Sie gilt als eine der bedeutendsten Intellektuellen des Landes: Irina Prochorowa. Die Herausgeberin der angesehenen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift Nowoje literaturnoje Obosrenije (dt. „Neue literarische Rundschau“) ist eine gewichtige Stimme in der russischen Öffentlichkeit. Stärkeren politischen Einfluss gewann Prochorowa, als sie 2014 kurzzeitig die Leitung der Partei ihres Bruders übernahm – der Milliardär Michail Prochorow hatte mit der liberalen Bürgerplattform eine Zeit lang politische Ambitionen signalisiert. Prochorowas Austritt nur wenige Monate nach der Angliederung der Krim erscheint dabei symptomatisch für den Zustand der russischen Gesellschaft.
So spricht Prochorowa in diesem Interview mit dem Webmagazin Meduza darüber, warum die Angliederung der Krim einen Keil zwischen die Menschen getrieben habe, weshalb politisches Engagement derzeit fast unmöglich sei – und wie ein Donald Trump in Populisten à la Shirinowski einen russischen Vorläufer hatte.
Das Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung von Meduza in deutscher Übersetzung veröffentlichen, führte Ilja Scheguljow mit Irina Prochorowa in London.
Ilja Scheguljow: Man hat den Eindruck, dass die Spaltung der Gesellschaft in letzter Zeit, also seit der Krim, vollkommen unüberwindlich geworden ist. Empfinden Sie das auch so? Was genau ist da kaputtgegangen?
Irina Prochorowa: Versuche, die Gesellschaft in zwei feindliche Lager zu spalten, hat es auch vor der Krim schon mehr als einmal gegeben – die Diskreditierung der 1990er, der Angriff auf den demokratischen Wandel, die Verbreitung einer Nostalgie nach dem Sowjet-Imperium, die Militarisierung des allgemeinen Bewusstseins. Die Krim war die letzte Herausforderung. Und diese konnte die Gesellschaft nicht mehr meistern. Obwohl sie der krampfhaften Mobilisierung bemerkenswert lange standgehalten hat.
Was gerade passiert, ist eine Rückkehr zur totalitären Tradition einer staatlichen Lenkung. Die Polarisierung der Gesellschaft ist ein Element davon – die endlose Suche nach inneren Feinden.
Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor
Ich möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass in der Sowjetunion die ganze Identitätskonstruktion auf der Loyalität oder der Illoyalität zur Regierung beruhte. Es war ein Modell, bei dem der Staat den Platz der Heimat für sich beanspruchte: Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor.
Hinzu kommt, dass die Spaltung die Gesellschaft in zwei ungleiche Teile teilt. Spüren Sie, dass Sie sich in der Minderheit befinden?
Da sehen Sie mal, wie leicht wir uns auf das sowjetische Spiel der Bolschewiki-Menschewiki eingelassen haben. Es gibt keine absolute Mehrheit oder Minderheit, und es hat sie auch nie gegeben: Ein Mensch kann sich in der einen sozialen Frage in der Mehrheit befinden und in einer anderen wiederum in der Minderheit.
Die Tatsache, dass man die Gegner der Krim-Annexion in der offiziellen Presse als Ausgestoßene darstellt, bedeutet noch gar nichts. Zum einen wissen wir aufgrund der fehlenden Pressefreiheit weder wie hoch der tatsächliche Prozentanteil der kritisch eingestellten Menschen ist noch mit welcher Dynamik sich die öffentliche Meinung in Anbetracht der Krise und der Gegensanktionen verändert.
Und zum anderen: Sogar wenn die offiziellen Zahlen stimmen und die Zahl der Gegner der Krim-Kampagne tatsächlich bei 15 Prozent liegt, dann ist das immer noch jeder siebte Bürger. Nicht übel für Ausgestoßene!
‚Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt‘ – solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken
Diese Logik darf nicht aufgehen, andernfalls treiben wir uns selbst ins Ghetto. Ich empöre mich zum Beispiel jedes Mal darüber, wenn jemand von meinen Freunden oder Kollegen bei einem Treffen spottet: „Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt.“ Solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken!
Noch nicht einmal im Scherz?
Verzeihen Sie, aber ein Scherz ist ein Mittel zur Verfestigung eines Wertesystems. Wenn Sie beginnen, auf diese Art zu scherzen, heißt es, dass Sie diese Logik anerkennen.
Wir sind alles andere als ein Randphänomen. Wir sind die Avantgarde der Gesellschaft. Tatsächlich ist es die Regierung, die sich auf marginale, radikale Gruppen stützt – pseudo-orthodoxe Aktivisten, Pseudo-Kosaken und so weiter. Ihnen erlaubt sie, zu wüten und erklärt sie zur „Stimme des Volkes“.
