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Viel Rauschen um Nichts

Alle reden von Fake-Nachrichten, es gibt aber auch jede Menge Nicht-Nachrichten: Oleg Kaschin auf Republic über das immer lauter werdende Inforauschen.

Источник Republic

Bald schon wird sich, wie gemeinhin bekannt, die Staatsduma der Onanie hingeben. Dieser Scherz bietet sich nicht nur an, man kommt gar nicht nicht daran vorbei – und er ist aufgekommen als Reaktion auf die Initiative des Abgeordneten Onischtschenko. Der hat gefordert, an Schulen über das Übel der Masturbation zu sprechen.

Wenn „in der Staatsduma etwas gefordert wurde“, dann hat aller Wahrscheinlichkeit nach irgendein Journalist einen enorm auf skandalöse Bekanntheit erpichten Abgeordneten angerufen und ihn gefragt, ob es nicht irgendwas Neues gibt. Und selbst wenn es nichts richtig Neues gibt, filtern die beiden gemeinsam nach und nach die potentiell auf große Resonanz stoßenden Themen heraus, und am Ende des Gesprächs sagt der Abgeordnete, er werde möglicherweise versuchen, irgend sowas in die nächste Sitzung einzubringen. 

Die Nachricht ist fertig, sie erscheint in den Feeds. Und obwohl es kein Ereignis gibt und so gut wie garantiert auch keines geben wird: Irgendwer glaubt’s, irgendwer empört sich, irgendwer denkt sich lustige Scherze beim Weiterspinnen der Nachricht aus, und alle klicken drauf. 
Die Redakteure des Fernsehsenders RTVi hatten die sehr gute Idee, solche Nachrichten einem besonderen Feed mit dem Namen „Inforauschen“ zuzuordnen und dabei jedes Mal dröge zu erklären, warum gerade diese Nachricht bedeutungslos ist, aber solche Erklärungen funktionieren grundsätzlich nicht – Menschen, für die ein skandalöser Abgeordneter und eine beiläufige Phrase von ihm sofort Gesetz sind, die vertiefen sich in der Regel nicht in Erklärungen, und die Nachricht entwickelt ihr Eigenleben. So ist es nun bei Onischtschenko und dem Onanieren.

Rauschen, wo keine Info ist

Inforauschen – das ist nicht das Gleiche wie Fake News und postfaktische Wahrheit. Sogar im Vergleich zu gewöhnlichen Nachrichten schlagen Nachrichten dieser Art alle Glaubwürdigkeitsrekorde und können wohl nur konkurrieren mit einem dieser unerträglichen offiziösen Berichte der Sorte „Wladimir Putin hat ein Arbeitstreffen abgehalten“ . 
Wenn Sie im Feed lesen, dass Pjotr Wersilow vergiftet wurde, bedarf das einer Überprüfung, aber die Behauptung, dass Onischtschenko etwas gefordert hat, bedarf keiner Überprüfung – und wenn sich doch jemand daran macht, es zu überprüfen, reichen einige Sekunden aus, um das wörtliche Zitat herauszusuchen – nun ja, er hat es gefordert, alles klar. 
Inforauschen besteht wirklich aus dem, was absolut nicht zu bestreiten ist. Wenn sich Senator Puschkow in seinem Twitteraccount über jemanden lustig gemacht hat, besteht kein Zweifel – er hat sich lustig gemacht. Wenn Maria Sacharowa gefordert hat, in England eine Hauptverwaltung für Rebranding (glawnoje rebrendingowoje Uprawlenije, GRU) aufzubauen – besteht ebenfalls keine Notwendigkeit, es zu überprüfen, über so etwas wird nicht gescherzt, sie hat es tatsächlich gefordert. 

Es ist schwer zu ermitteln, wie viel Prozent des Nachrichtenstroms heute aus diesem Zeug bestehen – manchmal scheint es der größere Teil zu sein, aber selbst wenn es der geringere Teil ist, bestimmen doch ausgerechnet diese Nachrichten heute weitgehend Russlands Informationsantlitz. Was gibt es Neues im Land? Sacharowa hat gescherzt, Puschkow hat gelacht, in der Staatsduma wurde etwas gefordert.

