„Hallo, hier ist Nawalny“, so hatte der russische Oppositionspolitiker seine Instagram-Follower vergangene Woche begrüßt – mit Familienfoto aus dem Krankenbett. Inzwischen ist er aus der Charité entlassen, ist vorerst aber noch in Deutschland. „Er ist weiterhin in Behandlung“, teilte seine Pressesprecherin Kira Jarmysch mit.
Die Nowitschok-Vergiftung Nawalnys hatte zu scharfen Worten zwischen Deutschland und Russland geführt. Die russische Regierung sprach von „Hysterie“, im russischen Staatsfernsehen hatte unter anderem Leonid Rink, der an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt war, mehrfach behauptet, dass es unwahrscheinlich sei, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sei.
Manche Beobachter, wie etwa Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, sprechen gar von einem Wendepunkt in den Beziehungen. Nun berichtet die französische Zeitung Le Monde von einem Telefonat zwischen Putin und Frankreichs Präsident Macron: In diesem habe Putin mehrere Versionen ins Spiel gebracht, wie Nawalny hätte vergiftet werden können, auch die einer „Selbstvergiftung“.
Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, hat auf Echo Moskwy ein Interview gegeben. Darin berichtet er von den Recherchen der Novaya Gazeta zu Leonid Rink – der Nowitschok in Ampullen verkauft und in Umlauf gebrachte habe. Und er spricht über zahlreiche Hinweise dafür, dass vermutlich auch Anna Politkowskaja und Dimitri Bykow, prominente Novaya-Gazeta-Journalisten, mit Nowitschok vergiftet wurden. Muratow betont in dem Interview: „Ich liefere nur Fakten.“ „Die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen“, entgegnet die Moderatorin.
Irina Worobjowa: Hallo, willkommen bei Ossoboje Mnenije (dt. Die besondere Meinung). Heute ist Dmitri Muratow bei uns, der Chefredakteur der Zeitung Novaya Gazeta. Guten Abend, Dmitri!
Dmitri Muratow: Guten Abend!
Die Novaya Gazeta hatte auf der Titelseite ein Foto von Nawalny und die Bildunterschrift: „Willkommen zurück!“ Sind Sie sich sicher, dass Alexej wieder vollkommen gesund wird?
Wir wissen nichts über die Folgeschäden, genauso wenig wie alle anderen, auch die Ärzte. Als die Ausgabe bereits in Druck war, kam uns der Gedanke, dass wir es halb in Farbe und halb in Schwarz-Weiß hätten drucken sollen. Denn er war von den Attentätern und Mördern schon mit einem Bein ins Grab befördert worden, hat sich jedoch an [seiner Frau] Julia, den Ärzten und seinen Freunden festgeklammert und konnte mit dem zweiten Bein in dieser Welt bleiben.
Nawalny war ja schon mit einem Bein ins Grab befördert worden
Sie sprechen von „Attentätern“ und „Mördern“. Sie glauben also die Version der Deutschen, dass es sich um einen Giftanschlag handelt, dass ein Stoff aus der Nowitschok-Gruppe zum Einsatz kam und so weiter?
Lassen Sie es mich von einer anderen Seite her aufziehen. In unserem Land lassen sich Beteiligungen und die verdeckten Interessen von jemandem ganz gut nachvollziehen anhand der Experten, die man uns im Staatsfernsehen präsentiert. Der wichtigste Experte im Zusammenhang mit diesem Mordanschlag ist ein gewisser Leonid Igorewitsch Rink. Der Mann, der Nowitschok eigenhändig in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat. Er hat nicht nur die Formel für Nowitschok erfunden, sondern es auch eigenhändig hergestellt.
Dieser Rink steht also vor dem Logo von Ria Nowosti (ich glaube, er steht da seit dem Giftanschlag auf Skripal immer wieder) und verkündet uns in der Fernsehsendung Wremja, auf NTW, in der Wirtschaftszeitung Wsgljad und in unzähligen anderen regierungsfreundlichen Medien: „Wen interessiert dieser Nawalny? Wenn man gewollt hätte, hätte man ihn getötet.“ Aber spezielles Nowitschok sei da sicher nicht im Spiel, sagt Rink.
Jetzt mache ich einen Sprung in die Vergangenheit und erinnere Sie daran, wie 1995 Iwan Kiwelidi ermordet wurde. Der Vorsitzende der Assoziation russischer Banken starb unter schweren Qualen im Krankenhaus. Davor hatte er mehrmals telefoniert. Am Telefonhörer wurde eine Substanz entdeckt, die der Nowitschok-Gruppe zugeordnet werden konnte. Offenbar war der Hörer aufgeschraubt und ein Wattebausch mit der Substanz hineingelegt worden. Mit diesem Hörer in der Hand hatte er mehrmals telefoniert.
