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Ist eine russisch-ukrainische Versöhnung möglich?

Russland und die Ukraine werden eines Tages wieder nachbarschaftlich miteinander umgehen, meint Oleg Kaschin. Auf dem Weg dahin seien große Gesten nicht wirklich hilfreich. Ein russischer Kniefall in Kiew nach Brandtschem Vorbild, wie von manchen Ukrainern erwartet, sei nicht nur unrealistisch: Es dürfe überhaupt nicht um Schuld und Reue gehen. Beide Länder müssten vielmehr bei sich selbst beginnen, sich mit ihrem jeweiligen Selbstbild kritisch auseinandersetzen und die Traumata des Weltkrieges und der Sowjetgeschichte neu bewerten. Nur so könne auf politischer Ebene eine Versöhnung gelingen.

Unsere Fotostrecke für den Monat April zeigt, dass gute Nachbarschaft zwischen Russen und Ukrainern – und mehr als das – in unzähligen Familien alltäglich gelebt wird.

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Klar – Ozeanien war immer im Krieg mit Ostasien. Doch dass Russland und die Ukraine für immer durch eine Mauer aus Hass voneinander getrennt sein könnten, ist nicht einmal jetzt denkbar. Auch wenn in Russland die Ukrainerin Sawtschenko gerade zu 22 Jahren Strafkolonie verurteilt und in der Ukraine Grabowski, der Anwalt der Russen Alexandrow und Jerofejew, ermordet wurde. Der dritte Kriegsfrühling ist nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und davon zu reden, dennoch: Nachbarschaft, enge Beziehungen, gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe – das sind die Sicherheitsreserven, die nach wie vor darauf hoffen lassen, dass das Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern in nicht allzu ferner Zeit, wenn schon nicht freundschaftlich wird, so doch zumindest gut. Im Lauf der Geschichte haben sich schon viele grimmige Feinde wieder versöhnt.

Man wird ja wohl noch träumen dürfen?

Nehmen wir unsere Geschichte: Die spätstalinistische UdSSR war mit Jugoslawien verfeindet, doch nach Stalins Tod wurde das Reich Josip Broz Titos praktisch sofort zum Bruderland. Gegen Ende des Jahrhunderts war Serbien dann fast das einzige Land der Welt, das man in Russland nicht nur aus diplomatischen Gründen als Bruderland bezeichnete.

In den russisch-chinesischen Beziehungen ist vom bewaffneten Widerstand auf der Insel Zhenbao Dao vor weniger als einem halben Jahrhundert heute nichts mehr zu sehen, obwohl doch die Generation, die sich ernsthaft zu einem sowjetisch-chinesischen Krieg bereitgemacht hatte, noch lebt. Die Zeit, ja sogar eine ziemlich kurze Zeit, kann beliebige internationale Diskrepanzen fortwischen. Und was heute unlösbar scheint, wird morgen ganz normal. Noch ist es weit bis dahin, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen, nicht wahr?  

Für ukrainische Publizisten ist derzeit das eindringliche Bild des deutschen Kanzlers Willy Brandt sehr wichtig, wie er vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kniet. So sieht unsere zukünftige Versöhnung von der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze gesehen aus: Der künftige Präsident Russlands fährt nach Kiew, unterzeichnet ein Dokument zur Übergabe der Halbinsel Krim, und dann kniet er nieder vor dem Denkmal der Himmlischen Hundertschaft oder der Helden der Antiterroroperation und bedauert, was Putins Russland der Ukraine angetan hat. Solche Bilder sind übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Freundschaft sogar jetzt stärker ist, als es scheinen mag.    

Der universelle Kult um den Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern hat einen gemeinsamen sowjetischen Ursprung. Er ist unauslöschlich im Bewusstsein der Massen verankert und wird über die Maßen für Erklärung der aktuellen politischen Ereignisse strapaziert. Der Feind ist immer der Faschist, „wir“ sind immer das Opfer und gleichzeitig die Sieger über ihn. Das Bild Willy Brandts auf den Knien ist genau von dort, woher auch die Banderowzy in unseren Fernsehnachrichten kommen, und das Trauma, das diese Bilder zum Leben erweckt, ist bei Russen wie Ukrainern dasselbe.      

Das sowjetische Russland war die arme Verwandte

Die Russische Föderation ist ein riesiges, schwer zu regierendes Land mit schwachen, ineffektiven und korrupten staatlichen Strukturen, die man irgendwann nicht nur reformieren, sondern ganz von Neuem erschaffen muss. Das materielle und immaterielle Erbe, das Russland von der Sowjetunion blieb – das Eigentum der ehemaligen Union, einschließlich jenes im Ausland, ein Platz in der UNO, Atomwaffen –  das alles zwang die Russen, ihr Land ernsthaft als direkte Nachfolgerin der Sowjetunion wahrzunehmen. Doch in Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Die UdSSR war keine paritätische Allianz von 15 Republiken. Jede Republik (oder jede Gruppe von Republiken – die baltische, südkaukasische, zentralasiatische) hatte ihre exklusiven Merkmale. Die RSFSR war trotz ihrer enormen Größe immer die arme Verwandte der anderen – ohne eigene kommunistische Partei, eigene Akademie der Wissenschaften, ohne eigenen staatlichen Rundfunk, überhaupt ohne alles.

