Russland und die Ukraine werden eines Tages wieder nachbarschaftlich miteinander umgehen, meint Oleg Kaschin. Auf dem Weg dahin seien große Gesten nicht wirklich hilfreich. Ein russischer Kniefall in Kiew nach Brandtschem Vorbild, wie von manchen Ukrainern erwartet, sei nicht nur unrealistisch: Es dürfe überhaupt nicht um Schuld und Reue gehen. Beide Länder müssten vielmehr bei sich selbst beginnen, sich mit ihrem jeweiligen Selbstbild kritisch auseinandersetzen und die Traumata des Weltkrieges und der Sowjetgeschichte neu bewerten. Nur so könne auf politischer Ebene eine Versöhnung gelingen.
Unsere Fotostrecke für den Monat April zeigt, dass gute Nachbarschaft zwischen Russen und Ukrainern – und mehr als das – in unzähligen Familien alltäglich gelebt wird.
Klar – Ozeanien war immer im Krieg mit Ostasien. Doch dass Russland und die Ukraine für immer durch eine Mauer aus Hass voneinander getrennt sein könnten, ist nicht einmal jetzt denkbar. Auch wenn in Russland die Ukrainerin Sawtschenko gerade zu 22 Jahren Strafkolonie verurteilt und in der Ukraine Grabowski, der Anwalt der Russen Alexandrow und Jerofejew, ermordet wurde. Der dritte Kriegsfrühling ist nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und davon zu reden, dennoch: Nachbarschaft, enge Beziehungen, gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe – das sind die Sicherheitsreserven, die nach wie vor darauf hoffen lassen, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern in nicht allzu ferner Zeit, wenn schon nicht freundschaftlich wird, so doch zumindest gut. Im Lauf der Geschichte haben sich schon viele grimmige Feinde wieder versöhnt.
Man wird ja wohl noch träumen dürfen?
Nehmen wir unsere Geschichte: Die spätstalinistische UdSSR war mit Jugoslawien verfeindet, doch nach Stalins Tod wurde das Reich Josip Broz Titos praktisch sofort zum Bruderland. Gegen Ende des Jahrhunderts war Serbien dann fast das einzige Land der Welt, das man in Russland nicht nur aus diplomatischen Gründen als Bruderland bezeichnete.
In den russisch-chinesischen Beziehungen ist vom bewaffneten Widerstand auf der Insel Zhenbao Dao vor weniger als einem halben Jahrhundert heute nichts mehr zu sehen, obwohl doch die Generation, die sich ernsthaft zu einem sowjetisch-chinesischen Krieg bereitgemacht hatte, noch lebt. Die Zeit, ja sogar eine ziemlich kurze Zeit, kann beliebige internationale Diskrepanzen fortwischen. Und was heute unlösbar scheint, wird morgen ganz normal. Noch ist es weit bis dahin, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen, nicht wahr?
Für ukrainische Publizisten ist derzeit das eindringliche Bild des deutschen Kanzlers Willy Brandt sehr wichtig, wie er vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kniet. So sieht unsere zukünftige Versöhnung von der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze gesehen aus: Der künftige Präsident Russlands fährt nach Kiew, unterzeichnet ein Dokument zur Übergabe der Halbinsel Krim, und dann kniet er nieder vor dem Denkmal der Himmlischen Hundertschaft oder der Helden der Antiterroroperation und bedauert, was Putins Russland der Ukraine angetan hat. Solche Bilder sind übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Freundschaft sogar jetzt stärker ist, als es scheinen mag.
Der universelle Kult um den Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern hat einen gemeinsamen sowjetischen Ursprung. Er ist unauslöschlich im Bewusstsein der Massen verankert und wird über die Maßen für Erklärung der aktuellen politischen Ereignisse strapaziert. Der Feind ist immer der Faschist, „wir“ sind immer das Opfer und gleichzeitig die Sieger über ihn. Das Bild Willy Brandts auf den Knien ist genau von dort, woher auch die Banderowzy in unseren Fernsehnachrichten kommen, und das Trauma, das diese Bilder zum Leben erweckt, ist bei Russen wie Ukrainern dasselbe.
Das sowjetische Russland war die arme Verwandte
Die Russische Föderation ist ein riesiges, schwer zu regierendes Land mit schwachen, ineffektiven und korrupten staatlichen Strukturen, die man irgendwann nicht nur reformieren, sondern ganz von Neuem erschaffen muss. Das materielle und immaterielle Erbe, das Russland von der Sowjetunion blieb – das Eigentum der ehemaligen Union, einschließlich jenes im Ausland, ein Platz in der UNO, Atomwaffen – das alles zwang die Russen, ihr Land ernsthaft als direkte Nachfolgerin der Sowjetunion wahrzunehmen. Doch in Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Die UdSSR war keine paritätische Allianz von 15 Republiken. Jede Republik (oder jede Gruppe von Republiken – die baltische, südkaukasische, zentralasiatische) hatte ihre exklusiven Merkmale. Die RSFSR war trotz ihrer enormen Größe immer die arme Verwandte der anderen – ohne eigene kommunistische Partei, eigene Akademie der Wissenschaften, ohne eigenen staatlichen Rundfunk, überhaupt ohne alles.