Durch die recht niedrige Spontanität in den heutigen russischen Medien kommen Zweifel auf, dass das Inforauschen von selbst entsteht – wenn sämtliche populäre Medien, einschließlich der staatlichen, keinen einzigen Tweet von Senator Puschkow auslassen (der einfach nur Senator, nicht einmal Ausschussvorsitzender ist), ist es keine Paranoia, von einer Methodik zu sprechen, in der als eigener Punkt das Monitoring von Puschkows Tweeds mit anschließender medialer Verbreitung aufgeführt ist.

Unbestreitbarer Champion: Sergej Dorenko

Wenn eine sehr abstrakte Nachricht à la „im Netz wurde sich lustig gemacht“ durch die Feeds strömt (in der Regel ist die Rede von ein oder zwei namenlosen Bloggern), kann man das ebenfalls schwer den Naturgewalten zuschreiben. 

Es gibt einen unbestreitbaren Champion, der solche Nachrichten in seinen Sendungen am häufigsten erwähnt (sowohl nach Augenmaß als auch nach Angaben von Medialogia): der von Sergej Dorenko geleitete Radiosender Govorit Moskva.  Auf diesem Sender wurde ausgestrahlt, wie Onischtschenko die Bekämpfung der Onanie fordert, auf diesem Sender wurde ausgestrahlt, wie sich die Abgeordnete Vera Gansja über das niedrige Gehalt der Abgeordneten beklagt. Eine Flut von Nachrichten verweist auf Govorit Moskva.

Hinter jeder Nachricht, das ist klar zu erkennen, steht strapaziöse und hochwertige Reporterarbeit, die Leute klingeln die Newsmaker an, bauen Beziehungen zu ihnen auf, ringen ihnen Exklusivgeschichten ab, und nur durch ein kleines Detail wird der ganze Prozess zu wahrem Antijournalismus: Diese ganze strapaziöse und hochwertige Arbeit wird mit dem Ziel verrichtet, dass etwas offenkundig Sinnloses dabei herauskommt; Viralität allein um der Viralität willen stellt den Erfolg dar, und das, was früher als von niemandem benötigte Pressemitteilungen verschickt wurde, wird nun als wertvolles Exklusivmaterial ausgegraben und verkauft. 
Die künstlichen und bedeutungslosen Nachrichten, mühsam vom Radiosender Govorit Moskva hervorgebracht, verbreiten sich über die Feeds der anderen Massenmedien und über soziale Netzwerke, und sie nehmen ihren Platz ein zwischen den tatsächlichen Nachrichten und dem übrigen Inforauschen.

Es ist anzunehmen, dass sich Sergej Dorenko eben diese Lizenz für Inforauschen auf irgendeine Art und Weise erarbeitet hat und Bevollmächtigter für die Erzeugung von Pseudonachrichten geworden ist. Vor einigen Jahren hatte Aram Gabreljanows Izvestia diesen Posten, und nun, wo der Platz freigeworden ist, hat ihn der Radiosender Govorit Moskva eingenommen, und die besondere Rolle des Senders innerhalb der Struktur der parastaatlichen Medien verdient jetzt auf jeden Fall sehr große Aufmerksamkeit. Es ist klar, dass es sehr viele verschiedene Methoden gibt, mit denen die Gesellschaft durch Medien manipuliert werden kann. Aber wenn sich die Staatsmacht nun genau diese Methode aneignet, wird sie aus ihr noch Nutzen ziehen, darauf müssen wir gefasst sein.

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Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

Russlands Parlament, die Föderale Versammlung, ist in zwei Kammern organisiert. Als Oberhaus vertritt der Föderationsrat die Regionen. Das Unterhaus wird als Staatsduma (Gosudarstwennaja Duma) bezeichnet. Die Namensgebung weist auf die historische Vorgängerin hin, die von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917 als Staatsduma des Russischen Imperiums tagte.

In drei Schritten zur Dominanz der Exekutive

Am 12. Dezember 1993 fanden die Wahlen zur ersten postsowjetischen Duma und gleichzeitig das Referendum über die Verfassung der Russischen Föderation statt. Dies war die endgültige Abkehr vom Obersten Rat und damit vom Sowjetparlamentarismus, der keine Gewaltenteilung kannte.

