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Was können wir denn dafür?

Ist das wirklich nur Putins Krieg? Inwiefern tragen auch gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Mitschuld – solche, die mit der Politik im Land in der Regel gar nichts zu tun haben wollen? Mariupol, Butscha, Kramatorsk: Zeugnisse von Tod und Zerstörung, von immer neuen Gräueltaten in der Ukraine werfen diese Fragen stets aufs Neue auf.

Anton Dolin fühlt sich derzeit an Ereignisse aus der Zeit der Jahrtausendwende erinnert, als aus dem jungen Premierminister Wladimir Putin plötzlich der neue Präsident des Landes wurde. Nach den wilden 1990er Jahren trat Putin als Garant für Stabilität auf. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag lautete: Der Kreml sorgt für wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. In einem vielbeachteten Kommentar auf Facebook schreibt der Journalist und Filmkritiker jedoch: Das Ungeheuerliche gab es bei Putin schon von Anfang an. Die kollektive Schuld, so Dolin, liegt darin, dass es toleriert wurde.

 

Источник Social Media

Wo beginnt Putin? 
Dort, wo er sein Ende gefunden hat. Genauer gesagt dort, wo er heute angekommen ist und uns alle hingeführt hat.

Ich will vorausschicken: Ja, ich bin Filmkritiker und kein Politikanalyst. Doch es hat sich ergeben, dass ich von 1997 bis 2002 Korrespondent des Informationsdienstes von Echo Moskwy war. Im Pressepool von Putin – damals noch Premierminister und [nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 – dek] kommissarischer Präsident – reiste ich mit ihm durchs Land. Arbeitete nach der Explosion des Wohnhauses auf der Kaschirskoje Chaussee in den Trümmern. Berichtete über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und erhielt sogar von der Zentralen Wahlkommission eine Urkunde für tüchtige Arbeit.  
Was dann kam, sollte, wie mir scheint, allgemein bekannt sein. Doch aus irgendeinem Grund ist es nicht für alle offensichtlich, selbst jetzt nicht.

Putins Macht und seine Politik stehen auf vier Fundamenten, die in den ersten beiden Jahren seines Aufstiegs gelegt wurden.

1. Operation „Nachfolger“

Wer durch eine „Spezialoperation“ Präsident wurde, wer nicht gewählt, sondern durch eine Verschwörung der Eliten eingesetzt wurde, der kann nicht an demokratische Wahlen glauben. Das und nur das ist der Grund für die Fälschungen und die Verachtung der Wähler seit über 20 Jahren.  

2. Die Explosionen der Wohnhäuser 1999

Wie gesagt, ich war dort. Natürlich sind Zeugen und Experten nicht dasselbe. Es fehlt mir an Informationen, um mit Sicherheit den FSB für diese Übeltat (Explosionen von Wohnhäusern in mehreren Städten mit über 300 Toten und etwa 2000 Verletzten) verantwortlich zu machen und nicht die tschetschenisch-arabischen Söldner unter der Führung von Emir Ibn al-Chattab. Doch die Geschichte mit dem Rjasaner Zucker („FSB-Übungen“, bei denen Agenten Säcke mit Hexogen in den Hausflur schleppten) konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Naja, und an das Schicksal des Experten in dieser Angelegenheit – Alexander Litwinenko – können sich vermutlich alle erinnern.

Aber versuchen wir mal uns nicht auf das „Wer ist schuld?” zu konzentrieren, sondern auf das „Wer hat davon profitiert?” Die Terroristen haben nichts gewonnen; es gab von ihnen keine Androhungen, sie haben keine Verantwortung übernommen und keinerlei Forderungen gestellt. Putin und der FSB jedoch hatten in der Folge verängstigte, geeinte Wähler, ein überzeugendes Motiv für den Zweiten Tschetschenienkrieg, sprunghaft in die Höhe geschnellte Umfragewerte für den Silowik-Premierminister [Putin – dek] und einen diskreditierten Moskauer Bürgermeister Lushkow, der als Hauptkonkurrent bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl galt. 
Warum hielten über all die Jahre eigentlich viele klar denkende Menschen die Version „der FSB sprengt Wohnhäuser“ für verschwörungstheoretischen Quatsch? Etwa, weil derartige Übeltaten nicht ins Bild der korrupten Bürokraten-Gauner-Diebe passen? Genauso haben sie auch nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreift. „So einer ist Putin nicht.“ Nun ja. 
(Ich erwarte mit Schrecken „ukrainische Terroranschläge“ in Russland. Von unseren Leuten.)