Das sowjetische Russland hätte man auf den Karten der UdSSR ehrlicherweise als „den Rest“ bezeichnen sollen. Es bestand ja auch im administrativ-territorialen Sinn aus jenen Regionen, die man nicht den anderen Republiken zuordnen konnte.
Der Putinsche Mythos von „Neurussland“ (sowie der damit verwandte, ältere Limonowsche Mythos von „Südsibirien“, also von Kasachstan, in das Limonow einst einen Einmarsch geplant haben soll, wofür er inhaftiert wurde) ist ja genau daraus entstanden: Die Regionen der Ostukraine, die sich weder in der Bevölkerungszusammensetzung noch in der wirtschaftlichen Struktur noch in ihrer Geschichte von den russischen Schwarzerdegebieten unterscheiden, wurden einst der innersowjetischen Grenzziehung Teil der Ukrainischen SSR (USSR) zugeteilt. Und ja, besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Krim, die der RSFSR lange nach der Grenzziehung weggenommen und deswegen als willkürlicher, einer Laune Chruschtschows zu verdankender Verlust wahrgenommen wurde.
Zwei gegensätzliche Traumata
Als 1991 diese Nichtganzrepublik zur „Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion“ erklärt wurde, war das eine ziemliche Katastrophe, allerdings keine geopolitische, sondern eher eine psychologische. Und die Bevölkerung dieses größten Bruchstücks der UdSSR und seine Führung begannen mit dem Gefühl zu leben, eben kein Bruchstück, sondern immer noch ein vollwertiges Imperium zu sein, das in gewisser Hinsicht auch zu einer historischen Revanche fähig ist.
Das Trauma der ehemaligen Ukrainischen SSR war ganz anderer Natur. Die größte aller „vollwertigen“ Sowjetrepubliken war genauso ein Flickenteppich wie die RSFSR. Zu ihr gehörten gleichzeitig zentralrussische Oblasts, kaukasische Republiken und derart exotische Gebiete wie Tuwa oder Kaliningrad; die Ukrainische SSR vereinte in ihren Grenzen althergebrachte russische Gouvernements ebenso wie ehemalige Gebiete Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Ungarns, die vor der Entstehung der Sowjetunion noch nie mit Kiew und Charkow demselben Staat angehört hatten.
Allerdings hat sich schon seit der „Ukrainisierung“ in der Vorkriegszeit die Patchwork-Decke Ukrainische SSR nie erlaubt, die Rolle eines Vielvölkerstaats zu spielen (im Unterschied etwa zum sowjetischen Kasachstan, das sich niemals als Republik der Kasachen begriffen hatte) – es war immer dezidiert eine Republik der Ukrainer, die überhaupt keinen kulturellen oder menschlichen Unterschied zwischen Odessa und Lwiw, Donezk und Ternopil machte.
Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die langjährigen sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Breshnew, die die Sowjetunion insgesamt 28 Jahre regierten, aus der Ukraine nach Moskau gekommen waren. So führte gegen Ende der Ära Breschnew der „Dnipropetrowsker Klan“ das ganze riesige Land, was nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Ukrainischen SSR innerhalb der Union bleiben konnte.
Falsches Selbstbild
Für den Kreml unter Chruschtschow und Breshnew war die Ukraine das Zentrum. Aber dieses Paradox wurde in keiner Weise bei der Erschaffung der postsowjetischen ukrainischen Nationalmythologie berücksichtigt – da bekam die ehemalige Ukrainische SSR eine Selbstwahrnehmung ähnlich wie Polen zugeschrieben: Ein Land, das ganz im Zentrum gesamteuropäischer Widersprüche steht, seit Jahrhunderten für einen eigenen Staat kämpft und mehrere Teilungen und einen Vernichtungskrieg überlebt hat.
Wir sehen also, dass sich in dem Konflikt, der 2014 in eine aktive Phase getreten ist, die RSFSR mit dem Selbstbild des Russischen Reiches und die Ukrainische SSR mit dem Selbstbild Polens gegenüberstehen. Der beste Weg zur Versöhnung wäre die beiderseitige Verwerfung dieser Selbstbilder.
Doch man muss realistischerweise davon ausgehen, dass die ukrainische Seite nach dem Maidan und dem Krieg noch stärker daran festhält, dass sie nicht das Land Chruschtschows und Breshnews ist. Sie versteht sich als Land der Opfer des Holodomor, der Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee und der Helden der Antiterroroperation, vor denen jeder Moskauer, so wie Willy Brandt vor den Warschauern, auf die Knie fallen muss (und dem sie auch, wenn er hinkniet, nicht verzeihen).
