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Cancel Russia aus dem Kreml

Die russische Sängerin Monetochka und der Rapper Noize MC sind für den Friedensnobelpreis 2025 nominiert. Eine Gruppe norwegischer Professoren hat die Kandidaturen im Dezember 2024 eingebracht: Mit ihren Stimmen, so die Begründung, würden die beiden Musiker eine Generation vertreten, die für humanistische Werte einstehe.  

Monetochka und Noize sind zwei von hunderten (wenn nicht tausenden) russischsprachigen Musikern, die Russland wegen dessen Krieges gegen die Ukraine den Rücken gekehrt haben. Heute leben sie überall in der Welt verstreut, nehmen neue Songs auf, gehen auf Tour und sammeln Spenden für die Ukraine. Ihr künstlerischer Protest gegen Putins Russland bildet eine neue Gegenkultur, die hunderttausende Exilierte vereint. Ihre Kreativität verschafft ihnen darüber hinaus auch Resonanz bei den Nicht-Russischsprachigen. 

Was hat der Kreml mit Konzertverboten, Stigmatisierung als „Agenten“ und Massenexodus der Kreativen verloren? Was und wer bildet heute die russische Musikkultur? Und wie kann ihre Zukunft aussehen? In einem Parforceritt durch die neuere Musikgeschichte Russlands geht der Journalist Pawel Kanygin diesen Fragen für Prodolshenije Sledujet nach.   

Источник Prodolshenije Sledujet

Erinnern Sie sich an Namen wie Ivan Urgant und Ivan Dorn? Bis vor Kurzem wurden diese noch ständig im Fernsehen gezeigt. Jetzt werden Sie in Russland keinen dieser Ivans mehr zu sehen bekommen. Einer entpuppte sich als Ukrainer, der andere sympathisiert mit der Ukraine. So einfach ist das. 

Der Gedanke mutet heute seltsam an, aber bis vor Kurzem war die russische Musikindustrie wirklich offen, sowohl gegenüber ihren „Nachbarn“ als auch gegenüber „Einflüssen aus dem Ausland“, wie die heutigen Abgeordneten sagen würden. Und erstaunlicherweise hat ihr diese Offenheit absolut nicht geschadet. Im Gegenteil: Bevor der Krieg begann, war in Russland eine moderne, wettbewerbsfähige Musikkultur herangereift. Man interessierte sich im Ausland für unsere Musik, nahm sie zum Vorbild, lernte von uns! 

Mit dem Verlust der Musik hat Russland auch an Soft Power verloren. Musiker haben über alle Grenzen hinweg einen gemeinsamen kulturellen Raum geschaffen, der Russland mit seinen Nachbarn verband – bis der Staat kam und alles zerstörte. 

 
IC3PEAK: Alles soll brennen  

Vom Stillstand zur Moderne 

In den vergangenen gut dreißig Jahren hat sich die russische Musikszene mehrfach komplett neuformiert. Auch wenn die sowjetische Musik westliche Trends aufnahm, geschah dies nur äußerst langsam. Während in den 1960er und 1970er Jahren auf der ganzen Welt die Rockmusik ihren Höhepunkt erreichte, erlangte der Rock in der Sowjetunion erst Ende der 1970er Jahre allgemeine Anerkennung, und zu Stars wurden seine Vertreter überhaupt erst nach Beginn der Perestroika. Bis dahin war der Rock unter sowjetischen Behörden nicht wohlgelitten, die Musiker verdienten ihr täglich Brot in Fabriken, und der legendäre Viktor Zoi verdingte sich als Heizer. 

Das hatte zur Folge, dass die Musikindustrie nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs den Westen aktiv einzuholen versuchte – was ihr bis etwa Mitte der 2010er Jahre tatsächlich gelang: Vergleicht man die einzelnen Genres, so hatte sich die russische Musik dem Westen bis zu diesem Zeitpunkt maximal angenähert

Zum wichtigsten Genre entwickelte sich der Rap. Vergleicht man den russischen und den amerikanischen Rap der Nullerjahre, so könnte man meinen, es handele sich nicht nur um unterschiedliche Genres, sondern um zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Zwischen Mnogotochie und Jay-Z bestehen nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Vergleicht man jedoch den russischen und den amerikanischen Rap Ende der 2010er Jahre, lassen sich kaum noch Unterschiede feststellen. In Russland wurde alles übernommen: nicht nur der Stil, sondern auch etwa die Form der Battles. Dabei erwiesen sich die Nachahmer als äußerst talentiert und brachten ihren ganz eigenen Sound ein. Zu den größten Stars des russischen Rap gehörten Noize, Oxxxymiron, Kasta und natürlich das elektronische Hip-Hop Duo AIGEL. 

