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2021 – Jahr des Kampfes

 „Durchgedrehter Drucker 2.0“ – so haben zahlreiche unabhängige Medien in Russland Ende 2020 die Staatsduma bezeichnet, nachdem sie wieder wie am laufenden Band eine Reihe repressiver Gesetze ausgespuckt hat. Die Bandbreite reicht von weiterer Einschränkung der Versammlungsfreiheit über weitere Restriktionen für NGOs bis hin zur Verschärfung des sogenannten Agentengesetzes

In diese Atmosphäre platzte am gestrigen Mittwoch, 13. Januar, die Nachricht von Alexej Nawalny: Der Oppositionspolitiker kündigte an, am kommenden Sonntag nach Russland zurückzukehren. Nach einer Nowitschok-Vergiftung befindet sich Nawalny seit Ende August in Deutschland. Nun hat er sich ein Ticket gebucht und fliegt zurück mit der Fluggesellschaft Pobeda, deutsch: Sieg. 

Solchen metaphorischen Optimismus kann Wladislaw Inosemzew nicht teilen. Für den Wirtschaftswissenschaftler ist die Überführung der mutmaßlichen Gift-Attentäter zwar das Ereignis des Jahres 2020, weil sie dem Kreml einen empfindlichen Schlag verpasst hat. In The Insider argumentiert Inosemzew, dass dies aber nur ein trügerischer Sieg gewesen sei. Und dass 2021 mit einer vernichtenden Niederlage der Opposition enden wird.

Источник The Insider

Anfang 2021 stehen die Dinge ziemlich klar. Die russische Gesellschaft gliedert sich in drei Teile: Der erste sind die Dissidenten – Menschen mit einem modernen/europäischen Weltbild, die grundlegende humanistische Werte teilen, Gewalt und Rechtlosigkeit ablehnen und gegen die Einschränkung ihrer politischen Freiräume protestieren. 
Momentan zeichnen sie sich einerseits durch ihre hohe Gesetzestreue aus (niemand ruft zum gewaltsamen Sturz der Regierung auf, ja nicht einmal zu nicht genehmigten Protestaktionen), andererseits durch ihr Vertrauen in die „virtuellen“ Kampfmittel (Postings, Videos, Likes, Aktivität in den Sozialen Netzwerken). Das verbindet sie mit den Dissidenten der 1970er Jahre. Die hatten von der Sowjetmacht gefordert, sich an die von ihr erlassenen Gesetze zu halten; allerdings ist offenkundig, dass solche Forderungen derzeit gar nicht aktuell sein können, da die gegenwärtige Regierung die Gesetze nach Lust und Laune ändert.

Der zweite Teil der Gesellschaft, das sind die Machthaber, die übergeschnappt sind vor lauter Befugnissen, Reichtum und Gesetzlosigkeit. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Einzelnen und sein engstes Umfeld. Das Land ist längst von einer großen Gruppe von Personen privatisiert worden, die es als ihr Eigentum betrachtet und nicht beabsichtigt, sich von diesem „Besitz“ zu trennen. Die Regierung stützt sich auf Massen von Menschen, die unfähig sind, etwas zu erschaffen, aber „ihren“ Teil des allgemeinen Reichtums einfordern, dafür, dass sie die Gesellschaft in Schach halten. Ein vergleichbares Ausmaß sehen wir im benachbarten Belarus, in Russland könnte es allerdings noch größer werden, bedenkt man, wie viel Vermögen von dieser mächtigen Gruppe kontrolliert wird.

Ungeachtet des Spotts der Dissidenten und der Vorhersagen eines baldigen Zusammenbruchs hat die russische Machtriege im vergangenen Jahr viel erreicht: Sie hat die wesentlichen, formalen Hürden beseitigt und sich einen unbegrenzten Machterhalt gesichert, die Bürgerrechte signifikant eingeschränkt (wobei bis dato, so möchte ich Sie erinnern, eine Großzahl der kürzlich und vor längerer Zeit verabschiedeten Gesetze noch nicht einmal zur Anwendung kam), sie hat ihr Kapital in Sicherheit gebracht und musste keine Proteste der Bürger wegen der verschlechterten Wirtschaftssituation erdulden.

Das einfache Volk: vor allem damit beschäftigt, zu überleben

„Die Dissidenten“ und „die Macht“ sind zwei widerstreitende soziale Minderheiten. Die dritte Gruppe übersteigt sie in der Zahl beträchtlich – es ist das einfache Volk: Menschen, die vor allem damit beschäftigt sind, zu überleben (wir sprechen hier nicht zwangsläufig von Armut, denn das Überleben stellt in unserem Land nicht bloß für Arbeiter und Rentner eine Herausforderung dar, sondern auch für die meisten Unternehmer: Der angestrebte Lebensstandard kann unterschiedlich hoch sein, aber die Handlungstaktik ist stets dieselbe). 
Dieser Teil der Gesellschaft nimmt selten am politischen Kampf teil – das war übrigens schon immer und überall so. Mit den wenigen Ausnahmen, wenn es darum ging, sich von einer Regierung zu befreien, die dem Volk im Kern fremd war (wie in den baltischen Staaten, als sie das kommunistische Regime stürzten), oder wenn die Regierung einem schlichten und nachvollziehbaren Ziel grundlegend im Wege stand (wie der Annäherung der Ukraine an Europa). Aber wenn es weder eine von außen oktroyierte Macht noch eine attraktive, greifbare Alternative gibt, ist eine Mobilisierung dieser Gruppe äußerst unwahrscheinlich.