3. Der Zweite Tschetschenienkrieg

Den Emotionen der Massen, ihrem Schrecken und ihrer Rachsucht ein Ventil geben, den gordischen Knoten des unlösbaren Konflikts zerschlagen, na und einfach einen „kleinen siegreichen“ organisieren. Nach offiziellen Angaben gab es 1000 zivile Opfer – nach denen von Amnesty International 25.000. 

Vieles ist wiederzuerkennen: Die Bombardierungen des dicht besiedelten Grosny, das praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Geheimhaltung der Verlustzahlen. Die strenge Kontrolle der Berichterstattung über den Konflikt in allen Medien. Das Verbot, Tschetschenen in der Presse zu Wort kommen zu lassen. Die Entmenschlichung des Feindes: Es gab keine Menschen, sondern ausschließlich „Kämpfer“, sie wurden nicht getötet, sondern „liquidiert”. Es war kein Krieg, sondern eine „antiterroristische Operation“. Und natürlich das von den Russen geliebte „im Klo abmurksen“.

Ich erinnere mich gut an einen Streit mit einem ehemaligen Schulkameraden und Journalistenkollegen über diesen Krieg. „Es wurden dort tausende Menschen umgebracht!“, sagte ich. „Nicht Menschen, sondern Banditen-Gesindel“, parierte er kategorisch. Ich war erschüttert und erzählte ein paar Monate später auf dem Geburtstag eines Freundes einem anderen Kumpel (der heute erfolgreicher Kommunist und Anti-Putinist ist) von diesem Dialog. Der wiederum verwandelte meine Geschichte in eine Kolumne just über meine „Demokraten-Schizophrenie“. Jetzt erinnere ich mich, dass ich dort milde als „der gute Mensch aus einem schlechten Radiosender“ bezeichnet wurde. 
Überhaupt etablierte und verbreitete sich der Ausdruck „Demokraten-Schizo“ genau in dieser Zeit. So nannte man die, die in den Tschetschenen Menschen sahen. 

4. Die Zerschlagung von NTW

Die Zerstörung des unabhängigen Fernsehsenders, der fähig war, Gegenkandidaten zur amtierenden Regierung wirksam zu unterstützen – das war der wichtigste Schritt des frühen Putins. Damals zeigte sich auch, dass sich Putin nicht im Geringsten von Demonstrationen und Protesten beeindrucken lässt. Plus seine Erklärung der Politik durch Wirtschaft: „ein Streit unter Wirtschaftssubjekten“ und basta. Damals begann der Weg, der im März 2022 mit der vollständigen Vernichtung aller Medien endete, die auch nur ein Deut an Unabhängigkeit besaßen.  

All das gab es von Anfang an

Nichts Neues. Kein bisschen. 
Verachtung der Demokratie;
Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk;
Entmenschlichung und Dämonisierung eines anderen Volkes;
Hass auf die Meinungsfreiheit.
Erstens, zweitens, drittens, viertens.
All das gab es von Anfang an, als derart viele in Putin den vielversprechenden Jungpolitiker sehen wollten.

Ich erinnere mich haargenau an einen Parteitag der Union der Rechten Kräfte im Vorfeld der Wahl (auch da bin ich gewesen), wo viele einflussreiche Liberale – die Mehrheit, wie es damals schien – dazu aufriefen, Putin zu unterstützen. Laut gegen ihn äußerte sich nur einer: der Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Jaja, ein „Demokraten-Schizo“. 

Über Putins Evolution zu diskutieren hat keinen Sinn. Wichtig ist eine andere Frage: Warum hat die Gesellschaft (nicht nur die russische) mit all dem seinen Frieden gemacht und das als normal empfunden, was heute die ganze Welt in Grauen versetzt? 

