Maxim Lossew ist ein Schüler aus der Oblast Brjansk, rund 380 Kilometer südwestlich von Moskau. Kurz nachdem Oppositionspolitiker Nawalny einen Korruptionsbericht über Premier Medwedew vorgelegt hatte, rief Maxim über Vkontakte dazu auf, an einer Unterstützer-Demo für Nawalny teilzunehmen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Lossew wurde daraufhin von der Polizei zur Unterredung abgeholt – aus dem Klassenzimmer heraus. Die Schuldirektorin Kira Petrowna Gribanowskaja und eine Lehrerin, die ganz zu Beginn als „Raissa Alexandrowna“ angesprochen wird, diskutierten mit den Schülern darüber – und kommen dabei auch auf Themen wie den Krieg in der Ukraine, Patriotismus und die politische Opposition. Dabei zeigen die Schüler großes Selbstbewusstsein gegenüber den regierungsloyalen Lehrkräften.
Ein Handy-Mitschnitt der Diskussion landete im Internet, Nawalnys Wahlkampfteam verbreitete das Video über Vkontakte. Es wurde bislang bereits über eine Millionen Mal angesehen, die Schüler wurden zu „neuen Helden des russischen Internets“. dekoder bringt die Mitschrift in deutscher Übersetzung. Da die Aufnahme oftmals kein Bild, sondern nur Ton liefert, ist nicht immer einfach zuzuordnen, wer gerade spricht.
Direktorin [Kira Petrowna]: Raissa Alexandrowna, darf ich? Für die, die sich für Nawalnys Aktivitäten interessieren: Gut, er fordert die Absetzung unserer aktuellen Regierung, ein „Nein zu Korruption“ und so weiter. Welche konkreten Maßnahmen schlägt er denn vor? An Kundgebungen teilzunehmen? Zu sagen, was der für ein Fiesling ist?
Ein Schüler: Er will einfach Antworten hören. Er hat ein Video zu Medwedew gemacht, und jetzt will er Antworten von der Staatsmacht.
Direktorin: Und?
Ein Schüler: Die schweigt.
Direktorin: Moment mal. Nehmen wir an, ihr macht ein Video über Kira Petrowna, schreibt, die ist so und so, kümmert sich nicht um was weiß ich, bei der in der Schule ist der Teufel los; ihr versammelt euch und fordert eine Antwort. Was glaubt ihr, geh ich da hin und rede mit euch?
Ein Schüler: Nein.
Direktorin [aufgeregt]: Eben, er auch nicht! Das ist doch lächerlich! Ein politisches Programm – das wären konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft, die Ausarbeitung von Plänen. Das, was der macht, ist reinste Provokation. Versteht ihr? Ihr versteht das noch nicht. Die Wirtschaftslage ist bei uns derzeit sehr instabil, das sage ich geradeheraus. Ein ökonomisches Loch. [Ihre Stimme beruhigt sich wieder etwas] Und was ist die Ursache? Ihr hattet das doch in Sozialkunde und so weiter. Ihr wisst ja, dass es im Grunde im Land eine Wirtschaftsblockade gibt. Na, dann möchte ich mal hören, was ihr wisst: Was erleben wir derzeit?
Ein Schüler: Eine Krise.
Direktorin: Und was hat die Krise ausgelöst?
[Unverständlich]
Ein Schüler: Die Sanktionen, die Europäische Union, diese ganze Blockade.
Direktorin: Nochmal bitte, wer? Die Europäische Union, richtig? Das heißt, wir haben jetzt eine sehr konsequente und sehr stramme Politik unseres Leaders. Er hat international ein sehr hohes Ansehen. Warum? Wegen seiner Außenpolitik. Die Innenpolitik, klar, die schwächelt. Warum? Ja, weil kein Geld da ist. Und das spüren wir jetzt, vor allem ...
Ein Schüler: Aber was für eine Außenpolitik wird denn bei uns bitteschön gemacht? Amerika ist gegen uns, Europa ist gegen uns.
Direktorin: Und woran liegt das, hm? Weswegen?
Ein Schüler: Wegen der Krim, weil wir die einkassiert haben quasi.
Direktorin: Und das findest du schlecht?
Lehrerin: Haben wir sie denn einkassiert?
Ein Schüler: Na, wir sind quasi in eine Krise eingetreten.
Lehrerin: Es gab ein Referendum …
[Unverständlich]
Direktorin: Gut, erzähl mir mal, was da aus deiner Sicht passiert ist! Da bin ich jetzt gespannt! Erzähl mir das, vielleicht kenne ich ja irgendeine Sichtweise noch nicht.
Ein Schüler: Na, warum haben sie denn gegen uns Sanktionen verhängt?!