Der wichtigste Experte im Fernsehen ist der Mann, der Nowitschok in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat
Wie ist die Substanz dort hingekommen? Die Mörder hatten sie von [Rink] bekommen – dem Kommentator, den wir heute im Staatsfernsehen sehen, dem Chefpropagandisten und Verfechter der Version, dass Nawalny keinesfalls mit Nowitschok vergiftet worden sei.
Das ist ein schwerer Vorwurf.
Das ist es. Deswegen antworte ich auch mit seinen Worten. Aus dem Verhörprotokoll vom 16. Februar 2000: „Als ich in Schichany gearbeitet habe, in eben diesem Labor, hatte ich einen Konflikt mit Rjabow.“ Rjabow war irgendein hohes Tier im kriminellen Milieu.
„Er fragte mich nach Gift, um einen Hund zu vergiften. Ich gab ihm Diphacinon, ein Rattengift. Aber er kam wieder und sagte, das passe nicht, er brauche etwas für Menschen. Er hat mich bedroht. Ich bekam Angst und sicherte ihm zu, ein entsprechendes Gift zu besorgen.“
Wie hat er dieses Gift besorgt? Er ging in das Labor, in dem er viele Jahre gearbeitet hatte. Bei dem Labor handelte es sich um das Staatliche Institut für Technologien organischer Synthese in Schichany. Das war eine geschlossene, streng geheime Einrichtung.
Er bat seine ehemalige Angestellte, Nowitschok zu synthetisieren, das sogenannte VX – das ist ein Nervengift, das als chemische Waffe eingesetzt wird, und füllte sich Ampullen mit je etwa 0,25 Gramm ab. Drei davon verstaute er in seiner Garage.
Wurde der Mensch, der das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?
Der Mensch schleppt hunderte tödlicher Dosen aus einem vom FSB bewachten Labor in seine Garage in einer Stadt, die, wie wir wissen, auch heute noch bewacht wird, lange nachdem die chemischen Waffen vernichtet wurden – so zumindest die offiziellen Angaben.
Im Gerichtssaal bekommt Rink folgende Frage gestellt: „War Ihnen zu dem Zeitpunkt, als Sie die von Ihnen hergestellten Substanzen weitergaben, bewusst, dass sie gegen Menschen eingesetzt würden?“ Der Staatsanwalt wollte sich vergewissern. „Ja, mir war bewusst, dass diese Leute vorhatten, sie gegen Menschen einzusetzen.“
Entschuldigen Sie, welches Gerichtsprotokoll meinen Sie? Gab es einen Prozess gegen Rink?
Vor zwei Jahren hat Roman Schleinow für die Novaya Gazeta recherchiert und jetzt haben wir weitergemacht. Wir haben die Materialien im Zusammenhang mit den Skripals untersucht. Und da sind wir auf dieses Strafverfahren gestoßen.
Was glauben Sie: Wurde dieser Mensch, der hunderte Menschenleben gefährdet und das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?
Es war also ein Verfahren gegen Rink?
Es war der Prozess im Fall Kiwelidi. Rink war da als Zeuge! Das ist eine Zeugenaussage. Und er blieb auch Zeuge, denn ich denke mal, er ist äußerst nützlich. Dieser Kerl kann alles herstellen. Wer weiß, was er noch in seiner Garage unter der Werkbank hat. Das alles lässt sich wunderbar am Gesetz vorbei einsetzen. Wissen Sie, für wie viel er eine Ampulle, deren Inhalt hunderte Menschen umbringen könnte, an Mörder verkauft? Für 1500 US-Dollar.
Da kann man sich in etwa ausrechnen, was ihm ein Menschenleben wert ist, diesem großen Fernsehexperten in staatlichen und staatsnahen Sendern und propagandistischen Talkshows.
Als ihn die Kollegin, die auf seine Bitte hin Nowitschok synthetisierte, fragte: „Ist das nicht gefährlich?“, erwiderte er: „Nein, nein, ich mache das fürs Militär.“ Sie hakte nach: „Warum denn fürs Militär, wir sind doch eine zivile Einrichtung?“ Und er: „Naja, das haben Militärs schwarz bestellt.“ Niemand hat sich gewundert.
Ich würde gern über Folgendes sprechen: Die Vergiftung von Alexej Nawalny – wäre es die erste Geschichte dieser Art, würde man vermutlich nicht so viel darüber sprechen, aber wir haben das schon so oft mitangesehen …
Genau, und irgendwie steckt Rink da mit drin. Jemand muss ihm den Befehl erteilt haben. Bei uns kommt ja keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung, Einladung und Vorbesprechung des Themas.
