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Die Verfassung der Russischen Föderation

Die russische Verfassung wurde am 12. Dezember 1993 durch ein Referendum angenommen. Rund zwei Wochen später trat sie in Kraft.

Sie präsentiert sich inhaltlich klar als Gegenentwurf zu ihren sozialistischen Vorgängermodellen: Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten werden zum ersten Mal in der Geschichte Russlands zum höchsten Wert erklärt. Alle Rechte können außerdem über ein Verfassungsgericht eingeklagt werden. Geschützt werden Parteienpluralismus, Meinungspluralismus und Gewaltenteilung. Alle Staatsgewalten sind an die Verfassung gebunden. Diese ist unmittelbar geltendes Recht und genießt Vorrang vor anderen Gesetzen. Heute jedoch halten sowohl viele Verfassungsrechtler als auch Bürger Russlands die Verfassung für ein Feigenblatt.

 

Ein Geburtsmakel

1993 schien sich Russland zu einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wurde die Verfassung im In- und Ausland als wichtiger Schritt bei der Transformation des Landes begrüßt.

Dieser Optimismus blendete allerdings einen deutlichen Geburtsmakel aus: Die Verfassung ist das Ergebnis eines ebenso erbitterten wie unlauteren Richtungs- und Machtkampfes zwischen dem vom Volk gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem reformfeindlichen Volksdeputiertenkongress. Letztlich konnte Jelzin den Kampf nur deshalb für sich und die Reformkräfte entscheiden, weil er die Kompetenzen des Parlaments per Dekret außer Kraft setzte und ein Referendum über seinen Verfassungsentwurf durchdrückte. Doch das Ergebnis des Referendums war denkbar knapp: Bei einer Wahlbeteiligung von 54,8 Prozent stimmten nur 58,4 Prozent der russischen Bürger für die neue Verfassung.  

Garant der Verfassung

Diese krisenhafte Entstehungsgeschichte ist der Verfassung genauso anzumerken wie Jelzins Handschrift. Dem Präsidenten wird eine Fülle von Kompetenzen zugewiesen. Gleichwohl blieb seine Rolle im Gewaltengefüge dem Wortlaut der Verfassung nach unklar: Während die Verfassung die Staatsgewalt in drei Teile – die Exekutive, die Legislative und die Judikative teilt – wurde der Präsident bis zur Verfassungsreform im Jahr 2020 keiner dieser Gewalten zugerechnet. Viele russische Rechtswissenschaftler haben diese Unklarheit zugunsten einer weiteren Ausdehnung der Macht des Präsidenten interpretiert. Argumentiert wurde, dass er als „Garant der Verfassung“ über den Gewalten stehe.

Der russische Präsident gilt unter Rechtswissenschaftlern als „Garant der Verfassung“ / Foto © kremlin.ru

Als bahnbrechend gilt außerdem die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1995: Aus der Garantenstellung des Präsidenten leitete das Gericht weitere Kompetenzen ab und stärkte damit die Stellung des Präsidenten zusätzlich.1

Grundrechte

Im Kampf um die Freiheitssicherung des Bürgers vor dem Staat erwies sich die Verfassung meist als stumpfes Schwert. Der umfangreiche Grundrechtskatalog konnte sein Potential nicht entfalten. Als gefährliches Einfallstor für die Beschränkung der Grundrechte erwies sich Artikel 55 Absatz 3. Danach können die Grundrechte per Gesetz eingeschränkt werden, wie dies zum „Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit notwendig ist“. Derartige Regelungen sind rechtsvergleichend nichts Besonderes: Es ist immer erforderlich, Grundrechte mit den Rechten Dritter und mit Allgemeinwohl-Belangen in Ausgleich zu bringen. Es muss aber Institutionen geben, die diese Abwägung zuverlässig durchführen, in Russland jedoch mangelt es an solchen Institutionen.

Die ordentlichen Gerichte neigen indes dazu, die Grundrechte weitgehend zu ignorieren. Dies zeigten etwa die Fälle, in denen Künstler wegen „Rowdytums“ belangt wurden. In den betreffenden Urteilen wurde die Kunstfreiheit oft nicht einmal erwähnt, geschweige denn, dass eine verfassungskonforme Auslegung unter Abwägung der betroffenen Verfassungsprinzipien vorgenommen worden wäre.2

Auch dem Verfassungsgericht ist es bisher nicht gelungen, eine einheitliche Rechtsprechung mit ausreichenden Präzedenzfällen zu entwickeln, die klare Grenzen von einem nicht beschränkbaren Wesenskern der Grundrechte bestimmen. So verbleibt dem Gesetzgeber bei der Einschränkung der Grundrechte ein extrem weiter Einschätzungsspielraum. Außerdem sind die Regelungen, mit denen zum Beispiel Versammlungen oder Vereinigungen beschränkt werden, zu unbestimmt formuliert, um Rechtssicherheit zu bieten.

Ausgestaltung der Grundrechte

Auch die russischen Rechtswissenschaftler sind in der Mehrzahl äußerst zurückhaltend bei einer eigenständigen Auslegung der Verfassungsinhalte. Stattdessen wird in den Verfassungskommentaren auf die Gesetzgebung verwiesen. Häufig heißt es, die Grundrechte würden durch die Gesetze „ausgestaltet“. So schafft die Verfassung nicht die Vorgaben für die einfachen Gesetze, sie wird vielmehr umgekehrt von diesen konkretisiert.

