Als im Februar/März 2014 plötzlich erste Soldaten in Tarnuniform, aber ohne Hoheitsabzeichen, scheinbar aus dem Nichts auf der Krim aufgetaucht sind, sprach die Bevölkerung von Grünen Männchen. Erst im April 2014, nach der Angliederung der Halbinsel an Russland, erwähnte Wladimir Putin in einem Interview, was eh alle geahnt hatten: nämlich, dass es russische Soldaten gewesen waren.
Als nun im Juli 2017 plötzlich deutsche Turbinen von Siemens auf der Krim auftauchten, und zwar trotz Embargo, behauptete der russische Industrie- und Handelsminister Denis Manturow, es seien keine deutschen, sondern russische Turbinen „aus Elementen ausländischer Produktion“.
Siemens gab in einer ersten Stellungnahme an, die Gasturbinen seien eigentlich für ein Projekt auf der südrussischen Halbinsel Taman hergestellt worden – und reichte Klage ein gegen den Abnehmer Technopromexport. Kritiker werfen dem deutschen Unternehmen jedoch vor, den Auftrag 2015 angenommen zu haben – zu einem Zeitpunkt, als bereits absehbar gewesen sei, dass die Turbinen für die Krim gedacht sind.
Tatjana Stanowaja deckt auf Republic die rhetorischen Parallelen auf zwischen Grünen Männchen und Siemens-Turbinen. Und sie ist sich sicher: Mit der Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und westlichen Unternehmen.
An Sanktionen hat sich Russland schon gewöhnt. Auch auf Siemens’ möglichen Rückzug vom russischen Markt reagiert man gelassen. „Wir kommen auch ohne euch zurecht“, verkünden fast einstimmig Arkadi Dworkowitsch, Alexander Nowak und Igor Artemjew.
Genauso einstimmig behaupten Experten allerdings das Gegenteil: Russland ist noch nicht in der Lage Gasturbinen in entsprechender Qualität selbst herzustellen.
Interessant ist an der gesamten Situation aber etwas ganz Anderes:
Wie konnten privatwirtschaftliche Interessen wichtiger werden als Staatsinteressen? Und wie wird sich das Ganze auf Russlands Beziehungen zu ausländischen Investoren auswirken?
Die Hauptrolle spielte in dieser Geschichte natürlich Sergej Tschemesow. Im August 2014 bat ihn Putin persönlich, ein Wärmekraftwerk auf der Krim zu bauen. Zu diesem Vorgang sagte der Generaldirektor der Staatsholding Rostec kein Wort.
Betrachtet man die jüngsten Aussagen des Generaldirektors, stellen die behandelten Themen irgendwelche Turbinen vollkommen in den Schatten: Die Flugabwehrraketensysteme, die Flugzeuge und Hubschrauber, die Panzer und KAMAZ-Lkws, mit denen sich Tschemesow beschäftigt – das alles wird der Regierung als ein Superprojekt präsentiert, um Russland von den Knien zu heben.
Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus
Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus. Im Zusammenhang mit der Krim hat Tschemesow Putin versprochen, ein Wärmekraftwerk zu bauen, das wird er auch tun. Über das, was dann kommt, sollen sich Medwedew und seine Regierung den Kopf zerbrechen.
Nur vier Tage nach Veröffentlichung der Stellungnahme von Rostec, man habe die Turbinen auf dem Sekundärmarkt erworben, machte sich der Minister für Industrie und Handel Denis Manturow daran, die Lage zu retten: „Wir haben unseren westlichen Kollegen versichert, dass es sich um Turbinen russischer Produktion handelt. Zugegeben, unter Verwendung von Elementen aus ausländischer Produktion. Dennoch gibt es ein russisches Zertifikat, und es sind russische Turbinen.“
Die Korrektur der Position ist offenkundig: Auf dem Sekundärmarkt gekaufte deutsche Turbinen und russische Turbinen mit Elementen aus ausländischer Produktion – ein gewisser Unterschied lässt sich nicht leugnen.
Die Regierung ist enttäuscht
Und das führt zu einer wichtigen Frage: Wie ist denn die Position der Regierung?
Während Siemens seine Anklage vorbereitete, die Europäische Kommission über eine Verschärfung der Sanktionen nachdachte und Deutschland mit einer Verschlechterung der Beziehungen drohte, kommentierte die russische Regierung das Geschehen als privatwirtschaftlich und nicht von staatlicher Relevanz. Stellungnahmen von Seiten der politischen Leader gab es keine – weder von Wladimir Putin noch von Dimitri Medwedew. Genauso wenig wie eine Aussage über russische Investitionsstrategien unter den Sanktionen.
Für die russische Regierung scheint es bei der entstandenen Situation also gar keine imageschädigende oder strategische Dimension zu geben – man betrachtet das Problem als ein privates.
Wenn nicht Siemens, dann Andere?!
Wenn man allerdings die öffentliche Position von Vertretern der russischen Regierung verallgemeinert (besonders deutlich äußerte sich Igor Artemjew), dann wird Russland, erstens, jeden Augenblick eigene Turbinen produzieren, die nicht schlechter sein werden als die deutschen. Wenn es das nicht längst getan hat.
Und zweitens: Sollte es noch keine Turbinen produziert haben, werden andere Konkurrenten an die Stelle von Siemens treten. „Ihren [Siemens’] Platz werden sehr bald andere einnehmen. Aus China, dem Nahen Osten oder aus Europa – was weiß ich“, äußerte sich Artemjew. Ihm zufolge werden es vermutlich „transnationale Firmen“ sein, „die dank der Globalisierung keine Angst vor irgendwelchen Regierungen haben“.
Das Wort Globalisierung bekommt in dieser schwierigen Lage plötzlich einen positiven Beiklang von Hoffnung. Dabei hat der antiglobalistisch eingestellte Kreml westliche transnationale Firmen bislang immer für ihren Egoismus und ihre doppelten Standards verflucht.
Bleibt nur noch zu klären, ob die großen westlichen Unternehmen, die zu einer Zusammenarbeit mit Russland bereit sind, Teil des internationalen antirussischen Imperialismus sind oder unsere letzte Hoffnung.
Die Donbass-Strategie
Die russische Regierung ist offenbar sehr enttäuscht von Siemens – sie hatte ein anderes Verhalten erwartet. Sowohl Rostec als auch die Regierung und der Kreml gingen offenbar davon aus, dass sie und Siemens in einer Mannschaft spielen, als sie lauthals und einhellig behaupteten, die auf die Krim gelieferten Turbinen seien russisch.
Dasselbe erwarteten sie wohl auch von den Deutschen, die in so einer Situation gezwungen gewesen wären, sich auf die Seite der russischen Regierung zu stellen, und nicht der deutschen; also ungefähr so zu handeln wie der Kreml bei seinen Stellungnahmen zur Anwesenheit russischer Truppen im Donbass: Anerkennen, dass Truppen da sind, aber leugnen, dass sie russisch sind.
Die schroffe und eindeutige Weigerung von Siemens, nach diesen Regeln zu spielen, löste in Russland eine Lawine der Empörung aus. Man warf dem Konzern Heuchelei vor (sie wollen schmutzig Geld machen, aber sauber aus der Sache hervorgehen!).
Mit der jetzigen Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und den westlichen globalen Unternehmen: Nun brauchen sie für den Zugang zum russischen Markt nicht nur „Pragmatismus“ und „Sachlichkeit“ (sprich die Anerkennung der westlichen Sanktionspolitik als ineffektiv und schädlich), sondern auch die Bereitschaft „schmutzig“ zu spielen, und zwar ohne Rücksicht auf die „Weltgemeinschaft“.