Bei uns kommt keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung oder Einladung
Außerdem stellen sich mir noch weitere Fragen. Erinnern Sie sich daran, wie im April vergangenen Jahres unser Kollege Dimitri Bykow, unser Rezensent und Ihr Moderator, aus Jekaterinburg nach Ufa geflogen ist, wo er eine Veranstaltung hatte? Bei der Landung lag er im Koma. Ich flog mit einem herausragenden Neurochirurgen und Intensivarzt aus einer der besten Kliniken hin. Als wir ankamen war Bykow völlig ruhig – er lag tatsächlich im Koma. Es wurde entschieden, dass er in eine andere Intensivklinik verlegt werden musste, mit anderen Versorgungsmöglichkeiten, anderer Ausstattung.
Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Das bereue ich heute. Ich dachte: Bykow eben, vielleicht hat er was Falsches gegessen. Vielleicht gesundheitliche Probleme. Wer weiß. Kann ja alles sein. Außerdem ist er ein absoluter Workaholic. Er schuftet Tag und Nacht. Vielleicht war er einfach überarbeitet. Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige. Der Zug ist offenbar schon abgefahren.
Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige
Uns war klar, dass wir ein Krankentransportflugzeug brauchten. Unsere Zeitung – wir haben eine Krankenversicherung – kam für die Kosten auf. Die Maschine mit zwei Intensivmedizinern an Bord war bereits unterwegs, als der Pilot uns plötzlich mitteilte, er hätte vom Gesundheitsministerium den Befehl erhalten, umzukehren und nicht nach Ufa zu fliegen. Wir waren schockiert. Das Flugzeug war bezahlt, sollte eigentlich bald landen. Dann versuchte man auch noch, den Arzt zurückzurufen, mit dem ich gekommen war. Später hieß es dann, das Gesundheitsministerium sehe keine Notwendigkeit einer Verlegung, er solle bleiben, wo er ist.
Das kommt einem bekannt vor.
Genau das meine ich auch. Als das mit Nawalny passierte, habe ich eins und eins zusammengezählt: den Flughafen, das, was vor dem Flug geschah, damit dann auf dem Flug alles passiert. Nach dem Flug liegt der Mensch im Koma. Dann muss er verlegt werden in eine geeignete Intensivklinik – wie auch immer man das nennt –, damit andere Maßnahmen ergriffen werden können. Doch dieser Vorgang wird durch sonderbare Anordnungen verzögert, so wie man bei Bykow versucht hatte, das Flugzeug umkehren zu lassen.
Aber es ist nicht umgekehrt.
Der Pilot sagte damals: „In zehn Minuten werde ich dem Befehl folgen müssen und umkehren, den Kurs ändern.“ Ich sage es offen: Ich habe also jemanden angerufen, einen der wenigen Kontakte, den ich von Treffen mit Chefredakteuren und hohen Politikern hatte. Er war damals und ist auch heute noch auf einem der höchsten Posten. Acht Minuten später teilte der Pilot uns mit, es sei eine Erlaubnis vom Himmel gefallen, er könne seinen Flug doch fortsetzen. Die Erlaubnis kam vom Kreml.
Als das alles mit Nawalny passiert ist und wir uns gefragt haben, was wohl dahintersteckt … Ob die Ärzte in Omsk vielleicht etwas sehen, was wir nicht sehen ...
Ob etwas durcheinandergeraten ist? Durchaus möglich. Aber wenn ich jetzt sehe, dass bei Bykow derselbe Algorithmus am Werk war: Hotel, Flughafen, Flugzeug, Koma, Notfallklinik, Verzögerungen beim Transport …
Ich möchte keine Schlüsse ziehen. Neulich habe ich einen sehr treffenden Satz gehört: „Die Wahrheit genügt uns nicht, wir brauchen Fakten.“ Ich liefere Ihnen also nur Fakten. Sie stehen für sich. Das sind die Fakten über Rink, unseren gegenwärtigen Experten und Propagandisten. Das sind die Fakten über die Evakuierung von Bykow. Die Fakten über Politkowskaja – ich habe ja schon oft erzählt, wie das damals [als Politkowskaja 2004 nach Beslan flog, um über die dortige Geiselnahme zu berichten – dek] vonstatten ging: Flugzeug, Koma, zerstörte Proben, Krankenhaus. Die Proben gingen im Flughafen kaputt, Blut und Erbrochenes gingen verloren. [Politkowskaja überlebte – 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Die Hintermänner der Tat sind bis heute nicht bekannt – dek.]
Und auf der anderen Seite ist da ein Rink, der eine unbekannte Menge Ampullen an jemanden weitergegeben hat. Da fügen sich in meinem Kopf die Puzzleteile zusammen. Ich will diese Gedanken verjagen, will das alles nicht glauben.
Ja, lassen Sie uns bei den Fakten bleiben, die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen.
Bitte, gern. Schlussfolgerungen sind ja kein Gift.