Hier ist eine mögliche Antwort auf die für viele Russen so quälende Frage: „Was können wir denn bitteschön dafür?“ Unsere Schuld liegt darin, dass vielen von uns aus diversen Gründen vor 20 Jahren zulässig schien, was heute ungeheuerlich scheint.
(Und es scheint nicht nur so: Es ist ungeheuerlich.)

Ich persönlich fühle mich schuldig dafür, dass ich 2001, nachdem ich all das gesehen hatte, nur abwinkte und entschied, Filmkritiker zu werden. Womöglich war das falsch.

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Anna Politkowskaja war die wohl bekannteste und couragierteste Journalistin und Menschenrechtsaktivistin im Russland der Putin-Ära. Am 7. Oktober 2006 wurde sie Opfer eines Auftragsmordes, dessen Hintergründe bis heute ungeklärt sind. Am 30. August wäre sie 66 Jahre alt geworden.

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Tschetschenien

Im Laufe der Geschichte war das Gebiet des heutigen Tschetscheniens von verschiedenen Imperien beherrscht und unterlag dabei wechselnden kulturellen, religiösen und politischen Einflüssen.1 Die Wainachen, eine ethnologische Gruppe, zu der Tschetschenen und Inguschen gehören, brachten keine eigene Geschichtsschreibung hervor. Daher beruht die Quellenlage vor dem 19. Jahrhundert vor allem auf der Rekonstruktion der Geschichte anhand archäologischer Funde. Vom 11. bis zum 13. Jahrhundert christianisierte Georgien einen Teil der wainachischen Bevölkerung, die bis dahin einer Naturreligion anhing.2 Nach der mongolischen Eroberung Ende des 14. Jahrhunderts begann der allmähliche Übertritt zum Islam, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog.

Kolonialisierung

Die Beziehungen zwischen Russen und Tschetschenen sind geprägt von Kolonialisierung und reichen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Damals trafen die Kosaken Iwans des Schrecklichen mit der Bevölkerung der Siedlung Tschetschen-Aul zusammen. Nach dem Namen dieser Siedlung wurden die Bewohner der Region in der Folgezeit Tschetschenen genannt. Selbst nennen sie sich Nochtschi. 
Während der Smuta zog sich Russland zunächst weitgehend aus dem Kaukasus zurück, bevor es 1739 den Kampf gegen die Bergvölker eröffnete. Die eigentliche Kolonialisierung begann aber 1817 mit dem Kaukasuskrieg. Russland gründete 1818 die Festung Grosnaja (dt. die Furchtgebietende, 1870 ging daraus die heutige Hauptstadt Grosny hervor) und stellte sich den Truppen von Imam Schamil – ein Dagestaner, der von 1834 bis 1859 den militärischen Widerstand anführte und dabei auch brutal gegen Stämme vorging, die ihm ihre Loyalität verweigerten. Er wurde später deshalb zur nicht unumstrittenen legendären Identifikationsfigur für Tschetschenen. Der Krieg dauerte bis 1864, viele Historiker beschreiben den Widerstand als den vehementesten in der russischen Kolonialgeschichte. Hunderttausende Menschen starben, schätzungsweise über eine halbe Million Menschen wurden vertrieben. 

In dieser Zeit ging Tschetschenien in die russische Literatur ein – etwa bei Alexander Puschkin, Michail Lermontow oder Lew Tolstoi. Ähnlich wie im Westeuropa dieser Zeit entstanden dabei orientalistische Narrative, die zwischen Romantizismus und Überlegenheitsgefühl schwankten: Kaukasier galten darin einerseits als eine Art „edle Wilde“, andererseits aber auch als solche „Wilden“, die es zu „zivilisieren“ gilt. Dieser Orientalismus führte bei vielen in Russland zur Herausbildung einer Distinktion: Kaukasier wurden zu den „Anderen“.3 
  

Verfolgung und Diskriminierung

Im Ersten Weltkrieg kämpften tschetschenische und inguschische Heere schon zusammen auf der Seite Russlands. Doch nach der Oktoberrevolution proklamierte die Bergrepublik im Mai 1918 ihre Unabhängigkeit. Im März 1920 eroberte die Rote Armee Grosny. Tschetschenien wurde sowjetisch und zusammen mit Inguschetien in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert – Gorskaja ASSR. 
In den folgenden Jahrzehnten gab es vereinzelt Aufstände gegen die Besatzungsmacht, die stets niedergeschlagen wurden. Wie auch in der übrigen Sowjetunion wurde zudem die religiöse Infrastruktur weitgehend zerstört, auch der Klerus wurde verfolgt.

