Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, blieb in der Fassade des Weißen Hauses ein großes, schwarzes Loch. Die Panzergranaten waren in der 14. Etage auf Geheiß des Präsidenten Boris Jelzin eingeschlagen, um den Widerstand des Parlaments zu brechen. Es war dasselbe Weiße Haus, vor dem Boris Jelzin zwei Jahre zuvor, während des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow, noch auf einen Panzerwagen gestiegen war und zur Verteidigung der Errungenschaften der Perestroika aufgerufen hatte; dasselbe Haus, in dem sich die Befürworter der Perestroika 1991 verschanzt hatten und dabei von tausenden Moskauern schützend umringt worden waren.
In der politischen Ikonografie Russlands ist das Weiße Haus damit ein höchst widersprüchliches Symbol: Es steht für die letzte Phase der sowjetischen Macht und für den Aufstieg Jelzins zum Sinnbild der Demokratie in Russland, zugleich markiert es aber auch den Anfang vom Ende einer jungen postsowjetischen, parlamentarischen Demokratie.
Der Beschuss des Weißen Hauses ist bis heute für manche russische Beobachter ein Verbrechen1, andere sehen darin eine Notwendigkeit. Der Oktober 1993 bedeutet tatsächlich einerseits die Geburtsstunde der demokratischen Verfassung Russlands, setzt andererseits aber auch den Grundstein für das heutige illiberale politische System des Landes.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1978 zunächst in Kraft geblieben. Am 27. Oktober 1989 wurde sie angepasst: Zum obersten gesetzgebenden Organ wurde der neugeschaffene Volksdeputiertenkongress bestimmt. Aus den jährlich zusammenkommenden 1000 Volksdeputierten ging der permanent tagende Oberste Sowjet mit 252 Abgeordneten hervor, an deren Spitze der damals 48-jährige Ruslan Chasbulatow stand.
Was diese modifizierte Verfassung nicht vorauszusehen und abzufedern vermochte, war die Reibung, die zwischen dem im Sommer 1991 geschaffenen russischen Präsidentenamt und dem Parlament entstand. Es trafen politische Kulturen, persönliche Ambitionen und verschiedene gesellschaftliche Vorstellungen aufeinander.
So gingen für das Parlament die politischen und ökonomischen Reformen des Präsidenten zu schnell. Folgerichtig verweigerte es im Dezember 1992 dem wirtschaftsliberalen Premier Jegor Gaidar die Bestätigung im Amt. Der Präsident Boris Jelzin dagegen wollte in erster Linie schnelle Reformen: Politik und Wirtschaft sollten in Einklang mit Gaidars Vorstellungen ohne Rücksicht auf soziale Folgen nach demokratisch-marktwirtschaftlichem Muster umgekrempelt werden. Dazu hatte ihn das Parlament zuvor mit temporären Vollmachten ausgestattet, doch nun drohte es dem Präsidenten, ihm diese wieder zu entziehen.
Hinzu kamen das Charisma und das politische Gewicht Jelzins, im In- wie im Ausland, die mit seiner verfassungsmäßig nachrangigen Position nicht im Einklang standen. So wurden die alte Verfassung und das Parlament für Jelzin zu einem politischen Hindernis, das es zu beseitigen galt.
Jelzin gegen alle
Ein Referendum im April 1993, das Jelzin als eine Art Vertrauensfrage definierte, konnte er weitgehend für sich entscheiden. Das Ergebnis bot ihm eine hinreichende Basis, im September das Dekret Nr. 1400 und damit die Auflösung des Parlaments zu erlassen.
Doch der Volksdeputiertenkongress wehrte sich gegen die Auflösung sowie gegen einen Verfassungsentwurf, der das Verschwinden des Kongresses vorsah. Nicht zu Unrecht berief er sich auf die eigene demokratische Legitimität, die rechtlich nicht geringer war als jene Jelzins.
Der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Ruslan Chasbulatow, und der Vizepräsident Alexander Ruzkoi, widersetzten sich nun dem, was sie als einen präsidialen Handstreich empfanden. Dabei bekamen sie Rückendeckung vom Verfassungsgericht unter Waleri Sorkin, das Jelzins Dekret für verfassungswidrig erklärte. Chasbulatow und Ruzkoi bildeten ein Schattenkabinett und glaubten, genug Rückhalt in Gesellschaft und Militär zu besitzen. Doch hatten sie nur eine obsolete Rechtsordnung auf ihrer Seite, und Jelzin schickte sich nun an, diese zu ändern.
Die Ereignisse eskalierten: Chasbulatow, Ruzkoi und andere Volksdeputierte verschanzten sich im Weißen Haus, die Proteste gegen Jelzin schwollen an und führten am 2. Oktober zu massiven Zusammenstößen. Das Militär schlug sich größtenteils auf Jelzins Seite und ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Es rückte zum Weißen Haus vor und beschoss es, bis der Widerstand der Parlamentarier am 5. Oktober in sich zusammenbrach.