Deswegen wird sich das Postputinsche Russland wohl herauswinden und in erster Linie für sich selbst etwas verstehen müssen, was es weder 1991, noch danach je verstanden hat.
Russland braucht eine Entsowjetisierung
Zunächst einmal hat das heutige Russland keinerlei Recht auf das moralische und historische Erbe der imperialen Vergangenheit. Die RSFSR, deren reale Nachfolgerin die RF ist, hatte niemals eine vollgültige Staatlichkeit und war für die Russen, die jenseits ihrer Grenzen, in anderen Republiken, lebten, nie die Heimat. Sie konnte ihrer Bevölkerung nie mehr bieten als die Überbleibsel, die dieser Republik vom Unionszentrum zugeteilt wurden, das ihre menschlichen und natürlichen Ressourcen ausbeutete und ihr (im Unterschied zu jeder anderen Sowjetrepublik) nicht einmal eine eigene nationale Intelligenzija zugestand.
Wie ungewöhnlich das heute auch klingen mag, doch früher oder später muss Russland eine Entsowjetisierung durchlaufen und lernen, „wir“ zu sagen. Nicht über Spionageabwehrbedienstete und Begleitsoldaten der Gulags, sondern über jene, deren Knochen im Weißmeer-Ostsee-Kanal verwesen oder im Erdboden in Kolyma eingefroren sind. Nicht über metzelnde Marschälle, sondern über die unbestatteten Soldaten von Mjasnoi Bor oder Rshew.
Die Identifikation, die Suche nach sich selbst im historischen und kulturellen Koordinatensystem – das ist es, was die Ukraine bereits durchlaufen hat, unser Land jedoch bisher nicht.
Anstatt sich mit dem Aufbau seiner eigenen Nation und Staatlichkeit zu befassen, bildete sich das postsowjetische Russland ein, dass in dieser Hinsicht bei ihm alles in Ordnung sei. Und hat nun nach 25 Jahren einen umfassenden moralischen Bankrott anzumelden, zu dessen anschaulichstem Symbol das mit Somalia vergleichbare Kriegschaos wurde, das die Streitkräfte der RF auf den Trümmern des Donbass verursacht haben.
Für die Krim gelten eigene Regeln
Das ist es, was man der Ukraine tatsächlich wird zurückgeben müssen, indem man ihr hilft, Staat und Infrastruktur auf den von der russischen Welt zerstörten Gebieten wiederaufzubauen und keinerlei Dankbarkeit dafür erwartet. Eine besondere Schuld, die jeder Regierung Russlands nach Putin bleiben wird, sind die Bewohner des Donbass, die bereit waren, loyale Russen zu werden und sich die Möglichkeit nahmen, zusammen mit den Territorien in die Ukraine zurückzukehren. Diese Menschen wird Russland bei sich aufnehmen und mit allem versorgen müssen: mit Arbeit, Bildung, Wohnung – mit allem, was sie dank des „neurussischen“ Abenteuers verloren haben.
Wichtig ist, zu verstehen, dass für die Krim all das nicht gilt. Es ist klar, dass Unstimmigkeiten zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR auch in Zukunft auf der Krim ausgetragen werden. Die Machthaber im künftigen Russland werden für die Halbinsel auf jeden Fall eine neue Zukunft suchen müssen; anstelle der „Rückführung“ zu ukrainischen Bedingungen, die ein Phantasma und gegen die Krimbewohner selbst gerichtet ist. In diesem Sinn liegt Alexej Nawalny absolut richtig – die Krim ist kein Wurstbrot. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, sie zu halten, wird sehr bald feststellen, dass Russland diese Regierung gar nicht braucht.
Die Frage der Reue, die berühmten Knie Willy Brandts – auch das darf in der russisch-ukrainischen Beziehung der Zukunft einfach kein Thema sein. Lokale Kriege zwischen Nachbarländern – derer gab es in der Geschichte der Menschheit mehr als globale Katastrophen im Ausmaß eines Zweiten Weltkrieges. Die heutigen Serben und Kroaten haben vielleicht kein brüderliches Verhältnis, doch schneiden sie einander die Kehlen nicht durch. Die Ukrainer und wir Russen sind ihnen ähnlicher als den Deutschen, Juden und Polen, und wir müssen uns genau so verhalten wie sie: Ohne unnötig Schuld auf uns zu nehmen, wieder lernen, Nachbarn zu sein, zu handeln, zu reisen und einander zu verstehen.
Die staatliche und historische Weisheit, die eine künftige russische Regierung bei der Gestaltung der Beziehungen zur Ukraine braucht, wird darin bestehen, eine Alternative zum Modell „zahlen und bereuen“ zu finden. Denn das, und auch dies gilt es bereits jetzt zu verstehen, bringt Russland nichts Gutes. Und nicht nur Russland. Das sollte auch den Ukrainern klar sein. Frieden und gute Nachbarschaft ist ihnen nur mit einem Russland möglich, das nicht nur von imperialen Ambitionen befreit ist, sondern auch von unverdienter imperialer Schuld.