Das sowjetische Russland hätte man auf den Karten der UdSSR ehrlicherweise als „den Rest“ bezeichnen sollen. Es bestand ja auch im administrativ-territorialen Sinn aus jenen Regionen, die man nicht den anderen Republiken zuordnen konnte.
Der Putinsche Mythos von „Neurussland“ (sowie der damit verwandte, ältere Limonowsche Mythos von „Südsibirien“, also von Kasachstan, in das Limonow einst einen Einmarsch geplant haben soll, wofür er inhaftiert wurde) ist ja genau daraus entstanden: Die Regionen der Ostukraine, die sich weder in der Bevölkerungszusammensetzung noch in der wirtschaftlichen Struktur noch in ihrer Geschichte von den russischen Schwarzerdegebieten unterscheiden, wurden einst der innersowjetischen Grenzziehung Teil der Ukrainischen SSR (USSR) zugeteilt. Und ja, besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Krim, die der RSFSR lange nach der Grenzziehung weggenommen und deswegen als willkürlicher, einer Laune Chruschtschows zu verdankender Verlust wahrgenommen wurde.

Zwei gegensätzliche Traumata

Als 1991 diese Nichtganzrepublik zur „Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion“ erklärt wurde, war das eine ziemliche Katastrophe, allerdings keine geopolitische, sondern eher eine psychologische. Und die Bevölkerung dieses größten Bruchstücks der UdSSR und seine Führung begannen mit dem Gefühl zu leben, eben kein Bruchstück, sondern immer noch ein vollwertiges Imperium zu sein, das in gewisser Hinsicht auch zu einer historischen Revanche fähig ist.   

Das Trauma der ehemaligen Ukrainischen SSR war ganz anderer Natur. Die größte aller „vollwertigen“ Sowjetrepubliken war genauso ein Flickenteppich wie die RSFSR. Zu ihr gehörten gleichzeitig zentralrussische Oblasts, kaukasische Republiken und derart exotische Gebiete wie Tuwa oder Kaliningrad; die Ukrainische SSR vereinte in ihren Grenzen althergebrachte russische Gouvernements ebenso wie ehemalige Gebiete Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Ungarns, die vor der Entstehung der Sowjetunion noch nie mit Kiew und Charkow demselben Staat angehört hatten.

Allerdings hat sich schon seit der „Ukrainisierung“ in der Vorkriegszeit die Patchwork-Decke Ukrainische SSR nie erlaubt, die Rolle eines Vielvölkerstaats zu spielen (im Unterschied etwa zum sowjetischen Kasachstan, das sich niemals als Republik der Kasachen begriffen hatte) – es war immer dezidiert eine Republik der Ukrainer, die überhaupt keinen kulturellen oder menschlichen Unterschied zwischen Odessa und Lwiw, Donezk und Ternopil machte.

Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die langjährigen sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Breshnew, die die Sowjetunion insgesamt 28 Jahre regierten, aus der Ukraine nach Moskau gekommen waren. So führte gegen Ende der Ära Breschnew der „Dnipropetrowsker Klan“ das ganze riesige Land, was nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Ukrainischen SSR innerhalb der Union bleiben konnte.  

Falsches Selbstbild

Für den Kreml unter Chruschtschow und Breshnew war die Ukraine das Zentrum. Aber dieses Paradox wurde in keiner Weise bei der Erschaffung der postsowjetischen ukrainischen Nationalmythologie berücksichtigt – da bekam die ehemalige Ukrainische SSR eine Selbstwahrnehmung ähnlich wie Polen zugeschrieben: Ein Land, das ganz im Zentrum gesamteuropäischer Widersprüche steht, seit Jahrhunderten für einen eigenen Staat kämpft und mehrere Teilungen und einen Vernichtungskrieg überlebt hat.

Wir sehen also, dass sich in dem Konflikt, der 2014 in eine aktive Phase getreten ist, die RSFSR mit dem Selbstbild des Russischen Reiches und die Ukrainische SSR mit dem Selbstbild Polens gegenüberstehen. Der beste Weg zur Versöhnung wäre die beiderseitige Verwerfung dieser Selbstbilder.

Doch man muss realistischerweise davon ausgehen, dass die ukrainische Seite nach dem Maidan und dem Krieg noch stärker daran festhält, dass sie nicht das Land Chruschtschows und Breshnews ist. Sie versteht sich als Land der Opfer des Holodomor, der Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee und der Helden der Antiterroroperation, vor denen jeder Moskauer, so wie Willy Brandt vor den Warschauern, auf die Knie fallen muss (und dem sie auch, wenn er hinkniet, nicht verzeihen).