 

Über 130 Millionen Aufrufe für Tatarin von  AIGEL

Die gleiche Entwicklung lässt sich bei dem russischen Rock beobachten. In den Nullerjahren war es üblich, die russische mit der westlichen Rockszene zu vergleichen und die kleinen Unterschiede hervorzuheben: Viele behaupteten zum Beispiel - und behaupten bis heute -, der russische Rock sei lyrischer und textbasierter.  

Doch schon Mitte der 2010er Jahre änderte sich die Situation grundlegend. Seit Radiosender und Fernsehen an Bedeutung verloren und es immer mehr Möglichkeiten gab, Musik über das Internet zu verbreiten, veränderte sich die russischsprachige Rockmusik. In Russland entwickelte sich eine einflussreiche und vielfältige Post-Punk-Szene. Im englischen Sprachraum lassen sich leicht Diskussionen finden, in denen Bands wie Molchat Doma oder Buerak besprochen werden. Plötzlich stellte sich heraus, dass russischsprachiger Rock nicht zwangsweise Kino, Grebenschtschikow oder DDT war. Der moderne Rock klang anders und sprach nicht nur russischsprachige Hörer an.  

 

Die belarussische Band Molchat Doma ist nach der Protestwelle 2020 in die USA emigriert 

Ebenso veränderte sich auch die Popmusik. Aus heutiger Sicht muten die Hits der Nullerjahre seltsam an. Man mag es kaum glauben, dass die Menschen sich damals mit Genuss Lieder wie „Schokoladny sajaz“ [dt. Der Schokoladenhase] anhörten. Aber mit der Zeit klang die Popmusik immer besser. Das lag vor allem an der Entstehung neuer Kanäle für den Musikvertrieb sowie an der schwindenden Rolle der Produzenten. Mit dem Aufkommen von Online-Plattformen in den 2010er Jahren und dem zunehmenden Einfluss sozialer Netzwerke wurden diese immer unwichtiger. Nun mussten Musiker nicht mehr um ihre Gunst werben, um im Radio oder einem der Musiksender im Fernsehen gespielt zu werdenю Sie konnten ihre Hörer selbst im Internet finden.  

Streben hin zum russischen Markt

Die moderne russische Musikszene – also die vor dem Krieg – setzte sich aus vielen einzelnen Teilen zusammen. Es gab immer noch Künstler, die sich in der Sowjetunion einen Namen gemacht hatten. Es gab diejenigen, die man erst in den 1990er Jahren wahrgenommen hatte. Die Projekte der Musikproduzenten aus den Nullerjahren wirkten fort. Und natürlich erschienen neue Interpreten im Internet, die anfänglich niemand ernst nahm. 

Die russische Musikindustrie nahm nicht nur Einflüsse aus dem Westen auf, eine große Rolle spielten auch die direkten Nachbarn. Russland als größtes Land der zerfallenen Sowjetunion bot einen riesigen Markt für Musiker. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Künstler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken auf Russisch sangen. So wurde die russische Musikindustrie zu einem großen Schmelztiegel.  

Einige Künstler waren so feste Bestandteile des russischen Marktes, dass den Hörern womöglich gar nicht klar war, dass sie aus einem anderen Land stammten – beispielsweise der Rapper T-Fest aus der Ukraine, die Bands NEMIGA, LSP sowie die Sängerin Palina aus Belarus, Kaspiski grus aus Aserbaidschan. In den Hitparaden waren immer wieder Titel ukrainischer Interpreten zu hören – von Verka Serdyuchka und Vera Breshneva bis hin zu Ivan Dorn, Max Barskich, der Band Griby und der Band Poshlaya Molly, die in Russland wahrscheinlich von allen die meisten Nachahmer hat. 

