Mit einer analogen Kamera ausgerüstet, kehrt der 25-jährige Michail Kalaraschan aus Chisinau nach Transnistrien zurück. Er möchte die Fetzen seiner Kindheitserinnerungen zu einem Ganzen zusammenfügen und verstehen, wie die Menschen in dem De-facto-Staat, in dem er aufgewachsen ist, heute leben.
Jugendliche im Dorf Raschkowo versuchen illegal den Dnister zu überqueren, um ins moldauische Nachbardorf Wadul-Raschkow zu gelangen / Foto © Michail Kalaraschan
Als meine Eltern beschlossen, mich zu zeugen, dachten sie nicht, dass die Welt, in der sie bisher gelebt hatten, für immer zusammenbrechen würde. Und dass das große Land, das der Welt als Sowjetunion bekannt war, aufhören würde zu existieren – nicht nur auf dem Papier, das in der Belowesher Heide von den hohen Herrschaften unterzeichnet wurde, sondern auch in Wirklichkeit.
Der ehemalige Fahrer des Direktors des Moldauischen Metallwerks nimmt mich per Anhalter in meine Heimatstadt Rybniza mit, die im Norden Transnistriens liegt / Foto © Michail Kalaraschan
Moldauische Kampfjets, die über die Köpfe hinwegflogen, und Aufrufe, die Fenster mit Decken zu verhängen, damit die Scheiben bei den Explosionen nicht zersprangen, gaben noch nicht deutlich genug zu verstehen, dass die gewohnte Welt nie mehr wiederkommen würde. Das Verständnis dafür kam erst wesentlich später, als die Moderatoren auf den Fernsehbildschirmen im Ersten Kanal anfingen, von den Moldauern als „Arbeitsmigranten aus dem Nahen Ausland“ zu sprechen.
Der russische Name Pridnestrowje (dt. Transnistrien) bedeutet in etwa „Land am Dnestr“: das ist die russische Namensform des Flusses Dnister. Das völkerrechtlich zur Republik Moldau gehörende Gebiet liegt östlich des Flusses Dnister, am rechten Ufer / © Wikipedia/Perconte unter CC BY-SA 2.0
Ein Jahr danach wurde ich geboren. Als ich meinen ersten Atemzug tat, war mein Land bereits in zwei Teile gespalten: das linke und das rechte Ufer. Seitdem sind die Menschen, die jahrzehntelang Seite an Seite gelebt hatten, zu Feinden geworden. Sie haben eine Mauer des Unverständnisses errichtet und voneinander getrennt versucht, in dieser neuen, sich verändernden Welt zu sich selbst zu finden.
Der Stadtteil Waltschenko in Rybniza, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Der Großteil der Menschen, die hier leben, ist in der einen oder anderen Form mit dem Moldauischen Metallwerk verbunden, das lange Zeit Alischer Usmanow gehörte / Foto © Michail Kalaraschan
Der Flusshafen von Rybniza. Zu Sowjetzeiten war er einer der größten Arbeitgeber der Stadt, jetzt ist er am Verfallen. Einheimische Fischer angeln hier gerne / Foto © Michail Kalaraschan
Transnistrien glich in vielem einem Jugendlichen, der versucht all dem zu trotzen, was die Vorfahren taten. Angefangen bei solch banalen Dingen wie Telefon, Währung, Armee und offizieller Rhetorik bis hin zum stolzen Ausruf der „Unabhängigen Republik“.
Weder 1993 noch 2017 hat es Unabhängigkeit gegeben. Im Grunde habe ich es nie wirklich verstanden: Ich bin in einer Familie geboren, wo der Vater Moldauer vom rechten Ufer ist und die Mutter Russin, aber auch vom rechten Ufer. All unsere Bekannten, Freunde, Verwandten lebten auch dort, am rechten Ufer. Noch zu Beginn der Perestroika, im Jahr 1985, beschlossen meine Eltern in eine sehr vielversprechende Industriestadt am linken Ufer zu ziehen und haben dort Wurzeln geschlagen. Auch ich musste sie dort schlagen.
Die zentrale Haltestelle für öffentliche Verkehrsmittel in Bender. Bender ist flächenmäßig die zweitgrößte Stadt Transnistriens. 1992 herrschte in dieser Stadt Krieg / Foto © Michail Kalaraschan
Kinder im Dorf Belotschi im Norden Transnistriens / Foto © Michail Kalaraschan
Als kleiner Junge in kurzen Shorts und Sandalen sprang ich jede Woche in den alten, roten Saporoshez und fuhr mit meinen Eltern zu Oma und Opa ins Dorf am rechten Ufer, weg von Fabrikrohren und Politik. Mit dem Lauf der Zeit änderte sich nicht viel. Ich wurde größer, ging zur Schule, wo eine Transnistrien-Flagge hing, und Anfang September wurde zu Schulbeginn die transnistrische Hymne gespielt.
In der ersten Klasse saß ich da, mit einem Blumenstrauß in der Hand in einem etwas zu großen Sakko, und lauschte den Worten der Lehrerin zur Gründung der „Unabhängigen Republik“. „Mamalyshnik“, „Moldawaschka“ – solche Worte benutzten meine frischgebackenen Mitschüler, wenn sie jemanden beleidigen wollten.
