Nach dreieinhalb Jahren Haft kam Oleg Nawalny am 29. Juni 2018 auf freien Fuß. Zu diesem Strafmaß wurde er 2014 verurteilt, genauso wie sein Bruder. Die Strafe des prominenten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny wurde allerdings auf Bewährung ausgesetzt. Die Anklage lautete auf Betrug des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher, mit dem eine Firma der beiden Brüder Geschäfte gemacht hatte.
Schon während des Prozesses betonte Alexej Nawalny, dass die Anschuldigungen haltlos seien und sein Bruder nur in Sippenhaft genommen worden sei. Auch Vertreter von Yves Rocher bestritten während des Prozesses die Vorwürfe und äußerten mehrfach, die Geschäfte seien zur Zufriedenheit beider Seiten abgewickelt worden. Unabhängige Beobachter attestierten dem Verfahren einen politisch-motivierten Hintergrund. Schließlich befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Oktober 2017 das Urteil des russischen Gerichts als „willkürlich und deutlich rechtswidrig“.
Diese vernichtende Einschätzung quittierte das Präsidium des Obersten Gerichtshofes Russlands Ende April 2018 mit Schulterzucken: Das Urteil sei rechtsgültig, die Nawalny-Brüder bleiben vorbestraft. Damit zahlt der russische Staat ihnen auch die vom EGMR zugesprochene Entschädigung von insgesamt 97.000 US-Dollar nicht.
Warum diese Entscheidung einer Bankrotterklärung des russischen Rechtssystems gleiche und was man tun müsse, um aus Russland einen Rechtsstaat zu machen – das erklärt Alexander Wereschtschagin auf Republic.
In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa
Die Entscheidung des Obersten Gerichts im Fall Yves Rocher (so heißt der Fall der Nawalny-Brüder) kann zugleich als Urteil über das russische Rechtssystem angesehen werden.
Das Präsidium des Obersten Gerichts ist die höchste gerichtliche Instanz der Russischen Föderation, gegen deren Entscheidung man nirgendwo im Land Berufung einlegen kann. Es hatte sich mit dem Fall befassen müssen, weil der Europäische Gerichtshof in Straßburg (EGMR) darin eine Reihe von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention erkannt hat. Nach russischem Recht ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ein „neuer Sachverhalt“ und somit ein Grund für eine Revision des Falls.
Urteilsaufhebung oder Urteilsabänderung – das sind die beiden Möglichkeiten, die das Gesetz dem Präsidium lässt. Die Möglichkeit, es unverändert beizubehalten, gibt es nicht.
Aber wie es bei uns so schön heißt: „Willst du was und darfst es nicht, musst du's nur wirklich wollen.“ In diesem Fall wollte man es wirklich. Und so verkündete das Präsidium einen abenteuerlichen Beschluss, der vom Gesetz nicht vorgesehen ist: Das Urteil im Fall Yves Rocher wird nicht geändert.
Eine Frage der Technik
Gerechterweise muss man sagen, dass es das zwar sehr selten, aber nicht zum ersten Mal gibt. Das Präsidium hat lange darauf hingearbeitet. Schon vor zehn Jahren tauchten in seiner Verordnung interessante Formulierungen auf. Denen zufolge hat das Präsidium eine Zusatzbedingung für die Revision eines Falls aufgestellt: Es ist nicht genug, dass der Europäische Gerichtshof Verstöße attestiert. Die Urteile, in denen er sie vorfindet, müssen auch rechtswidrig, unzulässig oder unbegründet sein.
Was folgt, ist eine Frage der Technik: Man braucht nur noch zu beweisen, dass ein Urteil, das nach Ansicht des EGMR gegen die Konvention verstößt, doch rechtmäßig, zulässig und begründet ist. Aber weil es keine gerichtliche Instanz gibt, die über dem Präsidium steht und vor der man sich streiten könnte, muss das Präsidium letztlich nur sich selbst überzeugen.
Und genau das hat es getan – in einem beispiellos langen Urteil (etwa zehn Mal so lang wie üblich), das zunächst einmal in allen Einzelheiten darlegt, was für Gauner die Nawalny-Brüder sind. Dann haspelt das Präsidium im Schnelldurchlauf runter, dass „der Europäische Gerichtshof das Strafverfahren [...] für ‚fundamental‘ ungerecht hält“, dann verkündet das Präsidium ohne Umschweife: „Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!“, und bekräftigt seine Position mit einem erneuten Wortschwall über die kriminellen Machenschaften der beiden Brüder und die Gerechtigkeit ihres Gerichtsverfahrens. Und alles nur, um zum erwünschten Schluss zu kommen: Das Verfahren wird wieder aufgenommen, aber die Gerichtsurteile bleiben unverändert.
Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!
Es ist das erste Mal, dass das Präsidium dem EGMR in der Sache widersprochen hat, wobei es nicht um Aspekte der Prozessführung, sondern um die Bewertung der materiellen Norm selbst geht: Der EGMR wirft den russischen Gerichten vor, das Strafgesetz zu breit und willkürlich ausgelegt zu haben, wodurch eine gewöhnliche unternehmerische Aktivität kriminalisiert wurde; das Präsidium kann nichts dergleichen erkennen und beharrt stur auf seinem Standpunkt, womit es der Position des Europäischen Gerichtshofs jede juristische Bedeutung abspricht.
Genetische Gründe
Kommt diese Entscheidung, trotz ihrer Präzedenzlosigkeit, wirklich überraschend? Wohl eher nicht. Eine echte, grundlegende Reform hat es in den letzten 30 Jahren nicht gegeben; allenfalls oberflächliche Reförmchen – Reparaturen und Rekonstruktionen, die das Wesen des Systems nicht berührten. Von der Justiz als einem eigenständigen Zweig der Staatsgewalt kann keine Rede sein, eigenständig ist sie nur in nebensächlichen Fragen (wie jedes andere Verwaltungsorgan auch), in prinzipiellen Fragen jedoch werden ausschließlich Urteile gesprochen, die der Obersten Gewalt genehm sind – in Russland ist die verkörpert durch den Präsidenten. Und der sieht in Nawalny, wie wir alle wissen, seinen Feind (wozu er natürlich allen Grund hat).
Auf diese Weise bleibt unserem Gerichtssystem das Sowjetische in den Genen. Und ein sowjetisches Gericht ist den Feinden des Regimes gegenüber erbarmungslos, sie dürfen kein Wohlwollen, ja nicht einmal bloße Objektivität von ihm erwarten. Als 1952 das Kriegskollegium des Obersten Gerichts sich mit dem Fall des sogenannten Jüdischen Antifaschistischen Komitees befasste, war es das Politbüro, das die Richter anwies, alle Angeklagten bis auf einen zum Tode zu verurteilen.
Neues Gericht statt Reform
Was sich heute von damals unterscheidet, ist allein die Schwere der Urteile und die Zahl der Personen, die das Regime als seine Feinde ansieht. Ihre Chancen auf ein faires Verfahren sind nach wie vor gleich Null. Und das ist nur natürlich, denn an der Macht sind Sowjetmenschen, deren Gewohnheiten, Stereotypen und Vorstellungen von Rechtsprechung aus einer Epoche stammen, in der Recht nichts anderes war als der Wille der herrschenden Klasse, und das Gericht – sein Werkzeug.
Das Wesen der sowjetischen Justiz ist simpel: Ein „böser Mensch“ muss verurteilt werden, egal wie. Formalitäten, und erst recht die Meinung eines „bourgeoisen“ Gerichts in Straßburg, dürfen dem „Triumph der Wahrheit“ in seinem spezifisch sowjetischen Sinn dabei nicht im Weg stehen: „Der Feind gehört ins Gefängnis“, oder wenigstens schuldig gesprochen.
Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen alle falschen Vorwürfe
Es gibt einen bestimmten Kreis von Personen, bei denen Rechtsprechung unmöglich ist: Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen die Vorwürfe, die man gegen sie erhebt, weil sie entweder Feinde der Ersteren sind oder als ein machtfeindliches Element gelten.
Letztendlich läuft es auf die Frage hinaus, ob unsere Richter-Kaste ihre „sowjetischen Gene“ überwinden kann, die sie dazu bringen, sich in jedem politisch gefärbten Fall automatisch auf die Seite der Macht zu stellen. So lange dieser Umbruch noch nicht vollzogen ist (und der Fall Yves Rocher ist eine weitere verpasste Chance), kann von einem Rechtssystem im wahren Sinne des Wortes nicht die Rede sein. Deshalb sollten wir endlich nicht mehr über Reformen diskutieren, sondern darüber, ein neues Rechtssystem zu schaffen.