Diese Defizite offenbaren sich eindrucksvoll mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dem jedes Jahr tausende Beschwerden aus Russland vorgelegt werden. Mit keinem anderen Mitgliedstaat vergleichbar ist die Zahl der Verstöße gegen das Recht auf Leben. Obwohl die russische Verfassung das Recht auf Leben schützt, hat der EGMR Russland wegen einer Verletzung dieses Rechts mehrfach verurteilt – 330 Mal bis 2020.3 Die Fälle betreffen in der Mehrzahl den Einsatz von Militär- und Sicherheitskräften, unter anderem in Tschetschenien. Auch Probleme der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz werden allzu häufig in Straßburg bestätigt.

Funktionslose „Scheinverfassung“?

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, die russische Verfassung als bloße „Scheinverfassung“, als „Pseudo-Verfassung“ oder als rein „semantische Verfassung“ ohne normativen Gehalt abzutun.4

Doch ist die Verfassung nicht funktionslos: Die Staatsorgane halten formal daran fest, wie schon der Ämtertausch 2008 und die Rochade 2012 zeigten, nachdem Wladimir Putin verfassungsgemäß nicht mehr zum Präsidenten gewählt werden konnte und Dimitri Medwedew das Amt für vier Jahre übernahm. Obwohl es eigentlich möglich gewesen wäre, die Verfassung zu ändern, blieb sie unberührt.

Mit der im Juli 2020 in Kraft getretenen Verfassungsänderung verliert die Rede vom „Fassaden“- oder „Scheinkonstitutionalismus“ jedoch ebenfalls ihre Bedeutung: Dass der Text der neuen Verfassung vielfach an die Verfassungswirklichkeit angepasst wurde, ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Kreml an der Verfassung festhält. Neben der Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, wertet die Verfassungsreform das Präsidentenamt insgesamt massiv auf, während sie die Gewaltenteilung schwächt. Der Präsident ist nunmehr ausdrücklich „Spitze“ der Exekutive. 

Außerdem ist die neue Verfassung eine Art Zugeständnis an die zahlreichen Stimmen in der Politik, die die Verfassung jahrelang als zu liberal und damit zu westlich kritisierten. Mit der Reform ist der Wertekatalog der Verfassung nun durchzogen von konservativen oder „patriotischen“ Werten wie dem Verweis auf Gott, der Definition der Ehe als Bund von Mann und Frau sowie dem Schutz der „historischen Wahrheit“. 

Rechtsstaats-Fassade

Die Selbstbindung russischer Politik an die Verfassung bleibt jedoch punktuell. Die nach dem Verständnis des liberalen Konstitutionalismus primäre Funktion der Verfassung, die Freiheitssicherung, wird ganz bewusst nicht erfüllt: Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2020 Rang 94 von 128, weit abgeschlagen etwa hinter Burkina Faso oder Malawi.

Der von Machthabern vorgebrachte Verweis auf die Verfassung dient oftmals vielmehr dazu, die Fassade eines funktionierenden Rechtsstaats aufrechtzuerhalten und damit Herrschaft zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund bleibt der Umgang der Macht mit der Verfassung ambivalent: Neben der freiwilligen Bindung an die Verfassung steht die offene Ignoranz durch willkürliche Gesetze und politische Justiz.

Für die Gesellschaft hat die Verfassung deshalb kaum Bedeutung. Im Januar 2020 waren laut einer Meinungsumfrage von Lewada 47 Prozent der Menschen in Russland der Ansicht, dass die Verfassung nur deshalb geändert werden soll, um Putins Befugnisse zu erweitern und ihm zu erlauben, auch nach 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. 30 Prozent der Menschen gaben an, dass die Verfassung keine große Rolle spiele. Dass die Verfassung grundlegende Freiheitsrechte garantiert, das empfinden in Russland immer weniger Menschen: Seit 2015 ist ihr Anteil von 48 auf 27 Prozent gesunken.5

aktualisiert am 12.02.2021


Zum Weiterlesen
Wieser, Bernd (Hrsg.) (2014): Handbuch der Russischen Verfassung, Wien
Nußberger, Angelika (Hrsg.) (2010): Einführung in das russische Recht, München
Nußberger, Angelika/Morščakova, Tamara/Schmidt, Carmen (Hrsg.) (2009): Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation: Dokumentation und Analyse der Entscheidungen des Russischen Verfassungsgerichts 1992–2007, Kehl am Rhein

1.Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts vom 31.7.1995, Nr. 10-P 
2.von Gall, Caroline (2012): Vorerst gescheitert: „Pussy Riot“ und der Rechtsstaat in Russland, S. 2-5 
3.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2020): Violation by article and by state 
4.vgl. Solomon,  Peter H. Jr. (2008): Judicial Power in Authoritarian States: The Russian Experience 
5. Levada Zentr: Počti polovina rossijan uvereny, čto Konstitucija menjaetsja radi sochranenija Putina u vlasti​ 

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