Die Beziehungen im Dreieck zwischen Präsident, Regierung und Duma lassen sich in drei Phasen einteilen. Sie unterscheiden sich  im Hinblick darauf, inwieweit der Präsident durch parlamentarische Fraktionen und Gruppen unterstützt wird: 1994 bis 1999 waren die pro-präsidentiellen Parteien in der Minderheit, 2000 bis 2003 konnte Putin eine Koalition aus vier Fraktionen schmieden, seit 2004 dominiert Einiges Russland die Duma.1

Grafik 1: Fraktionen und Gruppen in den Legislaturperioden I bis VI (1994-2016)2

Die gesamte erste Phase, und auch Teile der zweiten, waren durch ein schwach institutionalisiertes Parteiensystem3 gekennzeichnet: Den pro-präsidentiellen Parteien der Macht standen eine Vielzahl anderer Fraktionen und Gruppen gegenüber. In der zweiten Duma stellten die Kommunisten gar die meisten Abgeordneten (s. Grafik 1). Dennoch regierte Jelzin nicht einfach mit Präsidialerlassen am Parlament vorbei, sondern handelte Unterstützung für Gesetzesvorhaben aus, in dem er beispielsweise im Gegenzug bestimmten Interessensgruppen bei der Haushaltsplanung entgegenkam4.

Mit den Parlamentswahlen von 1999 änderte sich das Bild. Die neu kreierte Regierungspartei Einheit erlangte zwar nur knapp 17 Prozent der Mandate, zusammen mit drei weiteren Fraktionen setzte sie jedoch die von Präsident und Regierung eingebrachten Gesetze weitgehend um. Mit den Wahlerfolgen der Einheit-Nachfolgerin Einiges Russland in den Jahren 2003 und 2007 wurde in Phase drei der Übergang zu einem dominanten Parteiensystem mit einem Parlament, das weitgehend von der Exekutive bestimmt wird, vollzogen. Die Politikwissenschaftlerin Petra Stykow spricht daher bei der Staatsduma von einer „institutionalisierten, autoritären Legislative“.5

Auswirkungen auf die Funktionen des Parlaments

Die Ausübung der verfassungsmäßig garantierten Kernfunktionen fällt in den drei Phasen entsprechend unterschiedlich aus.

Erstens: Die Ernennung des Regierungschefs. Im Unterschied zu vergleichbaren politischen Systemen werden in Russland Regierungsposten nicht an parlamentarische Parteien vergeben6, sondern Präsidenten bestellen Technokratenregierungen. Allerdings muss die Duma zustimmen, wenn der neugewählte Präsident den Regierungschef ernennt. Während Jelzin noch zu Eingeständnissen gezwungen war (zur Auflösung der Duma nach der dritten Ablehnung kam es allerdings nie), wurden Putins Ministerpräsidenten ausnahmslos mit deutlichen Mehrheiten bestätigt.

Zweitens: Misstrauensvoten gegen die Regierung. Abstimmungen wurden 1994, 1995, 2001, 2003 und 2005 lanciert. Lediglich 1995 nach der Geiselnahme in Budjonnowsk kam eine Mehrheit von 241 Stimmen zustande – allerdings gestattet es die Verfassung auch hier dem Präsidenten, das Misstrauensvotum zu ignorieren. Die Duma kann außerdem ein komplexes Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einleiten, sollte der Verdacht bestehen, dass sich der Präsident einer schweren Straftat schuldig gemacht hat. 1998 lancierte die Fraktion der Kommunisten ein solches Verfahren gegen Jelzin, jedoch fand keiner der fünf zur Abstimmung gebrachten Anklagepunkte die nötige Zweidrittel-Mehrheit für die Weiterleitung an den Föderationsrat und das Verfassungsgericht.

Drittens: Die Gesetzgebung, das Hoheitsrecht der Duma. Grafik 2 veranschaulicht, dass zwischen 1994 und 1999 die Hälfte bis ein Drittel der von Präsident und Regierung initiierten Gesetzesentwürfe nicht die Unterstützung der Duma fanden. Mit dem Siegeszug von Einiges Russland ändert sich das Bild: Exekutive Gesetzesentwürfe scheitern nur noch in Ausnahmefällen. Umgekehrt verhält es sich mit präsidentiellen Vetos: In den 1990er Jahren legte Jelzin durchschnittlich gegen 15 bis 25 Prozent der Gesetze, die von der Staatsduma verabschiedet wurden, Widerspruch ein. Unter Putin starb das Veto im Laufe der Zeit aus.
 