 

Poshlaya Molly – Mishka  

Auch die Labels achteten nicht darauf, woher die Künstler kamen. So wurde der Belarusse Max Korzh über das russische Lable Kasty berühmt und der kasachische Rapper Skryptonite über Gazgolder. Für die Musiker war die russische Sprache der Schlüssel zu einem großen Markt, und das nutzten sie. Für Russland bedeutete das eine gewaltige Soft Power. Doch hat unser Land es nie gelernt, diese zu seinem Vorteil zu nutzen. Gewalt scheint unserer Staatsmacht immer noch der schnellere und einfachere Weg zu sein. 

Staat vs. Business

In den Nullerjahren kümmerte sich die Politik kaum um die Musik, doch in den 2010er Jahren gerieten die Musikschaffenden in den Fokus der Staatsgewalt. Sowohl Abgeordnete als auch dafür bezahlte Personen des öffentlichen Lebens setzten sich wiederholt für ein Verbot von Liedern und Künstlern ein, zahlreiche Konzerte wurden gesprengt.  

Erinnern wir uns an die Skandale im Zuge des Eurovision Song Contests, als die Abgeordneten der Staatsduma ernsthaft darüber diskutierten, wer uns vertreten dürfe: 2020 wurde bekannt gegeben, dass die Gruppe Little Big für Russland antreten würde. Die Band veröffentlichte damals den Videoclip Uno und wenige Monate später S*ck My D*ck 2020. Natürlich konnte der Freak-Abgeordnete Witali Milonow das nicht unkommentiert lassen: „Das ist absolut abscheuliche Musik für Perverse“, erklärte er und fügte hinzu, dass der Clip nichts mit Kunst und Ironie zu tun habe und nur „absolute Scheusale“ ansprechen könne. 

Als 2021 die in Tadschikistan geborene Manizha für Russland zum Wettbewerb fuhr, rief die Abgeordnete Jelena Drapeko dazu auf, den Auftritt der Sängerin unter russischer Flagge zu verhindern. Komischerweise forderte sie auch, nicht Manizha zum Wettbewerb zu schicken, sondern Little Big. Milonow war also dagegen, Drapeko dafür, und niemand wird jemals die Logik hinter ihren Positionen verstehen. 

 

Gemessen in YouTube-Aufrufen, ist Skibidi wohl der größte musikalische Kulturexport der jüngsten russischen Geschichte.  

Der Krieg setzte all diesen Streitigkeiten ein Ende. Der Frontmann der Band Little Big, Ilja Prusikin, verurteilte die russische Aggression. Wenige Monate nach Beginn des Krieges reiste die Band in die USA aus, und weitere sechs Monate später wurde ihr Frontmann zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Auch Manizha tritt nicht mehr in Russland auf. Ebenso wie viele ukrainische Künstler natürlich. 

 

Manizha tritt in Russland nicht mehr auf, 2024 hat sie jedoch in Moskau einen Antikriegs-Clip aufgenommen. 

Was ist nun aus der russischen Musikindustrie geworden? Monetochka singt über die Emigration. Pornofilmy touren mit Liedern über das Putin-Regime um die Welt. Auf der anderen Seite schreien Musiker, die ehemals über Mephedron sangen, nun „Russland, Russland“ bei ihren Konzerten und versuchen zugleich, nicht die Aufmerksamkeit von Jekaterina Misulina auf sich zu ziehen.  

 

Monetochka: Das war in Russland, also ist es lange her.  

Staatlich verordnete Kultur 

Und hier stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass der Staat nicht selbst begreift, dass sich die Interessen des Landes gerade über die Kultur auf internationaler Ebene viel effektiver vorantreiben lassen als mit Hilfe von Waffengewalt? Ich denke, die Machthaber begreifen das sehr wohl, nur tun sie dies auf ihre ganz eigene Weise: 

Auf der ganzen Welt wurden unter der Ägide von Rossotrudnitschestwo sogenannte „russische Häuser“ eröffnet. Ihre Aufgabe besteht eben darin, die russische Kultur zu verbeiten. Aber was verstehen ihre Führungskräfte unter russischer Kultur? Ein paar dutzend Schriftsteller, ein Dutzend Komponisten und exakt zwei Regisseure, das war’s. Die russischen Häuser verfügen über einen Telegram-Kanal, der dies sehr deutlich veranschaulicht: Die Ukraine wurde [Stand: 01.10.2024] in 252 Beiträgen erwähnt, Puschkin in 234, Putin in 220. Michail Bulgakow und Joseph Brodsky dagegen jeweils nur sechsmal, und Nabokow wird überhaupt nicht erwähnt.  

