„Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird?“ Mit diesen Worten hat sich Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch am gestrigen Mittwoch an die russische Intelligenzija gewandt. In einem offenen Brief, veröffentlicht auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums, hatte Alexijewitsch darauf hingewiesen, dass sie das letzte Mitglied des von Tichanowskaja einberufenen Koordinationsrats ist, das nicht im Gefängnis sitzt oder zur Ausreise gedrängt wurde. Maria Kolesnikowa, die an der belarussisch-ukrainischen Grenze ihren Pass zerrissen hatte, um nicht unfreiwillig des Landes verwiesen zu werden, sitzt inzwischen in einem Minsker Untersuchungsgefängnis: Die Ermittler werfen ihr „versuchte Machtübernahme“ vor.
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, deren Werk ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt ist, antwortet Alexijewitsch in The New Times:
Liebe Swetlana!
Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell.
Es hat sich gezeigt, dass ein ruhiges und, wie uns immer schien, recht träges Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert. Es hat auf eine äußerst würdige Art und Weise seine Meinung kundgetan bei Demonstrationen von zigtausend Menschen auf dem Platz vor der Präsidentenresidenz. Friedlichen Demonstrationen, ohne zerschlagene Scheiben und brennende Autos.
Diesem Protest liegt, wie mir scheint, ein Gefühl der eigenen Würde zugrunde, von Menschen, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem Regime eines vor unbegrenzter Macht Durchgedrehten – eines beschränkten und ungebildeten Mannes.
Keine einzige Minute meines Lebens mochte ich Macht. Nicht die von Stalin, nicht die nach Stalin, nicht den Reigen der nachfolgenden Führer, nicht die postsowjetischen Regierungen, nicht die putinsche.
Doch die Erfahrung als sowjetischer Mensch, der den Großteil seines Lebens unter den Paukenschlägen schamloser Propaganda gelebt hat, machte mich umfassend immun. Schon oft habe ich gesagt: Ja, wir leben heute in goldenen Zeiten, wenn man unser Leben mit dem Leben unserer Eltern und Großeltern vergleicht. Der Eiserne Vorhang ist kollabiert, die Grenzen sind offen, Informationen aus aller Welt, die in sowjetischer Zeit immer unter Verschluss blieben, strömen nur so zu uns, und jeder, der sie bekommen will, schaltet einfach seinen Computer an. Verhaftungen sind akkurat und punktuell, ohne stalinsche Wucht.
Die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört: Es ist klar geworden, wie das Regime die Zähne zeigt, wenn es sich in seiner unbegrenzten und unrechtmäßigen Existenz bedroht fühlt.
So erstaunlich es auch sein mag: Die belarussischen Bürger reagieren sensibler auf die Unmoral und die Schamlosigkeit des Regimes. Die eigene Würde überwiegt nun Trägheit, Angst und eben jenes soziale Faulenzen, das das Leben in weiten Teilen des gesamten postsowjetischen Raums prägt.
Wir alle – ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt – verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren. Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann.
Ich sende dir herzliche Grüße, wünsche Gesundheit und Kraft, wünsche dir, dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.
Ich umarme dich,
Ljusja Ulitzkaja