Der Mord an dem 40-jährigen Georgier Zelimkhan Khangoshvili in Berlin hat eine diplomatische Krise zwischen Russland und Deutschland ausgelöst. Der mutmaßliche Täter war schnell gefasst, die Bundesanwaltschaft sieht „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür, dass „staatliche Stellen“ in Russland den Mord in Auftrag gegeben haben. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, würde der Kreml des Staatsterrorismus beschuldigt – was weitere diplomatische Verwerfungen nach sich ziehen würde.
Diese aber gibt es schon jetzt zuhauf: Da Moskau bei der Aufklärung des Mordes nicht kooperiere, hat sich Berlin entschieden, zwei Agenten des Militärgeheimdienstes GRU auszuweisen, die als Diplomaten akkreditiert waren. Der Kreml reagierte traditionsgemäß „symmetrisch“, indem er zwei deutsche Diplomaten des Landes verwies.
Auf der Pressekonferenz des Normandie-Gipfels in Paris am 9. Dezember 2019 sagte Putin noch, Russland habe mehrmals ohne Erfolg die Auslieferung von Khangoshvili beantragt. „Wir sind nicht angefragt worden, jemanden auszuliefern [...] Das kommt jetzt alles im Nachhinein, das hört sich ein bisschen nach Rechtfertigung an“, dementierte der deutsche Außenminister Heiko Maas einige Tage später. (UPDATE: Auf der Jahrespressekonferenz am 19.12.2019 räumte Putin ein, dass über eine Auslieferung nicht auf offizieller, nur auf Geheimdienstebene gesprochen wurde.)
Wer war eigentlich Zelimkhan Khangoshvili? Was wirft der Kreml ihm vor? Und warum nimmt Moskau trotz weitgehender internationaler Isolation erneut solch gravierende Verwerfungen in Kauf? Oleg Kaschin kommentiert auf Republic.
Mit dem am 23. August in Berlin ermordeten georgischen Tschetschenen Zelimkhan Khangoshvili geschehen die sonderbarsten Dinge, und zwar nach dessen Tod. So etwas passiert wohl zum ersten Mal überhaupt: Erst wird jemand ermordet und danach denkt man sich aus, warum. Ganz allgemein ist die Rede von einem „tschetschenischen Warlord“, aber das kann alles Mögliche bedeuten. 1979 geboren, war er 15 Jahre alt, als der erste Einmarsch begann, und 20 Jahre zu Beginn des zweiten. In beiden Fällen war das zwar ein durchaus wehrfähiges Alter (es geht schließlich um den Kaukasus), trotzdem wird der junge Mann wohl kaum ein außerordentlicher Schlächter gewesen sein. Wenn, dann hätte sicher irgendjemand schon von ihm gehört.
Wer war Zelimkhan Khangoshvili?
Er lebte im Pankissi-Tal – und ja, das war in dieser Zeit ein übler Ort. Damals war es sehr wahrscheinlich, dass ein junger, dort lebender Tschetschene (in dem Tal liegen tschetschenische Dörfer) einer gewissen Logik folgend auf der Seite der tschetschenischen Rebellen kämpft. Doch hat damals ganz Tschetschenien gekämpft.
Schon unter Saakaschwili wurde über Khangoshvili in der georgischen Presse geschrieben, dass er für die georgischen Geheimdienste arbeite, ihnen dabei helfe, einen Einmarsch Russlands ins Pankissi-Tal zu verhindern. Dann, nach dem Krieg, haben georgische Sicherheitskräfte vor sieben Jahren im Pankissi-Tal irgendeine tschetschenische Bande entwaffnet – und unter deren Unterhändlern soll wohl auch Khangoshvili gewesen sein. Das ist bestimmt nichts Gutes, aber nicht Horror Horror Horror, wie man es uns heute erzählen will.
Wer erzählt, und was wird erzählt?
Wer erzählt, und was wird erzählt? Hauptquelle ist die Polizei in Inguschetien, das berüchtigte inguschische Zentrum E, also eine Behörde, in die kein deutscher Journalist hineingelangt, der noch ein paar Nachfragen hat, und wo ein Moskauer Journalist nicht mal per Telefon durchkommt. (Erst kürzlich wurde der oberste Extremismusbekämpfer dort zu Grabe getragen, der wahrscheinlich einer Blutrache zum Opfer fiel – so viel zu Sitten, Recht und so weiter)
Nun erinnern sich die inguschischen Extremismusbekämpfer nach dem Mord an Khangoshvili daran („erinnern“!), dass sie ihn seit 2008 suchen. Ganz schön lange, aber das nur, weil sie sorgsam Ermittlungsinformationen über seinen möglichen Aufenthaltsort durchgearbeitet haben. Warum er gesucht wurde? Weil er 2004 an dem Überfall von Bassajews Einheiten auf Nasran beteiligt gewesen sei.
Jetzt in Paris hat Putin auf die Frage eines deutschen Journalisten eine Zahl genannt: 98 Tote. Was ist das für eine Ziffer? Eben die vom Überfall auf Nasran. Das war der größte und gewiss verwegenste Überfall Bassajews in der Nachkriegszeit (die aktive Phase der Kampfhandlungen war damals schon vorüber). Selbst wenn die (durch nichts bestätigten) Information über eine Beteiligung Khangoshvilis an diesem Überfall zuträfe, so wäre es doch vermessen, die Verantwortung für die 98 Toten ihm persönlich zuzuschreiben – vielleicht saß er am Steuer eines LKW oder kaufte auf dem Markt Essen für Bassajew.