Direktorin: Das hattest du gerade schon selbst beantwortet.
Lehrerin: Wegen der Demonstration von Stärke. Weil wir Stärke gezeigt haben.
Ein Schüler: Wegen der Krim.
Direktorin: Weißt du, warum … Ja, warum hat denn der Krieg in der Ukraine überhaupt angefangen?
Ein Schüler: Na, wegen der Revolution ...
Direktorin: Weswegen?
Ein Schüler: Wegen dem Machtwechsel.
Direktorin: Ach, mein Junge, du liest nichts und weißt nichts. Dein Wissen ist sehr oberflächlich. Wie ist dieser ganze Konflikt überhaupt entstanden? Warum hat sich da Amerika eingemischt?
Ein Schüler: Hat es sich ja gar nicht offiziell.
[Unverständlich]
Direktorin: Und wofür hat sich die Krim dann entschieden? Und wie hat Amerika das bewertet?
Ein Schüler: Haben Sie dort amerikanische Truppen gesehen, in der Ukraine?
Direktorin: Hast du denn russische Truppen gesehen in der Ukraine?
Ein Schüler: Ja. [Lachen]
Da gibt’s Videos, das können Sie sich gar nicht vorstellen.
Direktorin: Videos – die sind meistens gestellt.
Lehrerin: Man darf denen nicht glauben ...
[Unverständlich]
Ein Schüler: Ich habe etliche Informationen gehört, dass die Freunde von irgendwelchen Leuten ...
Direktorin: Leute! Ich seh schon, ihr betrachtet dieses Problem einseitig. Und euch fehlt der politische Überblick. Das Problem ist ganz klar umrissen: Ihr habt Nawalny gesehen, habt seine Videos angeguckt, das war’s. Und schon denkt ihr so. Eine eigene Meinung dazu habt ihr nicht, nur das, was man euch aufdrückt. Und dann benutzt ihr auch noch manchmal ungeprüfte Quellen oder sogar, wenn man so will, Quellen, die zur Provokation dienen.
Lehrerin: Wie Marionetten ...
Ein Schüler: Und wenn wir einfach der gleichen Meinung sind wie er?
Direktorin: Habt ihr denn eine Meinung? Lest erst mal ein bisschen. Ich sag euch das, schaut euch nicht nur diese ... Wenn jemand behauptet, dass es hier so schlecht ist, dann seht euch mal andere Quellen an. Warum glaubt ihr nur einer Quelle?
Lehrerin: Jeder Fakt gehört dem Zweifel unterzogen!
Ein Schüler: Wir betrachten ja nicht nur eine Quelle.
Direktorin: Na, ihr schaut offenbar nur in eine Richtung.
Ein Schüler: Unser Fernsehen zeigt ja nur, was dem Staat zuträglich ist ...
Direktorin: Hört ihr nicht Voice of America?
[Unverständlich]
Direktorin: Ich sehe schon, die staatsbürgerliche Haltung haben wir euch nicht richtig beigebracht. Was das staatsbürgerliche Bewusstsein betrifft, zeigt ihr große Defizite. Patrioten gibt es bei euch in der Klasse also keine?
(Einwurf Schüler: Was ist denn ein Patriot? Einer, der die Regierung unterstützt?)
Direktorin: Ich habe mit Nikita gesprochen … Nikita, willst du ein Patriot sein?
Lehrerin [unterbricht]: Entschuldigung. Bitte, organisiere doch einfach eine Gruppe und mach einen Subbotnik in deiner Straße.
Direktorin: Leute, hebt mal die Hand, wer von euch engagiert sich in einer Freiwilligen-Bewegung?
[Stille]
Direktorin: Wozu wurde denn die Freiwilligenarbeit eingeführt? Da haben wir eure staatsbürgerliche Haltung! Ihr braucht euch gar nicht mit Putin und Medwedew da oben zu beschäftigen. Seht euch unseren Bezirk an!
Ein Schüler: Aber die Freiwilligenarbeit wird doch von Einiges Russland organisiert, oder? Und unterstützt?
Direktorin: Ja.
Ein Schüler: Eben, und wir sind gegen Einiges Russland.
[Gelächter]
Ein Schüler: Verstehen Sie?
Lehrerin: Warum sprichst du in der Mehrzahl und redest von „wir“?
Ein Schüler: Hebt doch bitte mal die Hand, wer gegen Einiges Russland ist.
Weiterer Schüler: Ich!
[Gelächter, unverständlich]
Ein Schüler: Wir sind gegen Einiges Russland.
Direktorin: Und wofür seid ihr?
Ein Schüler: Für Gerechtigkeit.
Weibliche Stimme: Und was ist Gerechtigkeit?