Aus der 1818 gegründeten Festung Grosnaja ging Tschtscheniens heutige Hauptstadt Grosny hervor / Foto © Alexxx Maleev/flickrWährend des Großen Vaterländischen Krieges war ein Teil des Kaukasus von deutschen Truppen besetzt. Stalin diente dieser Umstand als Vorwand, mehrere kaukasische Völker wegen ihrer teilweisen Kollaboration mit den Faschisten kollektiv zu bestrafen. Am 23. Februar 1944 begann die nahezu vollständige Deportation von fast 500.000 Tschetschenen und Inguschen in Viehwaggons nach Zentralasien. Zehntausende überlebten die Deportation und die folgenden Jahre der Verbannung nicht. Die Republik wurde am 7. März 1944 aufgelöst, ihre Geschichte umgeschrieben, nationale Denkmale und Archive vernichtet und das entvölkerte Land mit Menschen aus anderen Regionen besiedelt. 
Diese Verfolgung trug letztendlich aber „zur Schärfung eines ‚ethnischen‘ Bewußtseins der Tschetschenen bei. Die Gewalt, die ihnen angetan worden war, wurde unter dem Schlagwort des ‚Genozids‘ zum Kristallisationspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses.“4 

Obwohl der Oberste Sowjet der UdSSR 1957 die Verbannung aufhob und die Rückkehr der Deportierten erlaubte, wurden Tschetschenen auch in der wiederhergestellten Tschetschenisch-Inguschischen Sowjetrepublik diskriminiert. Dies betraf auch die Bereiche Bildung und Arbeit, so waren die wichtigsten Ämter wesentlich von Vertretern der slawischen Elite dominiert. Wegen mangelnder Verdienstmöglichkeiten nahm in den 1980er Jahren die Arbeitsmigration nach Südrussland, die beiden Hauptstädte  und in die Erdölgebiete Sibiriens zu. Dadurch entstand in der Russischen Sowjetrepublik eine große tschetschenische Diaspora.

Erster Tschetschenienkrieg

Nach dem gescheiterten Augustputsch gegen Gorbatschow nutzte der tschetschenische General Dschochar Dudajew das Machtvakuum der Perestroika und stürzte die lokale Führung in Grosny. Im November 1991 erklärte er die Unabhängigkeit Tschetscheniens. 
Dudajews Unterstützung in der Gesellschaft war gering, um so mehr, als er die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen konnte. Verschiedene Lager stritten um die Macht, Moskau unterstützte die Opposition mit dem Ziel, Dudajew zu stürzen und Tschetschenien wieder in den russischen Einflussbereich zu bringen. Es begann ein Propagandakrieg, der auf der einen Seite die Erinnerung an die traumatischen Kolonisationserfahrungen reaktivierte und auf der anderen Seite auf die territoriale Einheit Russlands, die Menschenrechtsverletzungen des Dudajew-Regimes und die drohende Gefahr für die innere Sicherheit Russlands setzte. 
Dies war eine der Ursachen für den Ausbruch des Konflikts: Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, der Erste Tschetschenienkrieg begann. Aus dem geplant schnellen Sieg und der Absetzung Dudajews wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten bei Straßenkämpfen. 
Grosny wurde in Schutt und Asche gebombt, zehntausende Zivilisten, darunter ein hoher Anteil an russischer Bevölkerung, verloren ihr Leben. Die tschetschenischen Kämpfer verließen erst am 23. Februar 1995, dem Jahrestag der Deportation von 1944, die Hauptstadt und stellten sich so symbolisch in die Tradition des Widerstandes gegen die Kolonialmacht Russland. 
Bis März 1995 gelang es den Moskauer Streitkräften, die Kontrolle über Grosny und den nördlichen Landesteil zu gewinnen. Im April 1996 wurde Dudajew durch einen gezielten Raketenangriff von russischer Seite getötet. Doch der Vormarsch stockte, und schon im August 1996 mussten russische Truppen Grosny aufgeben. Russland war gezwungen, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen und die Truppen zurückzuziehen. Der Erste Tschetschenienkrieg endete. 

