der Staat ihre Probleme löst – das ist möglicherweise die am meisten hoffnungsspendende Nachricht des ausklingenden Jahrzehnts.