„Wenn es ein Blockbuster wäre und nicht das echte Leben, würde man nach dem Film sagen: ‚Nein, das Sujet ist total überzeichnet, im echten Leben ist es nie so‘“, so beschreibt Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak auf Instagram Nawalnys Rückkehr nach Russland.
Das umgeleitete Flugzeug, Festnahme am Flughafen, Polizeistation, spontanes Gerichtsverfahren, Nawalnys Gegenangriff auf Putin, der viral geht und millionenfach angeschaut wird, gefolgt von Diffamierungen in der Staatsduma und Aufrufen zu landesweiten Protesten – die Ereignisse überschlagen sich, Hunderttausende verfolgen den Politthriller quasi in Echtzeit, in Livestreams der unabhängigen Fernsehsender und Online-Medien.
dekoder bringt eine Chronologie der Ereignisse, bietet Hintergründe und Ausblicke.
13. Januar: Nawalny kündigt seine Rückkehr nach Russland an
Seit Monaten war es ein heiß diskutiertes Thema in den russischen Medien: Kehrt Nawalny nach Russland zurück, oder wird er seine politische Tätigkeit und Korruptions-Recherchen aus der Emigration weiterführen?
Am 13. Januar veröffentlicht er ein Video auf Instagram:
Das Video endet mit den Worten:
Nawalnys Entscheidung kam für viele überraschend. Denn zwei Wochen zuvor war er von der Föderalen Strafvollzugsbehörde zur Fahndung ausgeschrieben worden.
Kirill Martynow: Freier Mensch und Bürger eines großen Landes
Vielen ist von Anfang an klar, dass Nawalny festgenommen wird. Der Politikredakteur der Novaya Gazeta, Kirill Martynow, vermutet, dass Nawalny nicht nur von seinen Anhängern und Journalisten, sondern auch von Silowiki mit einem Haftbefehl empfangen wird. Er sieht in Nawalnys Entscheidung zur Rückkehr aber einen „fundamentalen politischen Sinn“:
Genau so wird in modernen Theorien des Republikanismus politische Freiheit beschrieben: Frei ist der, der nicht der Willkür eines anderen ausgesetzt ist. Wenn ein Diktator schon über dein Schicksal entschieden hat, besteht die einzige Möglichkeit deine Freiheit zu verteidigen darin, alles aufs Spiel zu setzen und deinen eigenen Willen dieser Willkür entgegenzustellen.
17. Januar, 15:18 Uhr: Nawalny fliegt aus Berlin in Richtung Moskau ab
Trotz Warnungen von Flughafen und Polizei kommen nach Angaben der Organisation Bely Stschjottschik (dt. etwa Weißer Zähler) rund 2000 Menschen zum Flughafen Wnukowo, um Nawalny zu begrüßen. Mehrere hunderttausend Menschen verfolgen das Ereignis live auf Doshd oder in einem der vielen anderen Livestreams. Silowiki drängen Nawalnys Anhänger aus dem Gebäude, 59 Menschen werden festgenommen. Nawalny landet endlich um 18:12 Uhr. Der Flug wurde jedoch umgeleitet – zum Flughafen Scheremetjewo.
Etwa 2000 Menschen kommen zum Flughafen Wnukowo, um Nawalny zu begrüßen, Sicherheitskräfte drängen die Menschen aus dem Gebäude / Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant
Alexej Wenediktow: Putins persönlicher Gegner
Die Aufregung ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass Nawalny nach seiner Vergiftung und Rückkehr nach Russland einen neuen Status hat. Im Livestream des Radiosenders Echo Moskwy spricht dessen Chefredakteur Alexej Wenediktow über die neue Rolle Nawalnys, mit der er nach Moskau zurückkommt:
17. Januar, 21:00 Uhr (Moskauer Zeit): Nawalny wird am Flughafen Scheremetjewo festgenommen
Nach der Landung übertragen zahlreiche mitgereiste Journalisten live praktisch jeden Schritt Nawalnys bis zur Grenzkontrolle. Nawalny und seine Frau Julia geben keine Interviews – nur ein kurzes Statement vor den Kameras:
Kurz darauf wird Nawalny an der Grenzkontrolle festgenommen und in die Polizeistation der Stadt Chimki gebracht, in der Nähe des Flughafens.