Nichtsdestotrotz ist sogar die Bürgerplattform an der Krim-Frage zerbrochen. Und Sie selbst sind wegen der offiziellen Haltung der Partei aus ihr ausgetreten.
Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien. Weil in der Bürgerplattform die Meinungen dazu auseinandergingen, haben Michail [Michail Prochorow: Bruder von Irina Prochorowa und Gründer der Partei – Anm. d. Red. Meduza] und ich ein internes Referendum vorgeschlagen. Bei der Auszählung hat sich herausgestellt, dass der Großteil der Parteimitglieder die Angliederung der Krim unterstützt.
Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien
Ich fand, mir blieb keine andere Möglichkeit, als die Partei zu verlassen, denn meiner Ansicht nach widerspricht das im Kern ihren ursprünglichen Grundlinien.
Was da passiert ist, ist sehr traurig. Aber es zeugt auch davon, dass unser Parteiaufbau noch sehr fragil ist. Leider ist das politische Feld derzeit überhaupt so eingeengt, dass mir jegliche Partei-Experimente beinahe unmöglich erscheinen. Dennoch war es eine sehr wertvolle Erfahrung.
Aber Sie haben doch ernsthaft Politik betrieben. Hatte das überhaupt einen Sinn? Es gibt doch auch die Lesart, dass die Proteste von 2011 und 2012 zu einer Verschlechterung der Situation und zu zunehmenden Repressionen geführt hätten.
Wissen Sie, das ist genau die Situation, wenn jemand versucht, einem anderen den schwarzen Peter zuzuschieben. Ich bin der Meinung, dass all dieses Gerede von wegen „Man hätte das mit den Kundgebungen lieber lassen sollen“ im Kern falsch ist. Schließlich haben wir unsere Bürgerrechte verteidigt – die Möglichkeit, unsere Meinung mit friedlichen Demonstrationen kundzutun. So steht es in der Verfassung. Wir haben also keinerlei Schuld auf uns geladen, geschweige denn ein Verbrechen begangen.
Wir haben lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert
Es wäre naiv zu denken, dass, wenn wir nur stillsitzen und den Schwanz einziehen würden, alles ganz wunderbar wäre … Außerdem haben wir lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert.
Finden Sie, dass es im Augenblick überhaupt sinnvoll ist, sich in Russland politisch zu betätigen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dass ein vollwertiges politisches Leben derzeit objektiv betrachtet nicht möglich ist. Aber ich habe aufrichtigen Respekt vor den Menschen, die bereit sind, auf diesem Feld aktiv weiterzuarbeiten.
Das Problem der demokratischen Parteien in Russland besteht meiner Meinung nach nicht nur darin, dass sie einer Hetze durch das politische Establishment ausgesetzt sind, sondern auch in der Krise der politischen Sprache und der politischen Vorstellungskraft an sich. Die Protestbewegung, die 2011/12 an Fahrt aufnahm, scheiterte doch vor allem daran, dass sie keine strategische Agenda parat hatte. Abgesehen von der Losung „Für faire Wahlen“ hatte man der Bevölkerung, die sich nach Veränderungen sehnte, im Grunde nichts anzubieten.
Die Erfahrung der Protestbewegung hat geholfen zu verstehen, dass das sozial-politische Erbe, das uns die sowjetische Nachkriegsgesellschaft hinterlassen hat, in vielerlei Hinsicht verbraucht und entwertet ist, und nur teilweise verinnerlicht wurde.
Abgesehen von der Losung ‚Für faire Wahlen‘ hatte man der Bevölkerung nichts anzubieten
Die poststalinistischen Jahrzehnte waren eine ausgesprochen wichtige Zeit für die innere Demokratisierung der Gesellschaft. Durch intensive intellektuelle Arbeit konnte eine ganze Reihe sehr wichtiger Prinzipien formuliert werden: die Notwendigkeit eines menschenwürdigeren Lebensumfeldes, das Streben nach Bürgerrechten und -freiheiten.
Meistens drückte sich das neue Wertesystem jedoch nicht in politischen Forderungen aus, sondern in der Alltagssprache: Man wollte ein Recht auf freien Zugang zur internationalen Pop-Kultur, träumte vom höheren Lebensstandard („wie im Westen“), forderte die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und Zusatzverdienste zu haben und so weiter.
Das waren aber keine „bourgeoisen Überbleibsel“, und auch kein „Niedergang der Kultur“ oder ein „Kniefall vor dem Westen“, wie die offizielle sowjetische Presse diese Entwicklung der allgemeinen Einstellung darstellte. Es war die Transformation einer Gesellschaft, die größere Mobilität und bessere Lebensqualität wollte.