Aber die russische Kultur wird vom Westen gecancelt, nicht dass Sie durcheinanderkommen! 

Der russische Staat behandelt die Kultur wie eine heilige Kuh und glaubt aus irgendeinem Grund, sie permanent retten zu müssen. Lew Tolstoi ist in der Vorstellung der Staatsbeamten und Propagandisten anscheinend so unbedeutend, dass er einfach verschwände, würde Margarita Simonjan ihn nicht verteidigen. Und wenn wir nicht unablässig über Pjotr Tschaikowski reden, werden seine Werke nirgends mehr aufgeführt werden. Dabei sind es die USA, in denen am Unabhängigkeitstag die Ouvertüre „1812“ erklingt. Kann sich irgendjemand erinnern, wann dieses Werk in Russland zum letzten Mal bei einer großen öffentlichen Veranstaltung zu hören war? Unsere Hymne ist die sowjetische und das Einzige, was bei offiziellen wie inoffiziellen Veranstaltungen gespielt wird, vielleicht noch gefolgt von einem Lied von Schaman. Und das sollen wir dann also als russische Musikkultur betrachten? 

Banale Geschmacklosigkeit  

Während unsere, und nicht nur unsere, Musiker, ohne es zu wollen, gezeigt haben, dass Russland über eine lebendige, moderne Musikkultur verfügt, die in der Welt wahrgenommen wird, gaben sich unsere Beamten alle Mühe, sich selbst und alle um sie herum zu konservieren. Dabei geht es nicht nur um den fanatischen Hang zur antiwestlichen Rhetorik, eine große Rolle spielt wahrscheinlich ganz banale Geschmacklosigkeit. Hören Sie sich einmal das Ende des Stücks Spolna an, das von Katya Lel gesungen wird. Wissen Sie, wer es geschrieben hat? Die Pressesprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa. Damit ist klar, dass solche Menschen Schaman aufrichtig für einen außergewöhnlichen Komponisten halten können. 

 

„Mit einer Tüte überm Kopf / und Elektroden am Arm / sitzt mein Russland im Knast / aber glaub mir: Das geht vorbei!“ Eto proidjot (dt. Es geht vorbei) ist eine der vielen russischen Protesthymnen. 

Doch was ist mit der echten russischen Musik? Wird sie wirklich in diesem Sumpf untergehen? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir ein banaler Gedanke in den Sinn: Die Wendepunkte in der russischen Geschichte gingen immer mit einem gewaltigen Aufschwung der Kultur, insbesondere der Protestkultur einher. So fiel das silberne Zeitalter der russischen Poesie mit dem Untergang des Russischen Reichs und der Gründung der Sowjetunion zusammen. Der Russische Rock lieferte den Soundtrack zur Perestroika und zum Zerfall der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass ich unserem Land eine neue schwere Prüfung prophezeien möchte, aber diese ganze herangereifte coole Musikkultur der Kriegsära lässt sich da ohne Umstände einreihen. 

 
Schwanensee ist heute ein Code für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero“ 

Die Stimme unserer Musiker ist lauter als die der Politiker. Keine Propaganda wird sie übertönen – und das ist vielleicht der Grund, warum die Herrschenden solche Angst vor ihnen haben. Vielleicht haben sich die russischen Staatsbeamten deshalb die ganze Zeit über so vehement gegen die Soft Power der russischen Musikkultur gewehrt, weil diese weder lenk- noch kontrollierbar ist. Sie lässt sich nicht dazu benutzen, eine „Russische Welt“ zu konstruieren, sie baut und gestaltet ihre eigene unvorhersehbare, aber kluge und menschliche Welt. Eine, in der sich Menschen wie Putin, Sacharowa und Misulina sehr unwohl fühlen werden. 