Zweiter Tschetschenienkrieg

Im Januar 1997 wurde Aslan Maschadow in den ersten freien Wahlen zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Russland erkannte die Wahl an, und im Mai unterzeichneten Jelzin und Maschadow einen Friedensvertrag. 
Maschadows Machtposition im kriegszerstörten Land war schwach, zeitweise gab es mehr als 300 Kampfeinheiten, die nicht seinem Befehl unterstanden. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen religiös-extremistischen Kräften und Maschadows Anhängern. Die Ende der 1980er Jahre begonnene Auswanderung der nicht-tschetschenischen Bevölkerung verstärkte sich nun wegen der labilen Sicherheitslage in der Republik zu einem Massenexodus.
Im August/September 1999 drangen Rebellen unter Schamil Bassajew und Emir Ibn al-Chattab nach Dagestan ein, überfielen mehrere Bergdörfer und riefen eine Islamische Republik aus. Kurze Zeit später verübten Unbekannte mehrere Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten, denen hunderte Zivilisten zum Opfer fielen. Viele russische Medien legten die Anschläge sofort Tschetschenen zur Last. Daraufhin folgte eine beispiellose antitschetschenische Hetzkampagne. Von Anfang an gab es jedoch Hinweise auf eine Verwicklung des FSB in die Anschläge.

Im Oktober 1999 marschierten rund 100.000 Soldaten in Tschetschenien ein, der Zweite Tschetschenienkrieg begann. Grosny lag bis Februar 2000 unter schwerem Beschuss, die tschetschenischen Kämpfer verließen die Stadt wieder am symbolträchtigen 23. Februar und zogen sich in die Berge zurück. Die russischen Streitkräfte bombardierten vor allem die Dörfer im Westen der Republik, zu einer besonderen Zielscheibe wurden dabei die Familien der Kämpfer aus dem ersten Krieg. Im März endete die russische Großoffensive. Moskau setzte den ehemaligen Mufti Tschetscheniens, Achmat Kadyrow, als Chef der Verwaltung ein. Dieser hatte sich zuvor auf die Seite Russlands gestellt. 
Im Sommer 2000 änderten die Separatisten ihre Kriegsstrategie, sie setzten nun vor allem auf Terroranschläge gegen die Besatzer und ihre Strukturen. Die russische Streitkraft führte Säuberungsaktionen in den Dörfern durch, verhaftete und verschleppte Menschen. Das Verschwindenlassen von Menschen entwickelte sich dabei zu einer verbreiteten Methode russischer Armeeangehöriger, Lösegeld bei den Angehörigen zu erpressen.5 

Im Oktober 2003 hielt Moskau Wahlen in Tschetschenien ab, bei denen Achmat Kadyrow zum Präsidenten gewählt wurde. Zahlreiche russische und internationale Wahlbeobachter wiesen dabei auf massive Verstöße gegen das Wahlrecht hin. 
Während der Siegesfeier am 9. Mai 2004 wurde Kadyrow bei einem Anschlag getötet. Sein Sohn Ramsan übernahm das Amt des Vizepräsidenten. Neuer Präsident Tschetscheniens wurde zunächst Alu Alchanow, bis er 2007 von Ramsan Kadyrow abgelöst wurde.
Der Präsident der tschetschenischen Exilregierung, Maschadow, wurde im Untergrund aufgespürt und im März 2005 von einem russischen Spezialkommando getötet. Die meisten Mitglieder seiner Regierung leben heute im europäischen Ausland und sind zum Teil als politische Flüchtlinge anerkannt.
Der Zweite Tschetschenienkrieg endete offiziell 2009. Insgesamt haben die Kriege seit 1994 mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet. Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg sind Zehntausende nach Europa geflohen. In Deutschland leben heute rund 40.000 tschetschenische Geflüchtete, von denen nur ein Teil über den Status eines anerkannten Flüchtlings verfügt.