Nawalny und seine Frau Julia kurz vor der Passkontrolle / Foto © Kira Jarmysch/Twitter
Sergej Medwedew: Nawalny – der neue Mandela?
Auch wenn die Festnahme zu erwarten war, reagieren viele Analytiker empört, dass Nawalny etwa die Begleitung durch seinen Anwalt verweigert wird. Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew zieht in einem Facebook-Post historische Vergleiche:
Die Umstände der Festnahme empörten viele Analytiker / Foto © Kira Jarmysch/Twitter
Dimitri Peskow: Ich bin nicht auf dem Laufenden!
Der Kreml weiß nichts von der Festnahme, Putin-Sprecher Dimitri Peskow antwortet auf die Frage des Mediums Podjom:
18. Januar, 14:30 Uhr: Im Fall Nawalny wird eine 30-tägige Untersuchungshaft angeordnet
Bereits am nächsten Tag um 12:30 Uhr beginnt direkt in der Polizeistation von Chimki ein Gerichtsverfahren. Sowohl Nawalnys Anwälte als auch er selbst erfahren erst wenige Minuten vor Beginn von der kurzfristig angesetzten Verhandlung. Nawalny reagiert empört: „Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!“ Nach zweistündiger Verhandlung ordnet die Richterin eine 30-tägige Untersuchungshaft an.
Auf die Verhandlung reagiert Nawalny empört: „Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!“ / Foto © Vladlen Los/Twitter
Juri Dud: Staatliche Willkür
Der Journalist und YouTube-Star Juri Dud vergleicht auf Instagram das Gerichtverfahren mit den „wilden 1990er Jahren“ und warnt davor, Willkür als Normalität zu akzeptieren:
‚Nirgendwohin sind die 1990er Jahre verschwunden‘, sagt man gerne über die entfernte Provinz; doch die Ereignisse der vergangenen Tage rufen uns ins Bewusstsein, dass die 1990er Jahre auch im einige-Dutzend-Kilometer-Umkreis des Kreml immer wieder anzutreffen sind. Für alle, die das nicht wussten oder daran gezweifelt haben: Früher waren Unrecht und Willkür die Sache von Gangstern, heute macht das locker auch der Staat. Das Gericht über Alexej Nawalny hinter einem Tischchen in der Polizeiwache von Chimki – genau das ist Unrecht und Willkür. Das größte Risiko ist hier: Wenn die Willkür zur Norm wird, dann werden sehr oft alle zu Opfern, auch die, die diese Norm irgendwann geschaffen oder ausgeführt haben (googelt mal Genrich Jagoda, dessen trauriges Bild [während der Verhandlung – dek] direkt hinter Nawalny [an der Wand – dek] hing).
Самый большой риск тут в том, что когда беспредел становится нормой, его жертвами очень часто становятся вообще все, в том числе те, кто эту норму когда-то устанавливал и исполнял (погуглите о Генрихе Ягоде, грустная фотография которого была прямо за спиной Навального).
19. Januar: Die Staatsduma tagt
Nach den Neujahrsferien beginnt am 19. Januar die neue Sitzungsperiode der Staatsduma. Vorsitzende aller Fraktionen greifen das Thema Nawalny auf: Er sei Verräter, Agent der USA und Anstifter eines möglichen Maidans in Russland.
Wladimir Shirinowski sagt:
19. Januar, 14:00 Uhr: Auf Nawalnys YouTube-Kanal erscheint das Video Ein Palast für Putin
Während Nawalny in einem Untersuchungsgefängnis mit dem inoffiziellen Namen Matrosskaja tischina (dt. Matrosenruhe) einsitzt, wird es draußen unruhig. Auf seinem YouTube-Kanal erscheint ein fast zweistündiges Video, in dem Nawalny dem russischen Präsidenten Korruption in Milliardenhöhe vorwirft: Die Aufnahmen zeigen „Putins Palast“ in Gelenshik am Schwarzen Meer. Das Video bricht alle Rekorde. Es wird innerhalb eines Tages 25 Millionen Mal aufgerufen (am 21. Januar sind es bereits über 43 Millionen Aufrufe).