Laut offiziellen Angaben starben dabei 187 Menschen, über 400 wurden verletzt. Jelzin wurde weder für die Gewalt noch für den Verfassungsbruch belangt. Er habe, so die Argumentation, einen Bürgerkrieg abgewendet. Der Verfassungsbruch sei eine durch die Geschichte diktierte Notwendigkeit gewesen.2
Eine politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit
Es mag richtig sein, dass das Parlament, wie der Politologe Alexander Sungurow argumentierte, nie wirklich ein Parlament im westlichen Sinne gewesen sei: Es war vielmehr der letzte Sowjet der sozialistischen Periode, ein Rat, der über deutlich mehr Vollmachten und Kompetenzen verfügte als eine demokratische Legislative üblicherweise hat.3 Dennoch war die Verfassungskrise von 1993 ein Test für die Demokratie und ein Grundstein für die gegenwärtige politische Kultur Russlands. Diese ist nun von der sogenannten Machtvertikale geprägt, die Stärke für alles hält und Kompromisse als Zeichen von Schwäche verachtet. Stärke, so die Befürworter dieser Machtvertikale, sei das Kennzeichen der Macht. Stärke produziere Angst und, wie Sergej Lawrow unlängst formulierte, „aus Angst entsteht Respekt“.4 In dieser Einschätzung spiegelt sich für viele Beobachter die Mentalität der politischen Klasse Russlands.
1993 war Wladimir Putin noch ein unscheinbarer Beamter in Sankt Petersburg. Doch offensichtlich lernte er die Lektion, die sein späterer Ziehvater Jelzin ihm 1993 gab: Wie Gleb Pawlowski bemerkte, schuf Jelzin damals erst die Bedrohung eines aufsässigen Parlaments, die er dann mit Gewalt aus der Welt schaffte.5 Auch Putin schuf vor seinem Amtsantritt im Jahr 2000 eine Drohkulisse: Kaum im Zentrum der Macht angelangt, schickte er das Militär wieder nach Grosny. Bei diesem zweiten Angriff auf Tschetschenien ließ die russische Militärmaschinerie so gut wie keinen Stein auf dem anderen. Diesmal war diese politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit aber schon vollends durch die russische Verfassung gedeckt.
Superpräsidentialismus statt Parlamentarismus
Die Folgen der Ereignisse von 1993 sind heute verfassungsrechtlich ebenso schwerwiegend wie politisch-kulturell. Dass die alte Verfassung von 1978 nicht für das postsowjetische Russland taugte, wussten damals beide demokratisch legitimierten Institutionen. Doch sie fanden aus dieser Sackgasse keinen legalen Ausweg und stellten sich solange stur, bis Jelzin Panzer auf die Straßen Moskaus schickte.
Panzer der Jelzin-treuen Streitkräfte gaben am 4. Oktober 1993 Schüsse auf das Weiße Haus in Moskau ab. / Foto © ITAR-TASS/imago-images
Letztlich drückte er mit Waffengewalt eine Verfassung durch, die einen möglichen russischen Parlamentarismus im Keim erstickte und seitdem nur noch ein Zentrum der Macht vorsieht: den russischen Präsidenten. Zwar ist diese Verfassung formal die demokratischste, die das moderne Russland jemals hatte, doch fehlen ihr Checks and Balances, die wechselseitige Kontrolle der Institutionen. Der Präsident schwebt förmlich über dem politischen System, während Parlament und Regierung kaum mehr als Ausführungsorgane der Politikvorgaben aus dem Kreml sind.
Die neue demokratische Verfassung begründete einen Superpräsidentialismus, wie ihn kaum eine andere demokratische Verfassungspraxis kennt. Eine demokratische Verfassung allein vermag also nicht, eine liberal-demokratische Ordnung zu begründen. Denn es ist diese Zentralität des Präsidenten, die das politische System Russlands nach wie vor prägt.
Die Wurzeln liegen in den Ereignissen vom Oktober 1993. Apologeten des Systems weisen darauf hin, dass nur die Machtfülle des Präsidenten einen „Erfolg“ im Zweiten Tschetschenienkrieg brachte, und dem Land Wirtschaftswachstum sowie Stabilität beschert hätte sowie zuletzt territoriale Zugewinne. All dies war aber auch untrennbar mit der autoritären Konsolidierung des Landes verbunden. Mag das schwarze Loch im Weißen Haus nun schon lange übertüncht sein, die politische Ordnung Russlands bleibt mit dem Makel der Gewalt von 1993 behaftet.