Zuckerbrot und Peitsche

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sich die Machthaber dieser Tatsache bewusster als die Dissidenten. Sie urteilen nach den mickrigen Teilnehmerzahlen bei den Straßenprotesten, während die Dissidenten falsche Vorstellungen entwickeln aufgrund der Klicks auf YouTube, die von einer bequemen Couch oder einem warmen Bett aus gesetzt wurden. Daher wird der Kreml die Bevölkerung wohl in einem bescheidenen Ausmaß unterstützen (er weiß, dass die Ressourcen für viele Jahre ausreichen müssen und man dem Volk einmal zugesicherte Sozialleistungen nicht wieder entziehen kann) – gleichzeitig wird er mit maximaler Härte gegen dissidentische Bestrebungen vorgehen, um sie im Keim zu ersticken. 

2021 wird in meinen Augen ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht. Und dieser wird leider nicht mit der Flucht entlarvter Staatsbeamter, einem Verbot des FSB, Amtsenthebungen der Silowiki und einer Auslieferung von Putin nach Den Haag enden, sondern mit einer kolossalen Niederlage der Dissidenten – weil die Daumenschrauben angezogen werden, ein wesentlich konservativeres Parlament zusammengesetzt, die Zensur verschärft und die Zahl der Auswanderer rapide zunehmen wird. Es fällt mir nicht leicht, diese Prognose zu machen, aber ich sehe keinen Anlass für eine andere. Durch die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ist fast ausgeschlossen, dass die Eliten zurückrudern oder es zu einer internen Spaltung kommt. 

2021 wird ein Jahr des erbitterten Kampfes zwischen den Dissidenten und der Macht

Die russische Politik steuert seit 1993 geradewegs auf 2021 zu – nun plötzlich eine Wende nach „links“ oder „rechts“ zu erwarten, ist gelinde gesagt naiv. Die Dissidenten wurden ja nicht nur aus den Machtstrukturen verdrängt, sondern in vielen Fällen auch aus dem Land. 

Offen ist die wichtige Frage, ob die russische Jugend, die in einem Zeitalter der totalen Kommerzialisierung großgeworden ist, die damit einhergehenden Wertvorstellungen auch im philosophischen und nicht nur im finanziellen Sinne teilt. Der Machtblock, seine fehlende Bereitschaft, Fehler einzugestehen, zurückzurudern und die absolute Unmöglichkeit, seine unzähligen Regionalfürsten in eine moderne Gesellschaft zu integrieren – das alles deutet auf einen Krieg hin, bei dem es nicht ums Leben, sondern um den Tod geht. 

Unter diesen Umständen kann 2021 ein Jahr werden, in dem die Machthaber – nachdem die Gesellschaft die pandemische Erstarrung überwunden hat – über die Unzufriedenen das ganze in den letzten Jahren akkumulierte Arsenal an Maßnahmen schütten. Das Urteil gegen Julia Galjamina, die Nötigung der FBK-Aktivisten zum Wehrdienst auf Nowaja Semlja, die Geldstrafen und tagelangen Haftstrafen wirken dagegen geradezu niedlich. Zum Einsatz kommen dann das Gesetz gegen ausländische Agenten, Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Haftstrafen wegen Verleumdung und Beleidigung staatlicher Amtsträger und vieles mehr. Bedenkt man, wie viele rechtswidrige Urteile in den letzten Jahren gesprochen wurden, ohne dass eine Welle des öffentlichen Protests folgte, wird schnell klar, wie einfach es für die Regierung sein wird, den Druck auf die Dissidenten zu erhöhen.

Keine Revolutionen

Große Veränderungen fanden in Russland im 20. Jahrhundert nur in zwei Situationen statt. 

Einmal begannen sie, als innerhalb der Machtelite ein Bewusstsein dafür entstanden war, dass Veränderungen notwendig waren, woraufhin sich eine legale Opposition herausbildete. Zur Februarrevolution von 1917 war es gekommen nach den ersten Duma-Wahlen, nach Einführung der Pressefreiheit und der Bildung verschiedener politischer Parteien. Zum Sommer von 1991 führte die Verkündung von Perestroika und Glasnost, die Durchführung demokratischer Wahlen 1989 und die Entstehung verschiedener „Plattformen“ innerhalb der KPdSU. Es lief stets unterschiedlich ab – doch die großen politischen Veränderungen waren stets „Revolutionen von oben“ und nichts anderes. Heute lässt sich „oben“ nichts Vergleichbares beobachten, im Gegenteil: Menschen, die einmal an die Macht gekommen sind, rücken trotz ziemlich unterschiedlicher Ansichten immer näher um den Herrscher zusammen.