Im Prinzip hat sich dieser Lebensstil, mit der bekannten Einschränkung, auch durchgesetzt. Natürlich nur, wenn unsere Regierung es nicht fertig bringt, dass wieder ein eiserner Vorhang entsteht.
Welche Lehre aus der Erfahrung der Vergangenheit haben wir am wenigsten in unser Denken integriert?
Am allerwenigsten wurde das Erbe der sowjetischen Bürgerrechtler verstanden und angenommen. Sie hatten die Achtung des Gesetzes als den wichtigsten gesellschaftlichen Wert und als persönliche Tugend proklamiert. Wie die Ereignisse der vergangenen Jahre beweisen, sind sich die wenigsten Menschen dessen bewusst, wie wichtig es ist, persönliche und berufliche Freiheiten zu verteidigen. Und das hat traurige Konsequenzen. Wir sehen keine Proteste gegen die Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen. Aber nicht, weil unsere Gesellschaft Tyrannei so gern mag, sondern weil sie das Prinzip der Herrschaft des Gesetzes nicht als eine nationale Idee begreift.
Die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht klar. Deswegen war es auch so leicht, das alles zu diskreditieren
In Sowjetrussland war ein offenes politisches Leben unmöglich, weil alle sozialen Fragen woanders verhandelt wurden, hauptsächlich in der Kultur. Das kulturelle Kapital, das die Nachkriegsgesellschaft angesammelt hatte, spielte eine immense Rolle bei der rhetorischen Legitimation der Perestroika. Doch es war überwiegend eine künstlerische und keine politische Metaphorik im eigentlichen Sinn.
Zaghafte Versuche einer neuen politischen Sprache tauchten in der Publizistik während der Perestroika auf – erinnern Sie sich noch beispielsweise an „das kommando-administrative System“? Doch dann ist die Sowjetunion auch schon zusammengebrochen, und die westeuropäische Rhetorik musste unverzüglich importiert werden.
Ich fürchte, genau das war die Achillesferse der demokratischen Bewegung. Denn die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht sehr klar. Sie verfügte über keine lange Tradition der Aneignung solcher Begriffe. Mir scheint, dass es deswegen auch so leicht war, das alles zu diskreditieren.
Und doch scheint die Sprache, in der die Regierung jetzt mit den Menschen kommuniziert, zu funktionieren.
Leider ist es immer einfacher, Menschen zu manipulieren, denn für gewöhnlich appelliert man dabei nur an die niedersten Gefühle. Beispielsweise wenn man Menschen durch nationale oder konfessionelle Zugehörigkeit aufwiegelt. Das sind altbewährte Verfahren von unlauteren Politikern aller Völker und Zeiten.
Aber sie sind effektiv.
Der Effekt hält nicht lange an, für gewöhnlich zieht er traurige Konsequenzen nach sich. Es ist immer schwerer, an das Gute im Menschen zu appellieren, aber die Erfahrung lehrt uns, dass auch das möglich ist.
Die Regierung jongliert mit Fetzen der offiziellen Sowjetrhetorik, die dem Großteil der Bevölkerung gut zugänglich und vertraut ist, und zwar nicht nur der älteren Generation. Denn auch nach 25 Jahren postsowjetischen Lebens sind die sowjetischen Propagandafilme nicht von den Fernsehbildschirmen verschwunden. Es werden immerzu visuelle Muster aus der Sowjetzeit reproduziert.
Wir brauchen dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?
Außerdem hat man in vielen Regionen noch Mitte der 2000er Jahre Studenten nach sowjetischen Lehrbüchern unterrichtet, weil es in den Bibliotheken keine neuen gab.
Da die demokratische Rhetorik der 1990er kompromittiert wurde, brauchen wir dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?
Man kann die Luft zwar mit Ausrufen über Demokratie erschüttern, aber der Begriff hat keine Bedeutung. Bei uns nennt sich die Partei von Shirinowski „liberal-demokratisch“. Übrigens können wir gerade eine große Zahl von Politikern im Ausland beobachten, die Shirinowskis Beispiel folgen.
Was denken Sie eigentlich darüber? Wie lassen sich die populistischen Tendenzen in Europa und Amerika erklären?
Ich denke, Russland erfüllt im gegebenen Fall seine traditionelle Rolle als Trendsetter bei sozialen Erschütterungen. Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils.
Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils
Die Krise der repräsentativen Demokratie tritt in Russland, als einem Land mit einer radikalen Kultur, deutlich zutage. Sie ereignet sich aber im Grunde genommen in der ganzen Welt. Es ist dieselbe Entwertung der gewohnten Begriffe, dasselbe intellektuelle Vakuum, das sich schamlose Gauner zunutze machen.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie man 1990 auf die Auftritte von Shirinowski reagiert hat: Er sagte fürchterliche Dinge, beleidigte und erniedrigte seine Gegner, schlug Frauen, und viele lachten und applaudierten diesem Volksspektakel, dieser Possenreißerei der übelsten Sorte.
Nun beobachten wir Phänomene wie Trump oder Boris Johnson. Ich fürchte, in naher Zukunft wird es immer mehr solche Beispiele geben.
Und was passiert dann?
Es ist eine sehr gefährliche Situation. Sie erinnert stark an die 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wir sehen, wie die Faszination an Gewalt und totalitären Ideen wiedererwacht. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss man das System der demokratischen Werte fundamental überdenken und wenn nötig ein Upgrade vornehmen.
Man muss eine neue Metaphorik erarbeiten, die für alle Gesellschaftsschichten zugänglich und attraktiv ist. Das ist für die Behauptung einer demokratischen Lebensform unerlässlich. In dieser Hinsicht sitzen sowohl die USA als auch Europa und Russland in einem Boot. Wir alle stehen vor diesem globalen Problem.
In den 1930er Jahren konnte kein intellektuelles Gegengift für den Totalitarismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gefunden werden. Allein die kriegerische Niederlage des Faschismus hat die westeuropäische Gesellschaft zeitweilig von den Ideen der Gewalt als Mittel der Staatsführung weggeführt. Doch eingedenk der historischen Erfahrung müssen wir ein Gegengift finden. Ich denke, uns allen stehen einige Jahre harter Arbeit bevor.
Glauben Sie, dass diese Arbeit in Russland Erfolg haben kann?
Warum nicht? Brauchen unsere Leute etwa keine Empathie, kein Mitleid und keinen Respekt – jene Dinge, an denen es uns tatsächlich so schmerzlich mangelt, auch in den Kreisen, in denen wir beide uns bewegen?
Die russische Gesellschaft ist von oben bis unten brutal und ungeduldig. Die Verachtung gegenüber Menschen, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht verstehen, sitzt bei uns tief. Wir haben weder den Wunsch noch die Geduld noch die Sanftmut, Menschen so anzuerkennen, wie sie sind, in all ihrer Unvollkommenheit. Wir träumen genau wie unsere Regierung von einem utopisch-perfekten, „richtigen“ Volk.
Darin liegt übrigens ein Grund für den unendlichen Kreislauf der Gewalt. Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an!
Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an
Der liberale Philosoph Isaiah Berlin gab seinerzeit eine fabelhafte Bestimmung des Menschen: „Die Menschheit ist ein krummes Holz.“ Der Wunsch, sie im Handumdrehen zu behobeln und gerade zu biegen, führt unweigerlich zu Gewalt und zur Katastrophe.
Wenn wir über die Quintessenz der demokratischen Weltsicht nachdenken, sehen wir, dass sie auf einer unausgesprochenen Anerkennung der menschlichen Unvollkommenheit beruht und auf der Suche nach Wegen, die Folgen dieser Unvollkommenheit zu minimieren. Daraus erwächst die Vorrangstellung der Bildung und Aufklärung sowie das ungewöhnlich ausgeprägte Mäzenentum und Ehrenamt, weil sie jeder Form von Willkür und Gewalt, staatlicher wie privater, einen Riegel vorschieben.
Neulich sind Sie in London im Klub Offenes Russland aufgetreten. Man sagt, die Eintrittskarten seien innerhalb einer halben Stunde ausverkauft gewesen. Es gibt dort ein riesiges Publikum von Menschen, die aus Russland emigriert sind. Es sieht also so aus, als würden die Intellektuellen derzeit das Land verlassen …
… was sehr traurig ist, und zudem einen furchtbaren Verlust für das Land bedeutet. Es herrschen unvorteilhafte Bedingungen für Künstler und Intellektuelle, die es gewohnt sind, in einem freien Land zu leben. Es ist bedauernswert, dass unsere Staatsmänner die Tragweite dieses Problems nicht begreifen.
Das nicht totzukriegende Erbe der autoritären Führung ist nicht zu übersehen – der naive Glaube, man könne mit einem Parteibeschluss oder einem Anruf aus dem Kreml alles, was man will, heranzüchten. Ganz gleich, ob eine neue Bildungsschicht oder eine gigantische Rübe. Aber leider gibt es das nur im Märchen. In der Realität entstehen nach diesem Prinzip nur Frankensteins und Disteln.
Stalins These von der Austauschbarkeit eines jeden Menschen hat das Land zu einem enormen Rückschritt in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt. Und wir haben daraus nichts gelernt und begehen denselben Fehler wieder.