Ein Mann liest Zeitung im Wartesaal des Busbahnhofs von Bender. Im Jahr 2021 wird von diesem Bahnhof nichts mehr übrig sein. Er ist von einem Privatunternehmen aufgekauft worden, und der Innenraum wird komplett erneuert / Foto © Michail Kalaraschan
Transnistrien umspülte mich, wie Wasser einen Stein umspült. Wasser formt den Stein, aber dafür braucht es viel Zeit. Ich beschloss, nicht so lange zu warten und machte mich nach der Schule auf ans rechte Ufer nach Chisinau.
Fischer beim Eisfischen neben dem Wasserkraftwerk von Dubossary. Im März 1992 begann in diesem Rajon der Transnistrien-Konflikt / Foto © Michail Kalaraschan
Brücke über dem Dnister in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol. Sie verbindet Tiraspol und das Dorf Kizkany. Viele Dorfbewohner aus Kizkany verkaufen ihre Ernte auf den Märkten in Tiraspol / Foto © Michail Kalaraschan
Meine Muttersprache ist Russisch, auch wenn ich mich im Inneren als Moldauer fühle. Was bedeutet das für mich unterm Strich? In Transnistrien bin ich „der Moldauer“ und „innere Feind“. In Moldau bin ich russisch und „fremd“, trotz meiner Staatsangehörigkeit und inneren Zugehörigkeit zu dieser Nation.
Ich bin ein Fremder. Überall. Eine Heimat habe ich nicht. Es gibt nur Erinnerungsfetzen aus meiner Kindheit, die sich ganz und gar nicht mit der objektiven Realität jener Zeit decken. Mit diesem Gefühl lebe ich bis heute.
Eine Frau isst zu Mittag in der Stolowka SSSR. Die Kantine lockt Touristen mit ihrem Interieur an: Überall sind sowjetische Artefakte. Für Einheimische hingegen ist diese Kantine ein Ort, an dem man günstig Mittag essen kann / Foto © Michail Kalaraschan
Solche wie mich bezeichnen die Dozenten meiner Universität, an der ich Vorlesung um Vorlesung drei Jahre lang studiert und meinen Master dennoch nicht gemacht habe, als „Personen mit diffuser Ethnoidentität“.
Wie dem auch sei, der Mensch ist ein neugieriges Wesen. Und so bin auch ich als Mensch neugierig – vor allem bei Fragen wie: Wer bin ich, woher komme ich, und warum ich?
Weizenfeld in der Nähe des Dorfes Jekaterinowka im Norden Transnistriens im Kamenski-Rajon / Foto © Michail Kalaraschan
Männer auf Pferdekarren, nahe des Dorfes Tschobrutschi im Slobodsejski-Rajon, im Süden Transnistriens / Foto © Michail Kalaraschan
Der Stadtstrand von Tiraspol / Foto © Michail Kalaraschan
Erfahrene Reisende sagen vielleicht, dass man sich selbst am besten versteht, wenn man in eine fremde Kultur eintaucht. Da wird dann sofort ein Marker von eigen und fremd aktiviert. Und so bin ich mit 23 nach Transnistrien zurückgegangen, um den Ort genauer zu erkunden, an dem ich geboren wurde und meine ersten 18 Lebensjahre verbracht habe.
Verlassene Häuser im Dorf Bututscheny im Rajon Rybniza / Foto © Michail Kalaraschan
Mit einem Dutzend 35 mm Filmen in der Hand entdecke ich meine Heimat für mich neu. Denn ab dem Moment meines ersten Atemzuges beschränkte sich meine „Heimat“ auf mein Elternhaus, die Betonstraße zur Schule, und ein Dutzend Dörfer, die ich in meinem ganzen Leben bloß aus dem Autofenster heraus auf dem Weg zu meinen Großeltern gesehen habe.
Ein Mädchen spielt in der zerstörten Synagoge des Dorfes Raschkowo. Dies ist die älteste Synagoge auf moldauischem und transnistrischem Gebiet / Foto © Michail Kalaraschan
Winteranfang in Raschkowo. Im Dorf gibt es viele verlassene Häuser, wie eigentlich in ganz Transnistrien / Foto © Michail Kalaraschan
Ich fing an, Fotos zu machen – und das sind Fotos eines Menschen, der seine Heimat zum ersten Mal erblickt. Hin und wieder verstehe ich gar nichts, gelegentlich verspüre ich Angst, aber dennoch tauche ich weiter ein und verstehe, dass das „meins“ ist und dass mich niemand gefragt hat, ob ich überhaupt will, dass es meins ist. Diese Kultur ist ein Teil von mir und nichts ist dazu fähig, sie aus den Tiefen meiner Seele zu löschen.
Alte Leute in Bender spielen Akkordeon und bitten um ein Zubrot / Foto © Michail Kalaraschan
Raschkowo im Winter / Foto © Michail Kalaraschan
Ich bin genauso alt wie Transnistrien, und wir durchleben beinahe zeitgleich dieselben psychologischen Krisen. Ich bin jetzt 25, fast 26, habe sondiert, wo mein Platz in der Welt ist. Von Transnistrien kann ich das nicht behaupten.
Alles, was ich tun kann, ist endlos viele Male Farbfilme in die Kamera einzulegen und genauso oft den Dnister zu überqueren, um die Atmosphäre dieses winzigen, von niemanden anerkannten Staates, praktisch im Herzen Europas, zu spüren. Um ihn mit den Augen eines Gleichaltrigen zu sehen.
Die Aussicht aus dem Fenster meiner Freundin in Rybniza auf den Zentralpark / Foto © Michail Kalaraschan
Fotos: Michail Kalaraschan
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Anastasia Braun
Original: Republic
Veröffentlicht am 29.07.2021