Dann sprach Putin von den Explosionen in der Moskauer U-Bahn, ohne genauer zu sagen, von welchen (entweder von 2004 zwischen den Stationen Awtosawodskaja und Pawelezkaja, oder denen von 2010 in den Stationen Lubjanka und Park Kultury). Und es wäre peinlich, daran zu erinnern, dass die russischen Behörden in beiden Fällen öffentlich verkündet haben, die Organisatoren der Terroranschläge seien ermittelt worden. Weder 2004 noch 2010 war von einem Khangoshvili die Rede.
Moskau hat die deutschen Behörden doch sicher um Auslieferung gebeten?
Aber gut, einmal angenommen, alles war genauso, wie es Putin und die inguschischen Extremismusbekämpfer sagen, und wir glauben, dass Khangoshvili ein blutrünstiger Terrorist war, der lange gesucht wurde. Daran kann man tatsächlich nur glauben (Beweise liegen ja nicht vor), und die stärkste Probe für diesen Glauben, das sind Anfragen. Wenn ein Terrorist in Deutschland lebt und Russland an ihn herankommen möchte, dann hat Moskau die deutschen Behörden doch sicher um eine Auslieferung gebeten?
Die deutsche Regierung aber sagt: Nein, es gab keine Anfragen. Der deutsche Peskow, Regierungssprecher Steffen Seibert, erklärt offiziell, dass es keinen Antrag gegeben habe. Russlands Peskow sagt, es habe einen gegeben, nimmt dann Worte in den Mund, die selbst für ihn untypisch sind, und spricht von „außerordentlich blutigen Terroranschlägen und Massenmorden“, wobei er nichts belegt.
Welchem Peskow glaubt man da eher, unserem oder dem deutschen?
Wer ist Wadim Sokolow?
Der Killer – das ist eine Frage für sich. Die Deutschen haben ihn gefasst, er hat einen russischen Pass auf den Namen Wadim Sokolow, und der Insider bezeichnet ihn als Wadim Krassikow, einen 2014 untergetauchten mehrfachen Mörder, der früher in einer Spezialeinheit des FSB gedient hat. Wird er reden, und was wird er aussagen – das ist die bisher spannendste Frage.
Die russische Seite, unter anderem Putin persönlich, leugnet eine Verwicklung des russischen Staates in die Ermordung Khangoshvilis. Doch auf eine Stelle aus dem Buch des Genres „Das waren wir nicht!“ kommen zehn aus einem anderen Genre: „Das war ein derart übler Schurke, dass es schon lange an der Zeit war, ihn zu töten.“
Das ist das gleiche Verhältnis wie im Fall Skripal, und es ist klar, wie das in den Ohren der Deutschen klingt – wohl kaum anders als letztes Jahr in den Ohren der Engländer. Sanktionen, zerrüttete Beziehungen, neue spannende Details, das alles wird es zweifellos geben. Und mit der gegenseitigen Ausweisung von Diplomaten wird die Sache nicht beendet sein. Für Russland, das sowieso mit allen im Streit liegt, stehen die Dinge offensichtlich nicht allzu gut. Doch war es das wohl wert.
Warum? Wer hat das entschieden?
Die wichtigste Frage ist aber: Warum? Der Insider nimmt an, der Grund für alles sei darin zu suchen, dass Khangoshvili 2008 die georgische Armee beraten hat, und dass auf Leute, die den Georgiern während des Fünftage-Krieges irgendwie geholfen haben, Jagd gemacht wird. So schrieb etwa die New York Times über einen russischen Killer im ukrainischen Riwne: Dieser hat einen Angehörigen der ukrainischen Sicherheitskräfte ermordet, der ebenfalls 2008 in Georgien tätig gewesen war. Bei dem Killer hat man eine Liste von sechs Ukrainern gefunden, die in Georgien gekämpft hatten.
Wer weiß – vielleicht führen die russischen Geheimdienste tatsächlich jenen Krieg zu Ende, irgendwie ist die Sache ja heilig. Aber dafür die Beziehungen zu Deutschland aufs Spiel setzen? Wer hat das entschieden, wer hat die Risiken gegeneinander abgewogen, wer hat die Szenarien vorausgesehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln? Entweder niemand, oder es gibt einen zehn Jahre alten Befehl, der lautet „Alle umbringen“, und alle führen ihn aus, ohne darüber nachzudenken, in welchem Maße sie jetzt damit ihrem Staate schaden. Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?
Jetzt habt ihr euren Khangoshvili endlich, und was bringt’s?
Die schlimmste (und wahrscheinlichste) Antwort wäre: Nichts. Einfach, weil sie es wollten; sie liquidierten ihn, weil sie sich das leisten können. Das Problem ist nur, dass längst auch so schon niemand mehr daran zweifelt, dass sie das können. Und doch versuchen sie immer weiter, es zu beweisen, als ob es ihr Ziel wäre, in der ganzen Welt dieses unstrittige Bild vom Übeltäter Russland zu erzeugen. Damit ja niemand darauf kommt, mit Russland Beziehungen zu knüpfen. Damit von außen ein Eiserner Vorhang fällt und eine Isolation entsteht, die sie selbst hervorrufen.