Kadyrow-Regime

Bei zahlreichen Veranstaltungen gedenkt heute die tschetschenische Diaspora am 23. Februar der Deportation. In Tschetschenien selbst wird der Gedenktag seit 2011 dagegen am 10. Mai begangen, dem Tag der Beerdigung von Achmat Kadyrow. Als der bekannte Oppositionspolitiker Ruslan Kutajew 2014 öffentlich das Trauerverbot am 23. Februar kritisierte, wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet und zu vier Jahren Haft verurteilt. 
Zahlreiche unabhängige Beobachter stuften den Prozess gegen Kutajew genauso als politisch-motiviert ein, wie auch viele andere Prozesse gegen tschetschenische Oppositionelle. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2007 hat Ramsan Kadyrow mit Hilfe seiner paramilitärischen Sicherheitstruppe Kadyrowzy ein hochrepressives Regime errichtet. Internationale Organisationen berichten regelmäßig über massive Verletzungen der Menschenrechte, darunter auch über die weit verbreitete Anwendung von Folter, das Verschwindenlassen unliebsamer Personen und außergerichtliche Exekutionen. Korruption in Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft ist ebenso allgegenwärtig.6 Zudem greift das Regime systematisch in die Privatsphäre der Tschetschenen ein: beispielsweise werden geschiedene Paare unter Druck gesetzt, sich zu versöhnen und wieder zusammenzuleben, mit der Begründung, dass Kinder Geschiedener sich radikalisieren und zu Terroristen würden.7 Im Frühjahr 2017 gab es erstmals Berichte über eine Welle der Verfolgung und Ermordung von LGBT, die zum Jahresbeginn 2019 erneut ausbrach.8 Kadyrow selbst behauptet, es gäbe keine LGBT in Tschetschenien und somit auch keine Verfolgung.  

Mit dem Kaukasuskrieg begann ab 1817 die eigentliche Kolonialisierung Tschetscheniens / „Die Schlacht am Walerik“, Aquarell von M. Lermontow und G. Gargarin, 1840

Entsprechend gibt es in Tschetschenien kaum Pressefreiheit: Während Russland auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen den Rang 148 von insgesamt 180 einnimmt, dürfte Tschetschenien für sich genommen noch weiter unten stehen. Unabhängige Medien gibt es in der Republik faktisch nicht, zahlreiche JournalistInnen wurden wegen ihrer kritischen Artikel ermordet, darunter 2006 die Journalistin der Novaya Gazeta Anna Politkowskaja.
Ebenso gefährdet sind Menschen, die sich für Frauenrechte einsetzen. Frauen werden im vorchristlichen Gewohnheitsrecht  Adat und in der Scharia als sogenannte „Trägerinnen der Ehre“ verstanden und sind einer permanenten sozialen Kontrolle durch Familienangehörige und Männer ausgesetzt. Die Dunkelziffer für Femizide schätzen Menschenrechtler als hoch ein, nicht selten gelten sie als sogenannte Ehrenmorde.9 
Die Verfolgung von Gesetzesverstößen, insbesondere im familienrechtlichen Bereich, wird von den staatlichen Ermittlungsbehörden häufig zurückgewiesen mit der Begründung, es handele sich dabei um Regeln des Adat oder der Scharia. Hingegen werden Gerichte dann aktiv, wenn es darum geht, unliebsame Oppositionelle rechtskräftig zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen. So gab es schon mehrere Prozesse gegen Menschenrechtler; der wohl bekannteste unter ihnen ist der gleichfalls als politisch motiviert eingestufte Prozess10 gegen den Leiter des Memorial-Büros Tschetschenien, Ojub Titijew. Im Januar 2018 wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet, inzwischen läuft ein kafkaesker Prozess gegen ihn. Titijews Vorgängerin bei Memorial, Natalja Estemirowa, wurde 2009 von Unbekannten entführt und ermordet.

