„Ich dachte, na, das ist ja was, da macht man sogar ein Feuerwerk für die Kinder. Dann flogen Luftballons in den Himmel. Viele Luftballons. Dazu Geknalle. Ich lächelte sogar irgendwie. Dachte, das ist ja ein ungewöhnlicher Appell [anlässlich des Schuljahresbeginns – dek]. Dann rannten sie los, in ihren Tarn-Uniformen. Wahrscheinlich irgendeine Übung, kam mir in den Sinn. Ich stand wie angewurzelt, um mich herum rannten die Leute. Die Kämpfer umzingelten uns, begannen, in die Luft zu schießen, riefen: ‚Zugriff!‘. Und pferchten alle in die Turnhalle.“1
So begann in der Erinnerung einer der mehr als tausend Geiseln der grausame Terroranschlag, der die russische Bevölkerung vom 1. bis zum 3. September 2004 in Atem hielt: die Geiselnahme von Beslan. Die Ereignisse in der Schule Nr. 1 stehen für die Entgrenzung terroristischer Taktiken und für die Brutalität dieses Krieges. Über viele Fragen herrscht aber bis heute Unwissenheit oder Schweigen.
Am 1. September 2004 gegen 9.30 Uhr, während der Feierlichkeiten zum neuen Schuljahr, überfielen mindestens 32 Terroristen die Mittelschule Nr. 1 im nordossetischen Beslan. Die Geiselnehmer pferchten Kleinkinder, Schüler, Eltern und Lehrer – insgesamt 1128 Menschen – in der Turnhalle zusammen, verminten diese und andere Räume. Um den Ernst der Lage zu unterstreichen, erschossen sie einige Männer und ließen deren Leichen aus dem Fenster werfen. Das ganze Land tauchte ein in einen Alptraum, der erst nach zwei weiteren Tagen, am 3. September 2004, sein katastrophales Ende mit mehreren hundert Toten fand – darunter waren 186 Kinder.
Tschetschenisches Unabhängigkeitsprojekt
Diese Geiselnahme von Beslan ist die wohl bislang grausamste Tragödie in einer Reihe von Terroranschlägen, die allesamt in Verbindung zum Tschetschenienkonflikt stehen. Die Verantwortung übernahm der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew, der auch andere spektakuläre Terroranschläge organisiert hatte. Dazu gehört die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater im Jahr 2002, der nach offiziellen Angaben 130 Menschen zum Opfer fielen.
Zum Zeitpunkt der Geiselnahme im September 2004 dauerte der separatistische Konflikt der Nordkaukasusrepublik Tschetschenien mit Russland bereits zehn Jahre an – mit einer Unterbrechung in den Jahren 1996 bis 1999. Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sind in diesem Krieg vor allem von russischen Sicherheitskräften bekannt; die Aufständischen wandten aber ebenfalls normwidrige, unter anderem terroristische Taktiken an. Die Tatsache, dass an dem Anschlag nicht nur Tschetschenen beteiligt waren, machte die Vernetzung des Terrors im Nordkaukasus deutlich. Die gezielte Instrumentalisierung von Kindern, wie sie in Beslan stattfand, war jedoch einzigartig und fügte dem tschetschenischen Unabhängigkeitsprojekt große Imageverluste zu. Seit Beslan wurden in Verbindung mit dem Nordkaukasus keine Geiselnahmen mehr berichtet.2
Die Terroristen forderten ein Ende des Krieges in der russischen Teilrepublik Tschetschenien, den Abzug russischer Truppen sowie die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Wann genau die Terroristen ihre politischen Absichten kommunizierten – ob zu Beginn oder erst im Verlauf der Geiselnahme – darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Behörden die Veröffentlichung dieser Forderungen verheimlichen wollten.3
Fest steht auch, dass Putins Berater Aslambek Aslachanow – mit dem die Terroristen unterschiedlichen Quellen zufolge in einer Gruppe mit anderen regionalen Amtsträgern vom ersten Tag an verhandeln wollten – erst am Mittag des 3. September in Beslan eintraf. Da war die Lage dort bereits eskaliert.
Präsident Putin selbst reiste erst in der Nacht vom 3. auf den 4. September an den Anschlagsort und besuchte dort unter anderem kurz ein Krankenhaus, in dem die Opfer untergebracht waren.
Strenge Nachrichtensperre
Bereits während des Anschlags herrschte eine strenge Nachrichtensperre und Desinformation.4 Die Zahl der Geiseln wurde in staatlichen Medien noch am zweiten Tag des Geiseldramas stark unterschätzt: Es wurde offiziell lediglich von 354 Menschen gesprochen. Zwei bekannte Tschetschenien-Journalisten, Anna Politkowskaja und Andrej Babizki, die die Verhandlungen hätten unterstützen können, schafften es aufgrund mysteriöser Umstände nicht an den Tatort.5 Desinformation und das Schweigen über wichtige Fragen prägen die Auseinandersetzung mit der Tragödie in der russischen Öffentlichkeit bis heute.