 


Grafik 2: Erfolgsrate von Präsident und Regierung in der Duma, Quelle: Autor

 

 


Grafik 3: Veto russischer Präsidenten, Quelle: Autor

Allgemein lässt sich festhalten, dass sich mit dem Übergang in die Putin-Ära die Abwesenheit von Abgeordneten bei Abstimmungen verringert und die Fraktionsdisziplin erhöht hat. Auch die Anzahl der Gesetze und die Geschwindigkeit, mit der diese verabschiedet werden, hat sich gesteigert.

Die Duma als Faktor der Regimestabilität

In den Medien kursiert der angebliche Ausspruch des ehemaligen Vorsitzenden Boris Gryzlov, dass die Duma „kein Ort für Diskussionen“7 sei. Der Volksmund sieht in ihr gar einen „durchgedrehten Drucker“, der Gesetze am laufenden Band ausspuckt. Als „autoritäre, institutionalisierte Legislative“ kann die Duma nicht mehr ihrer horizontalen Kontrollfunktion8 gegenüber Präsident und Regierung nachkommen. Dies macht die Kammer jedoch nicht bedeutungslos, denn bürokratische Verteilungskämpfe um Ressourcen innerhalb der Exekutive werden auch in und mit der Duma ausgetragen9. Wenn Ministerien etwa um Ressourcen konkurrieren, können diesen loyal gesinnte Abgeordnete Gesetze verzögern oder Änderungen beantragen.

Nach den Protesten 2011/2012 wies die Gesetzgebung vor allem in den Bereichen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einen zunehmend repressiven Charakter auf. Ein Beispiel dafür ist das Gesetz über ausländische Agenten10. Mit anhaltender Wirtschaftskrise nehmen außerdem Gesetze überhand, die über Steuern und andere Abgaben Eigentum von Bürgern und Unternehmern „konfiszieren“. Die Politologin Ekaterina Schulmann11 argumentiert, dass es immerhin besser sei, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, als ins Gefängnis zu wandern. Sicher ist jedenfalls, dass die Duma auch nach den Wahlen 2016 eine wichtige Rolle dabei spielt, Repression und Konfiskation ins Gleichgewicht zu bringen und somit über Regimestabilität und -wandel mitentscheiden wird.


1.Chaisty, P. (2014): Presidential dynamics and legislative velocity in Russia, 1994–2007, in: East European Politics, 30(4), S. 588-601
2.Interaktive Quelle zum Weiterklicken: Ria Novosti: 20 let Gossudarstvennoj dumy
3.Stykow, P. (2008): Die Transformation des russischen Parteiensystems: Regimestabilisierung durch personalisierte Institutionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 772-794
4.Remington, T. F. (2007): The Russian Federal Assembly, 1994–2004, in: The Journal of Legislative Studies, 13(1), S. 121-141 und: Troxel, T. A. (2003): Parliamentary Power in Russia, 1994-2001
5.Stykow, P. (2015): Parlamente und Legislativen unter den Bedingungen „patronaler Politik“: Die eurasischen Fälle im Vergleich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 396 - 425
6.University of Oxford: The Coalitional Presidentialism Project
7.Gryzlov wurde von den Medien nicht korrekt zitiert, allerdings ist die plakative Phrase fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses über die Duma geworden. Hier das Originalzitat von Gryzlov
8.Whitmore, S. (2010): Parliamentary oversight in Putin's neo-patrimonial state: Watchdogs or show-dogs?, in: Europe-Asia Studies, 62(6), S. 999-1025
9.ben.noble.com: Rethinking 'rubber stamps': Legislative Subservience, Executive factionalism, and policy-making in the Russian state duma
10.Inzwischen existiert eine Liste mit Gesetzen, die aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit nach Meinung eines Expertenkomitees rückgängig zu machen sind.
11.Vedomosti: Čto lučše: kogda sažajut ili kogda razdevajut?

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