Es wird sich zeigen, wer letztlich stärker ist. Das aktuelle Konstrukt „Putins Russland“ oder die niemals vollständig erklärbare Urgewalt der Musik. 

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Schwanensee – Ballett, Requiem und Protestsong

Für Menschen, die in Russland aufgewachsen sind, ist der Schwanensee mehr als ein Ballett von Pjotr Tschaikowski, in dem zierliche Ballerinas in weißen Tutus tanzen. Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Begleitmusik zum Untergang der Sowjetunion selbst. Mahnung an das Regime und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt.

„Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt“ / Illustration aus einer der letzten Ausgabe der Novaya Gazeta vom 9. März 2022 © Petr Saruchanow / Novaya Gazeta

Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne. Es geht um eine verzauberte Schwanenprinzessin, die nur durch Liebe erlöst werden kann. Das von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach Märchenmotiven komponierte und 1877 uraufgeführte Ballett war Symbol der sowjetischen Hochkultur und prestigeträchtiger Kulturexport des Kalten Krieges.

Das Politbüro mit seiner alternden, aber starken Hand beanspruchte dieses Ballett als authentisches nationales Erbe und Schaufenster für seine Leistungen. Die weltberühmte Ballerina Maja Plissezkaja tanzte die Rolle der Odette über 800 Mal. In ihrer Autobiografie erinnert sie sich an das Ritual, als ausländische Delegationen mit Schwanensee verwöhnt wurden. Sie kolportiert auch die Anekdote, dass Nikita Chruschtschow sich das Stück so oft ansehen musste, bis ihm übel wurde:

„Wenn ich daran denke, dass ich heute Abend wieder Schwanensee sehen werde, wird mir schon übel. Das Ballett ist wunderbar, aber wie oft kann man es sich anschauen? Nachts träume ich dann von weißen Tutus abwechselnd mit Panzern.“

Die sowjetische Führungsriege musste das Stück nicht nur unzählige Male über sich ergehen lassen, es verfolgte sie bis in den Tod: Beim Ableben Leonid Breschnews 1982 erblickten die Fernsehzuschauer statt des erwarteten Konzerts den Schwanensee. Berichten zufolge soll bei dieser Wahl durch die Fernsehleute die Entstehungsgeschichte des Stücks eine Rolle gespielt haben: Tschaikowski schrieb es in der sogenannten Fomin-Woche fertig, der Woche der Erneuerung nach der Auferstehung Christi, in die auch der Gedenktag an die Verstorbenen (Allerseelen, Radoniza), fällt. Schwanensee ist durchdrungen vom Thema des Todes und schien sich als Symbol öffentlicher, die Nation einender Trauer besonders zu eignen. Auch nach dem Tod von Juri Andropow 1984 und Konstantin Tschernenko 1985 (sie starben alle im Amt) wurde das reguläre Programm jeweils unterbrochen und so lange Schwanensee gezeigt, bis ein Nachfolger gekürt war. So verwandelte sich das Ballett „von der offiziellen Visitenkarte des Bolschoi-Theaters und des sowjetischen Imperiums in eine Trauerveranstaltung mit 32 Fouettés“.1

Auch während des Staatsstreichs gegen Michail Gorbatschow im August 1991 lief Schwanensee im Fernsehen in Endlosschleife. Dieser bedeutungsvolle Code kündete von Unheil und veranlasste die Menschen dazu, auf die Straße zu gehen, um zu erfahren, was los war. Während also die Schwänchen zu Tschaikowskis Melodien tanzten, versammelte sich eine große Menge von Demonstranten vor dem Moskauer Parlamentsgebäude und verhinderte den Putsch der Altkommunisten, nicht aber das Ende der Sowjetunion.

Das Stück ist zugleich eine Ikone des sowjetischen und russischen Traditionalismus. Einerseits vermittelt das Ballett altmodische Virtuosität und Ordnung, andererseits erzeugt es ein Gefühl des Verlusts der sowjetischen Monumentalität und bietet sich als nostalgischer Erinnerungsort an. In Russland wurde der Untergang der Sowjetunion als befreiend, aber auch als beängstigend erlebt.