Die offenkundigen Ungereimtheiten, beziehungsweise Mängel, im offiziellen Umgang mit der Geiselnahme können jedoch nicht über die Brutalität hinwegtäuschen, mit der die Terroristen vorgingen. Ab dem zweiten Tag verweigerten sie den Geiseln Wasser, in der Hitze der Turnhalle verloren viele Menschen das Bewusstsein. Nach Bassajews Anweisung sollten die Kinder erst dann Essen und Trinken erhalten, wenn Putin mit dem Abzug der Truppen beginne.
331 Menschen gestorben, darunter 186 Kinder
Das Ende der Geiselnahme ist ebenso tragisch wie nebulös: Bekannt ist, dass die Sicherheitskräfte die Schule stürmten, nachdem eine Bombe in der Turnhalle explodiert war. Eine weitere Explosion folgte. Nach offizieller Lesart erfolgte diese Detonation entweder zufällig oder geplant durch die Terroristen.
Es gibt jedoch auch eine andere Version der Ereignisse: Einem Bericht des russischen Wissenschaftlers und ehemaligen Duma-Abgeordneten Juri Saweljew zufolge handelte es sich bei den Explosionen um detonierende Granaten, die von russischen Sicherheitskräften aus schweren Waffen außerhalb des Gebäudes abgefeuert wurden. Der Report zitiert auch Zeugenstimmen, nach denen russische Panzer auf das Gebäude geschossen haben sollen, was mit den waffentechnischen Analysen des Berichts übereinstimmt.
Mehr als die Hälfte der Geiseln kam bei den Detonationen und dem damit einhergehenden Brand der Turnhalle ums Leben. So macht der Bericht die russischen Sicherheitskräfte für die Mehrheit der Toten verantwortlich. Am Ende des Sturmes gab es 331 Tote, darunter 186 Kinder.
Im Saweljew-Bericht ist auch die Rede davon, dass nicht 32, sondern wesentlich mehr Terroristen den Anschlag ausführten (52 bis 78), von denen eine Vielzahl entkommen konnte.
Aufgrund solcher Widersprüche sowie offenkundiger Mängel der Ermittlungen – unter anderem gibt es Berichte über vernichtete Beweisstücke bis hin zu gefälschten Gutachten6 – strengten Hunderte Überlebende und Angehörige von Opfern Verfahren vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) an. Die Kläger warfen Russland unter anderem vor, nicht sämtliche Möglichkeiten ausgereizt zu haben, um das Leben seiner Bürger zu schützen. Im April 2017 verurteilte der EGMR Russland zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von rund drei Millionen Euro.7 In Vergangenheit zahlte der Staat solche Entschädigungen üblicherweise aus, neue Ermittlungen setzte er indes nur sehr selten in Gang.
2016 wurden am Jahrestag der Katastrophe fünf betroffene Mütter verhaftet und zu Sozialstunden und teilweise zu Geldstrafen verurteilt, die in einer Protestaktion die Regierung für die Eskalation der Ereignisse 2004 verantwortlich gemacht hatten. Zwei Journalistinnen, die über die Aktion berichtet hatten, wurden kurzzeitig von der Polizei festgehalten.
Aufbau der Machtvertikale
Putin seinerseits stellte die Geiselnahme am 4. September als „direkte Intervention des internationalen Terrors gegen Russland“ dar. Unter anderem kündigte er Maßnahmen zur Stärkung der „Einheit des Landes“ an. In der Folge baute Putin sein Machtsystem weiter aus, etwa durch die Abschaffung der Direktwahlen der Gouverneure und des Mehrheitswahlrechts. Putin erklärte, dass die Ziele der Terroristen die „Desintegration des Landes“ und der „Zerfall Russlands“ seien und die Ernennung (statt einer Wahl) der Gouverneure zur Einigkeit des Landes beitragen solle.8 Die Tragödie von Beslan kann aber genauso gut lediglich ein Vorwand für derartige Maßnahmen gewesen sein. Die Aufstandsbekämpfung jedenfalls wurde weiter zunehmend in die Hände moskautreuer Eliten vor Ort gegeben, die den Kampf mit aller Brutalität fortsetzen.
1.beslan.aif.ru: Ad Beslana: Vzgljad iznutri
2.Pokalova, Elena (2015): Chechnya's Terrorist Network, Santa Barbara, S. 137
3.Süddeutsche: Ein Land wählt das Schweigen
4.Kommersant-Wlast: Nikakich peregovorov s rodstvennikami!
5.Kommersant: Žurnalisty vypali iz processa
6.Cherkassov, Alexander (2006): Blick zurück auf die Tragödie von Beslan, in: Russland-Analysen, 108/2006, S. 2–6, hier S. 4f. Das Gutachten ist hier einsehbar.
7.European Court of Human Rights: Judgment Tagayeva and Others v. Russia - serious failings in the authorities’ response to the Beslan attack
8.Nezavisimaja Gazeta: Vystuplenie prezidenta Rossii Vladimira Putina na rasširennom zasedanii pravitel'stva s učastiem glav sub'ektov RF 13 sentjabrja 2004 goda