Staat im Staat

Vor dem Hintergrund der von Putin aufgebauten Machtvertikale stufen zahlreiche Beobachter Tschetschenien als eine Art Staat im Staat ein. Nicht nur das Moskauer Gewaltmonopol gilt hier in vielen Bereichen als unwirksam, auch die Gesetze, die im restlichen Russland noch umgesetzt werden, wurden in Tschetschenien teilweise durch traditionelle Rechtssysteme ersetzt: das vorchristliche Gewohnheitsrecht Adat und die Scharia. 

Kadyrow laviert ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin / Foto © kremlin.ru CC BY 4.0
Die Mischung aus Traditionalismus und Nationalismus schafft laut Beobachtern eine Illusion von Selbstbestimmung11, also eine Art imaginierte Emanzipation von der Kolonialmacht Russland. Damit bedient Kadyrow moderate separatistische Erwartungen und untermauert seinen Legitimitätsanspruch. Gleichzeitig laviert er ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin. Während er sich nach Innen also als Garant der Selbstbestimmung darstellt, zeigt er nach Außen, dass gerade dieser populistische Separatismus nötig sei, um Tschetschenien nicht wieder zu einem Pulverfass werden zu lassen. Manche Beobachter meinen, dass Kadyrow für den Kreml damit als Garant der Stabilität erscheine: Als jemand, der einerseits dafür sorgt, dass Tschetschenien formal Teil Russlands bleibt und andererseits Terroranschläge in Russlands Großstädten verhindert. Vermutlich ist das der Grund, weshalb der Kreml diejenigen Silowiki im Zaum hält, die auch in Tschetschenien die Machtvertikale durchsetzen wollen.12 Die Kehrseite davon, so kritisieren Beobachter, sei faktisch eine Carte blanche für das Kadyrow-Regime, an der russischen Verfassung vorbei Adat und Scharia zu etablieren. Wobei allen Rechtssystemen in Tschetschenien gemein ist, dass ihnen weitestgehend die Erzwingungsmacht fehlt: Es gilt somit häufig das Recht des Stärkeren oder reine Willkür.13


Zum Weiterlesen:
Cremer, Marit (2017): Angekommen und integriert? Bewältigungsstrategien im Migrationsprozess, Frankfurt am Main/New York
Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, S. 197-212
Cremer, Marit (2007): Fremdbestimmtes Leben: Eine biographische Studie über Frauen in Tschetschenien, Bielefeld

1.ausführlich dazu: Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, 197-212 
2.Sarkisyanz, Emmanuel (1961): Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917: eine Ergänzung zur ostslawischen Geschichte Russlands, München, S. 114-140 
3.vgl. relga.ru: Formirovanie obraza Kavkaza v rossijskoj obščestvennoj mysli (konec XVIII – seredina XIX vv.) 
4.Halbach, Uwe (1994): Rußlands Auseinandersetzung mit Tschetschenien, In: BIOst 61, S. 20 
5.Council of Europe (2003): The human rights situation in the Chechen Republic 
6.Memorial Human Rights Center: Bjulleten' Pravozaščitnogo centra «Memorial» Situacija v zone konflikta na Severnom Kavkaze: ocenka pravozaščitnikov Leto 2018 goda 
7.Grozny.tv: Kadyrov prizval duchovenstvo aktivizirovat’ rabotu, napravlennuju na ukreplenie semejnych cennostej 
8.osce.org: OSCE Rapporteur’s Report under the Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in the Chechen Republic of the Russian Federation 
9.taz: Frauenmorde in Tschetschenien: Tödliche Traditionen 
10.Novaya Gazeta: Dur' kakaja-to: Novyj prokol obvinenija: narkotiki v dele Ojuba Titieva – ne narkotiki? 
11.International Crisis Group: Čečnja: vnutrennee zarubež'e, S. ii 
12.ebd. 
13.Halbach,Uwe (2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation: Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, S. 6, 21 und osce.org: OSCE Rapporteur’s Report under the Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in the Chechen Republic of the Russian Federation 
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