Anfang März hatte Putin vor den Gefahren des Internets gerade für Jugendliche gewarnt, die im Netz zum Suizid oder zur Teilnahme an illegalen Aktionen aufgefordert würden. Mit fast gleichlautender Begründung verlangsamte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor am 10. März plötzlich den Kurznachrichtendienst Twitter. Gleichzeitig lagen Seiten von staatlichen Institutionen lahm – viele fühlten sich an den Kampf von Roskomnadsor gegen Telegram 2018 erinnert.
Was genau ist passiert? Warum ausgerechnet jetzt? Und ist das überhaupt legal?
Ein Überblick von Meduza in fünf Fragen und Antworten.
1. Was ist passiert?
Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat erklärt, dass sie vom 10. März an die Zugangsgeschwindigkeit zu Twitter in Russland verlangsamen wird. Erklärt wird das damit, dass das Soziale Netzwerk auf Bitten der Regulationsbehörde nicht reagiert, „rechtswidrigen Content“ zu entfernen: Aufrufe zum Selbstmord, extremistische Materialien, Kinderpornographie, Informationen zu Drogen et cetera.
Roskomnadsor bestätigt, dass Twitter derartige Forderungen schon über viele Jahre ignoriert, genau genommen seit 2017. Wenn die Leitung des Kurznachrichtendienstes seinen Ansatz nicht ändert, würden „die Maßnahmen zur Einflussnahme erweitert“. Mit anderen Worten: Twitter könnte in Russland blockiert werden.
2. Entfernt Twitter das alles tatsächlich nicht?
Twitter entfernt Inhalte, jedoch nicht in dem Umfang, wie Roskomnadsor das gern hätte. Laut dem letzten Transparency Report der Plattform, hat der Kurznachrichtendienst in der ersten Hälfte 2020 von russischen Staatsorganen 8949 Anfragen bekommen, Content unterschiedlichsten Inhalts zu entfernen. Dem ist Twitter in gut 20 Prozent der Fälle nachgekommen: 1437 Tweets wurden auf dem Gebiet Russlands gesperrt.
Gegen 628 Accounts wurden gemäß der Nutzungsbedingungen des Sozialen Netzwerks Maßnahmen ergriffen – sei es, dass Content entfernt oder Accounts blockiert wurden. Twitter selbst legt jedoch nicht offen, was genau unternommen wurde.
Roskomnadsor behauptet, seit 2017 über 28.000 Löschaufforderungen an Twitter geschickt zu haben, jedoch habe Twitter 3168 Materialien mit verbotenem Inhalt immer noch nicht entfernt.
3. Warum können sich Roskomnadsor und Twitter nicht einigen?
Es gibt seit Langem Probleme zwischen Roskomnadsor und Twitter. Beispielsweise erfüllt Twitter nicht die gesetzliche Forderung, persönliche Daten russischer User auf Servern in Russland zu speichern. Dafür wurde das Soziale Netzwerk Anfang 2020 mit einer Geldstrafe von vier Millionen Rubel [damals etwa 56.000 Euro – dek] belegt, was natürlich keinerlei Wirkung auf die Firmenleitung hatte.
In den letzten Monaten fordert Roskomnadsor besonders eifrig, dass Soziale Netzwerke auf seine Bitte hin Inhalte entfernen. Dies ist vor allem auf die verstärkte Protestaktivität im Zusammenhang mit der Vergiftung, Rückkehr und Verhaftung Alexej Nawalnys zurückzuführen. Im Ordnungswidrigkeitengesetz stehen seit dem 30. Dezember 2020 denn auch „Sanktionen im Fall der Unterlassung von beschränkenden Maßnahmen beim Zugang zu Informationen, die einen Minderjährigen zur Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung, Kundgebung, Demonstration verleiten“. Twitter hat es bisher nicht eilig, diese neue Regel einzuhalten.
Außerdem missfällt Roskomnadsor außerordentlich, wie Twitter Accounts mit prorussischer Propaganda blockiert. Ende Februar hat die Behörde Twitter zur Erklärungen aufgefordert wegen 100 gesperrter Accounts, die angeblich der russischen Trollfabrik gehören.
4. Ist die Verlangsamung des Zugriffs auf Twitter überhaupt legal?
Das ist eine umstrittene Frage. In der aktuellen Gesetzgebung gibt es keine Regelung, die explizit eine mögliche Geschwindigkeitsdrosselung für Internetressourcen vorsieht, falls diese den Forderungen der Regierung nicht entsprechen, wie der Jurist und Partner des Zentrums für Digitalrechte Sarkis Dabrinjan gegenüber Meduza erklärt und die Direktorin des Instituts für Internetforschung Karen Kasarjan bestätigt.
Nach Angaben beider Gesprächspartner von Meduza nutzt Roskomnadsor zur Begründung der Geschwindigkeitsbegrenzung für Twitter ein Schlupfloch im Gesetz über das souveräne Runet, das im November 2019 in Kraft getreten ist. Eine der gesetzlichen Bestimmungen besagt Folgendes: Das Zugänglichmachen von Informationen, die nach russischen Gesetzen einer Beschränkung unterliegen, gelte als „Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Internets auf dem Gebiet der Russischen Föderation“. Roskomnadsor muss diese „Gefahr“ in eine interne Liste aufnehmen und anschließend festlegen, wie man darauf reagiert, einschließlich konkreter Maßnahmen zur Beseitigung der „Gefahr“. Zu solchen Maßnahmen zählen die „Veränderung von Routen für Telekommunikationsmitteilungen“ und die „Veränderung der Konfiguration von Verbindungsmitteln“.
Das sind sehr schwammige Formulierungen, mit denen man quasi beliebige Handlungen im Telekommunikationswesen begründen kann, darunter eben auch die Verlangsamung von Zugriffsgeschwindigkeiten, da dafür tatsächlich die „Konfiguration der Verbindungsmittel“ verändert wird.
Aber ob das Vorgehen von Roskomnadsor legal ist, lässt sich nicht eindeutig sagen, denn gesetzlich ist ein genaues Vorgehen festgelegt, und ob dieses eingehalten wurde, weiß man nicht.
5. Sollte Twitter vielleicht einfach gegen die Entscheidung von Roskomnadsor klagen?
Die Plattform hat das Recht, sich an ein russisches Gericht zu wenden, um das Vorgehen von Roskomnadsor anzufechten. „Doch die Chancen, dass eine amerikanische Social-Media-Plattform im Haus- und Hofgericht von Roskomnadsor im Moskauer Taganski-Bezirk gewinnt, gehen gegen Null“, meint Sarkis Darbinjan.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Maria Kolomytschenko/Meduza
Übersetzung: dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 12.03.2021