(englische Untertitel)Alexander Kynew: Nawalny spielt Schach und va banque
Auf Echo Moskwy zeichnet Alexander Kynew die Dramaturgie der Ereignisse nach:
Seit Jahren recherchiert Nawalny gegen verschiedene Personen: Tschaika, Medwedew, Mischustin, Russia Today und so weiter. Nie aber betrafen diese Ermittlungen Putin persönlich. Putin war sozusagen jenseits dieser Riege von Personen, über deren Geschäfte und Reichtum Nawalny berichtete.
Nun ist Nawalny zu den Recherchen bezüglich seiner eigenen Vergiftung übergegangen. Nun hat er die Hauptperson einbezogen. [...] Das ist mittlerweile ein persönlicher Kampf. In gewissem Sinne hat der Kreml ihm aber auch keine andere Möglichkeit gelassen, denn es ist der Befehl zum offensichtlichen politischen Mord ... Nun, jeder Hund, der in die Enge getrieben wird, zeigt Zähne. In diesem Fall spielt Nawalny also va banque.
Auf VTimes fügt der Politologe hinzu, dass der Oppositionspolitiker sich mit dem Enthüllungsvideo auch Sicherheit verschafft:
19. Januar: Nawalny ruft zu landesweiten Protesten auf
Nawalnys Video beginnt mit einem Aufruf zu Protesten am 23. Januar. Seitdem trommelt das Team des Politikers für landesweite Aktionen: Um 14 Uhr sollen Demonstranten Hauptstraßen und Plätze in mindestens 65 Städten besetzen, um „gegen Putins Willkür zu protestieren“.
Andrej Mowtschan: Mann der Mitte?
Wie viele Menschen kann Nawalny zu den Protesten am Samstag mobilisieren? Dieser brennenden Frage geht auf Facebook auch der Journalist Andrej Mowtschan nach:
Russland lebt damals wie heute von zwei Ideen: von der gemeinschaftlichen Verteilungsidee des ‚ehrlichen Diebes‘, die hier fälschlich ‚kommunistisch‘ genannt wird, und natürlich von der Idee der sakralen Autorität. Genau diese konkurrieren miteinander, ihre Symbiose garantiert die Unabsetzbarkeit der Staatsmacht. Und Dissidenten – ach, die können von Deutschland aus auf Sendung gehen oder im Gefängnis sitzen (oder auch nichts senden und nicht einsitzen) – das wird Unsereins beunruhigen, aber Russland sicher nicht.
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Россия жила и живет двумя идеями – общинно-распределительной идеей "честного вора", ошибочно называемой здесь "коммунистической", и конечно сакрально-автократической. Именно они конкурируют между собой, их симбиоз обеспечивает несменяемость власти. А диссиденты – диссиденты могут вещать из Германии или сидеть в тюрьме (впрочем – могут и не сидеть, и не вещать) – это будет волновать нас с вами, но не Россию.
Alexander Baunow: Der Kreml muss sich entscheiden
Journalist Alexander Baunow argumentiert auf Carnegie, dass Nawalnys Rückkehr den Kreml in ein schwieriges Dilemma bringt:
Der Kreml wird entscheiden müssen, was bedrohlicher ist: Nawalny als ein echter politischer Störfaktor bei den nächsten Wahlen oder eine mythologisierte Legende vom verfolgten Nawalny, der wahrscheinlich die ganze Unzufriedenheit bündeln wird und den ganzen Wunsch nach Veränderung zum Besseren.
Власти придется определиться, что ей страшнее – реальный политический овод Навальный на ближайших и последующих выборах или мифологизированный, гонимый Навальный-легенда, который с большой вероятностью будет собирать все недовольство, все обиды и все желание перемен к лучшему.
Nawalnys Verhaftung führt zu einer beispiellosen Solidaritätswelle. Für den Stab des Oppositionspolitikers nehmen auch bekannte Menschen Unterstützungsvideos auf. Unter ihnen: Musiker Noize MC, Andrej Makarewitsch, Krowostok und Gretschka, Schriftsteller Dimitri Gluchowski, Fotograf Dmitry Markov. Die Liste der Unterstützer wächst stündlich.