Vor allem der Tanz der Schwänchen im zweiten Akt wurde zum Kitsch, zu einer abgenutzten Tanzshow, die sowohl im Zeichentrick-Klassiker Nu, Pogodi! (dt. Hase und Wolf) als auch in Comedy Club aufgeführt wird, in Kindergärten und von verkleideten Herren auf Firmenveranstaltungen, von denen später Videos im Internet landen. Und genau das wurde mittlerweile zum Vehikel ironisch unterfütterten Protests. Seit es das Putin-Regime mit der versprochenen Stabilität und Sicherheit zu übertreiben begann und zunehmend repressiv wurde, seit Russland die Ukraine überfiel und öffentliche Kritik harte Strafen nach sich zieht, hat Schwanensee erneut Konjunktur. Aus Kitsch wurde Kult (Susan Sonntag prägte dafür den Begriff camp), und aus Kult ein neues politisches Symbol. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa machte in seinem Dokumentarfilm The Event (Sobytije, Belgien 2015) Tschaikowskis Melodie zum Soundtrack der sowjetischen Agonie. Und nun heißt es wieder: Lasst die Schwäne tanzen!

Anlässlich von Putins Wiederwahl 2018 tauchte in Sankt Petersburg ein Graffiti der vier Ballerinas auf, die den Tanz der Schwänchen tanzen. Es wurde von der Künstlergruppe Yav auch auf Instagram verbreitet.2 Als der liberale Fernsehsender Doshd im März 2022 seinen Programm vorübergehend einstellen musste, spielte der Kanal zum Abgang dieselbe sowjetische Aufnahme von Schwanensee, die den Untergang der Sowjetunion einläutete. Im September 2023 veröffentlichte Yav auf Youtube ein Video, in dem ein arrivierter Geschäftsmann (der aussieht wie Jelzin in besseren Zeiten) vor dem Fernseher sitzt und plötzlich mit Schwanensee auf allen Kanälen konfrontiert wird. Die Ballerinen verfolgen ihn bis ins Badezimmer, wohin er sich flüchtet, unausweichlich gerät er selbst in den Tanz der Schwänchen.

 
Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne / Video: Art Gruppa Yav „Tanec“

Das Ende ist nah, lautet die Botschaft, während Kommentare unter dem Video sagen: „Wir warten schon unendliche 20 Jahre auf das Ballett!“ Dazu passt der Refrain eines weiteren Videos mit dem Titel „Schwanensee“, das der Rapper Noize MC Anfang 2023 veröffentlichte:

Wo seid ihr gewesen acht Jahre lang, ihr verdammten Unmenschen
Ich will das Ballett sehen, lass die Schwäne tanzen
Ich will sehen, wie der Alte um seinen „See“ zittert
Verpiss dich vom Bildschirm, Solowjow, lass die Schwäne tanzen“.

 
Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero

Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz. Schwanensee ist der Erinnerungsort aller, die den Augustputsch 1991 miterlebt haben, der das Ende der Sowjetunion einläutete. Die dritte, aktualisierte Bedeutung macht das Stück und seine Teile (Bilder, Melodien) zum popkulturellen Code gegen das Putin-Regime. Es verweist ironisch auf die Kontinuitäten von Machtstrukturen, auf Parallelen zwischen dem sowjetischen Regime und dem Putinismus. Und es droht diesem mit dem baldigen Ende, mit dem Sieg des Guten über das Böse: Es ist Zeit, die Schwänchen tanzen zu lassen!


Literatur: 

Ezrahi, Christina (2012): Swans of the Kremlin. Ballet and Power in Soviet Russia, Pittsburg.
Pliseckaja, Мaja (2008): Ja, Majja Pliseckaja…, Moskau.
Sontag, Susan (1964), On Camp, in:  Against Interpretation. New York 1964, S. 275–292.


1.novayagazeta.ru: Pora uže tancevat’ Čajkovskogo
2.themoscowtimes.com: 'Swan Lake' Ballet Graffiti Greets Putin's Inauguration in St. Petersburg
 
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Augustputsch 1991

Die Putschisten wollten die Sowjetunion vor dem Zerfall bewahren – und beschleunigten im August 1991 nur ihr Ende. Vor 31 Jahren wurde ein Grundstein für das neue Russland gelegt. Ewgeniy Kasakow zeichnet die Ereignisse nach.

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