Weibliche Stimme: Das, was es bei uns nicht gibt.
[Unverständlich]
Ein Schüler: Gerechtigkeit ist, wenn sich die Regierung um die Menschen kümmert, nicht nur um sich selbst, … um die einfachen Bürger, nicht um ihre Millionen. Viele Menschen wollen ja in einem freien Staat leben, in einem freien Land ...
Direktorin: Ihr glaubt also, dass sich mit Putin und Medwedew das Leben im Land verschlechtert hat?
Weiterer Schüler: Ja.
Ein Schüler: Nein, sie kleben aber an ihren Sesseln. Sie sitzen da schon zu lange.
Direktorin: Hast du mal in einer anderen Zeit gelebt, anscheinend hab ich da was verpasst? Unter welcher Regierung hast du gut gelebt?
Ein Schüler: Ich?
Direktorin: Unter Putin und Medwedew ist es für dich also schlechter geworden?
Ein Schüler: Wir kennen unsere Geschichte.
Direktorin: Allerdings.
Schüler: Eben …
Direktorin: Was – eben? Ich frage dich: Konkret du, unter welchem Regierenden hast du gut gelebt?
Schüler: Wir hatten ja im Grunde nur einen.
Direktorin [aufgeregt]: Du hast gesagt, es ist schlechter geworden. Dabei habt ihr die wilden 1990er Jahre gar nicht erlebt! Damals hatte jeder, Verzeihung, eine Handwaffe oder Feuerwaffe! Chaos und Willkür im ganzen Land! Ich war damals Studentin! Dass man sich abends nach acht nicht mehr raus auf die Straße traute. Das habt ihr nie erlebt!
Schüler: Wollen Sie, dass es wieder so wird?
Lehrerin: Ihr wollt das!
Schüler: Gerade jetzt wurde ein Mensch wegen nichts eingesperrt. Einfach von der Polizei mitgenommen.
Direktorin: Das ist Bürgerkrieg.
Schüler: Das ist Willkür.
Direktorin: Richtig, Willkür, denn wohin führt jede Demonstration und jede Spaltung der Macht?
Lehrerin: Zu einer politischen Krise und weiter zum Bürgerkrieg.
Direktorin: Und weiter zum Bürgerkrieg. Brudermord.
Lehrerin: Wollt ihr es wie in der Ukraine, so wie es bei uns 1918 war?
Schüler: Wir wollen diese Regierung nicht.
Weiterer Schüler: Nein, wir wollen … unsere eigene Sicht der Dinge.
Eine der Lehrkräfte: Ihr werdet Euer eigenes 1918 erleben …
Lehrerin: Sagt mal: Könnt ihr das wirklich jetzt erreichen? Und wie?
Ein Schüler: Na, sich einfach zusammentun.
Lehrerin: Und dann?
Schüler: Dann werden wir eine Masse.
[Stimmengewirr]
Weiterer Schüler: Eine ordentliche Masse!
Lehrerin: Eine Masse. Und dann, was dann?
Ein Schüler: Dann sehen es die Leute wenigstens. Dann sehen sie, dass es Bürger gibt.
[Unverständlich]
Lehrerin: Bürger – das ist eine Handvoll Leute, die angeführt werden von Erwachsenen, die sozusagen nichts zu verlieren haben.
Direktorin: Leute, wir haben zumindest versucht, euch ein wenig zu ermahnen und zu warnen. Was jetzt beginnt, das ist Polemik, und die ist sinnlos. Ihr müsst jetzt ohnehin – ich rate euch, ich bestehe nicht darauf, aber ich rate euch – zu Herzen nehmen, was wir gesagt haben, und entsprechende Schlüsse ziehen. Und ich denke dabei vor allem an eure Zukunft.
Lehrerin: Vergesst nicht, das ist entscheidend.
Direktorin: Ich habe mich bei diesen Regierungsvertretern beschwert. Ich habe versucht, Maxim zu verteidigen. Habe gesagt, dass das nur so eine völlig unnötige jugendliche Dummheit gewesen ist.
Glaubt mir, der hat es gerade nicht gut. Gar nicht gut. Ich möchte nicht, dass auch nur einer von euch in so eine Lage gerät. Aber jetzt ist es an euch. Alles, was ihr hier sagt, im Klassenzimmer, sind leere Worte. [Unverständlich] Ich sag’s nochmal, werdet anständige Leute und erreicht etwas. Das ist das Richtige.
Lehrerin [leise]: Aber das hier, das ist kindisch. Leute, ich bitte euch nochmal. Denkt nach, denkt mit ... So, Leute, womit fangen wir jetzt an? Mit den Zensuren oder mit den Hausaufgaben …