Deswegen wird sich das Postputinsche Russland wohl herauswinden und in erster Linie für sich selbst etwas verstehen müssen, was es weder 1991, noch danach je verstanden hat.

Russland braucht eine Entsowjetisierung

Zunächst einmal hat das heutige Russland keinerlei Recht auf das moralische und historische Erbe der imperialen Vergangenheit. Die RSFSR, deren reale Nachfolgerin die RF ist, hatte niemals eine vollgültige Staatlichkeit und war für die Russen, die jenseits ihrer Grenzen, in anderen Republiken, lebten, nie die Heimat. Sie konnte ihrer Bevölkerung nie mehr bieten als die Überbleibsel, die dieser Republik vom Unionszentrum zugeteilt wurden, das ihre menschlichen und natürlichen Ressourcen ausbeutete und ihr (im Unterschied zu jeder anderen Sowjetrepublik) nicht einmal eine eigene nationale Intelligenzija zugestand.

Wie ungewöhnlich das heute auch klingen mag, doch früher oder später muss Russland eine Entsowjetisierung durchlaufen und lernen, „wir“ zu sagen. Nicht über Spionageabwehrbedienstete und Begleitsoldaten der Gulags, sondern über jene, deren Knochen im Weißmeer-Ostsee-Kanal verwesen oder im Erdboden in Kolyma eingefroren sind. Nicht über metzelnde Marschälle, sondern über die unbestatteten Soldaten von Mjasnoi Bor oder Rshew.

Die Identifikation, die Suche nach sich selbst im historischen und kulturellen Koordinatensystem – das ist es, was die Ukraine bereits durchlaufen hat, unser Land jedoch bisher nicht.   

Anstatt sich mit dem Aufbau seiner eigenen Nation und Staatlichkeit zu befassen, bildete sich das postsowjetische Russland ein, dass in dieser Hinsicht bei ihm alles in Ordnung sei. Und hat nun nach 25 Jahren einen umfassenden moralischen Bankrott anzumelden, zu dessen anschaulichstem Symbol das mit Somalia vergleichbare Kriegschaos wurde, das die Streitkräfte der RF auf den Trümmern des Donbass verursacht haben.

Für die Krim gelten eigene Regeln

Das ist es, was man der Ukraine tatsächlich wird zurückgeben müssen, indem man ihr hilft, Staat und Infrastruktur auf den von der russischen Welt zerstörten Gebieten wiederaufzubauen und keinerlei Dankbarkeit dafür erwartet. Eine besondere Schuld, die jeder Regierung Russlands nach Putin bleiben wird, sind die Bewohner des Donbass, die bereit waren, loyale Russen zu werden und sich die Möglichkeit nahmen, zusammen mit den Territorien in die Ukraine zurückzukehren. Diese Menschen wird Russland bei sich aufnehmen und mit allem versorgen müssen: mit Arbeit, Bildung, Wohnung – mit allem, was sie dank des „neurussischen“ Abenteuers verloren haben.

Wichtig ist, zu verstehen, dass für die Krim all das nicht gilt. Es ist klar, dass Unstimmigkeiten zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR auch in Zukunft auf der Krim ausgetragen werden. Die Machthaber im künftigen Russland werden für die Halbinsel auf jeden Fall eine neue Zukunft suchen müssen; anstelle der „Rückführung“ zu ukrainischen Bedingungen, die ein Phantasma und gegen die Krimbewohner selbst gerichtet ist. In diesem Sinn liegt Alexej Nawalny absolut richtig – die Krim ist kein Wurstbrot. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, sie zu halten, wird sehr bald feststellen, dass Russland diese Regierung gar nicht braucht.

Die Frage der Reue, die berühmten Knie Willy Brandts – auch das darf in der russisch-ukrainischen Beziehung der Zukunft einfach kein Thema sein. Lokale Kriege zwischen Nachbarländern – derer gab es in der Geschichte der Menschheit mehr als globale Katastrophen im Ausmaß eines Zweiten Weltkrieges. Die heutigen Serben und Kroaten haben vielleicht kein brüderliches Verhältnis, doch schneiden sie einander die Kehlen nicht durch. Die Ukrainer und wir Russen sind ihnen ähnlicher als den Deutschen, Juden und Polen, und wir müssen uns genau so verhalten wie sie: Ohne unnötig Schuld auf uns zu nehmen, wieder lernen, Nachbarn zu sein, zu handeln, zu reisen und einander zu verstehen.

Die staatliche und historische Weisheit, die eine künftige russische Regierung bei der Gestaltung der Beziehungen zur Ukraine braucht, wird darin bestehen, eine Alternative zum Modell „zahlen und bereuen“ zu finden.  Denn das, und auch dies gilt es bereits jetzt zu verstehen, bringt Russland nichts Gutes. Und nicht nur Russland. Das sollte auch den Ukrainern klar sein. Frieden und gute Nachbarschaft ist ihnen nur mit einem Russland möglich, das nicht nur von imperialen Ambitionen befreit ist, sondern auch von unverdienter imperialer Schuld.  

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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