Außerdem gibt es die bekannte bolschewistische Praxis des „Widerstandsrechts“, doch diese ist heute aus zweierlei Gründen nicht anwendbar: Zum einen war die zweite Revolution von 1917 die Fortführung der „Wirren“ von 1905 bis 1907, und in der jüngsten Geschichte Russlands ist nichts Vergleichbares zu beobachten. Zum anderen – und das ist sogar wichtiger – hat sich beim Volk im Laufe des letzten Jahrhunderts eine Ablehnung von Massengewalt herausgebildet, deswegen ist es sinnlos, die Mittelschicht in den Großstädten auf die Barrikaden zu rufen. 
Außerdem muss uns sehr bewusst sein, dass die Menschen heute über ein nie dagewesenes Ausmaß an Freiheit jenseits der Politik verfügen (man kann den Fernseher ausschalten, sich nur noch mit Gleichgesinnten treffen, Geld verdienen und notfalls sogar das Land verlassen), deswegen wird der politische Druck nicht als wesentlich empfunden und zieht keine Massenproteste nach sich. 

Leere Portemonnaies trennen die Leute

Relevant ist auch die spezifische Wirtschaftssituation. Manchmal stoße ich in Zeitungen oder Blogs auf die These, die wirtschaftlichen Probleme würden das Fass zum Überlaufen bringen (dort wird dann an die leeren Regale in der Sowjetzeit erinnert, die den endgültigen Zusammenbruch des Systems herbeigeführt haben, und man glaubt, heute würde die Armut dasselbe bewirken). Das ist illusorisch. Sowohl Anfang 1917 als auch Ende der 1990er waren die Geschäfte leer – und das war ein Beweis für den Bankrott des Systems. Doch 2020 bersten die Geschäfte vor Waren, und die Unfähigkeit, diese zu erwerben, beweist nichts als die Zahlungsunfähigkeit des Einzelnen. Leere Geschäfte verbinden die Menschen untereinander, leere Portemonnaies trennen sie. Aus genau diesem Grund gab es die letzten Proteste mit linken Losungen im postsowjetischen Raum in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. 

Keine Chance, die herrschende Clique loszuwerden

Ich kann verstehen, wenn meine Position viele aufrichtige und mutige Menschen ärgert, die nicht schweigen, sondern für die Freiheit der Russen kämpfen, dafür, dass sich Russland in eine demokratische, europäische Richtung entwickelt. 
Ich kann verstehen, dass sie in jedem diskreditierenden Fehltritt der Regierung, in jeder Entlarvung Putins, in jedem Sanktionspaket gegen seine Mittäter die Funken für Veränderungen sehen wollen. 
Und doch bleibe ich bei meinem Standpunkt, den ich vor fünf, und auch schon vor zehn Jahren hatte, nämlich, dass es keinerlei Chancen gibt, die herrschende Clique loszuwerden – weder 2021 noch in den darauffolgenden Jahren. 
Was immer wir hinter bestimmten Ereignissen zu sehen glaubten, die letzten zwanzig Jahre standen unmissverständlich im Zeichen eines Abrutschens in den Autoritarismus. Das Licht am Ende des Tunnels, das kurz in der Bloßstellung Putins durch Nawalny aufleuchtete, kann auch die Sonne von Austerlitz gewesen sein, die nach einem weiteren Sieg des kleinwüchsigen Diktators bald wieder über dem Schlachtfeld erstrahlt. 

Vor sechs Jahren schrieb ich, dass die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Probleme das Regime nicht zerstören werden, dass dieses erst abgelöst wird, wenn es für die Mächtigen nicht mehr profitabel genug ist, Russland zu beherrschen. Leider ist unser Land immer noch zu reich, um dies in naher Zukunft zu erwarten …

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Im Dezember 1993 trat die russische Verfassung in Kraft. Heute hält fast ein Drittel der russischen Bürger sie für unbedeutend, 27 Prozent sind der Ansicht, dass sie grundlegende Freiheitsrechte garantiert. Warum die Verfassung demgegenüber aber doch nicht ganz funktionslos ist, das erklärt Caroline von Gall.

 

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Wlast

Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiertLeviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

„Das Volk bleibt stumm“

Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

Historismus und Historiosophie

Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

„Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

Allgegenwärtig und unsichtbar

Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


1.vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva
2.vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123
3.vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50)
4.vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137
5.Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25
6.vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22
7.vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7
8.Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“,  S. 6-22, hier S. 8
9.Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f.
10.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69
11.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f.
12.zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31
13.zit. nach: stoletie.ru:  „Cerkov’ vsegda byla s narodom“
14.vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica
15.Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii
16.YouTube: V. Putin o russkoj duše
17.vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit
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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

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